Eine Falle für Null

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Dann nimm sie mit. Der Gedanke sprang ihm so einfach in den Kopf, dass er sich fast dafür auslachte, nicht zuvor daran gedacht zu haben. Doch er schloss ihn genauso schnell wieder aus. Was wäre mit seinem Job? Was wäre mit Saras Therapie? Hatte er nicht gerade versucht, Maya zu überreden, wieder zur Schule zu gehen?

Denk nicht zu viel darüber nach, sagte er sich selbst. War die einfachste Lösung für gewöhnlich nicht die beste? Nichts hatte bisher gefruchtet, um Sara aus ihrem Trauma zu locken und Maya schien fest entschlossen zu sein, wie gewöhnlich ihren Dickkopf durchzusetzen.

Reid drückte Reidiggers Ausfalltasche zurück in den Schrank und stellte sich auf die Beine. Bevor er sich selbst davon überzeugen könnte, seine Meinung zu ändern, schritt er den Flur entlang zu Mayas Zimmer und klopfte schnell an ihre Tür.

Sie öffnete sie und verschränkte ihre Arme, war offensichtlich immer noch verärgert über ihn. “Was?”

“Lass uns verreisen.”

Sie blinzelte ihn an. “Was?”

“Lass uns verreisen, uns drei”, wiederholte er und drängte sich an ihr vorbei in ihr Schlafzimmer. “Schau mal, es war falsch von mir, den Vorfall zu erwähnen. Ich kann das jetzt verstehen. Sara muss nicht daran erinnert werden, ganz im Gegenteil.” Er sprach schnell, gestikulierte mit den Händen, doch fuhr fort: “Den ganzen letzten Monat über hat sie nur rumgelegen und darüber nachgedacht, was geschehen ist. Vielleicht braucht sie eine Ablenkung. Vielleicht muss sie nur ein paar schöne Erlebnisse haben, um sich daran zu erinnern, wie gut das Leben sein kann.”

Maya legte die Stirn in Falten, als ob es ihr schwerfiele, seiner Logik zu folgen. “Also willst du auf Reisen gehen. Wohin?”

“Lasst uns Skifahren”, antwortete er. “Erinnerst du dich daran, als wir nach Vermont fuhren, vor vier oder fünf Jahren? Weiß du noch, wie sehr Sara den Hasenhügel liebte?”

“Ich erinnere mich”, entgegnete Maya, “aber Papa, es ist April. Die Skisaison ist vorbei.”

“Nicht in den Alpen!”

Sie starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. “Du willst in die Alpen reisen?”

“Ja. In die Schweiz, um es genau zu nehmen. Und ich weiß, dass du das für verrückt hältst, aber ich denke ganz klar darüber. Wir tun uns keinen Gefallen damit, hier herumzuhängen. Wir brauchen einen Tapetenwechsel – besonders Sara.”

“Aber… was ist mit deiner Arbeit?”

Reid zuckte mit den Schulter. “Ich mache blau.”

“Das sagt man nicht mehr so.”

“Ich kümmere mich darum, was ich der Uni erzähle”, sagte er. Und der Agentur. “Die Familie kommt zuerst dran.” Reid war sich fast sicher, dass die CIA ihn nicht dafür feuern würde, weil er etwas freie Zeit mit seinen Mädchen bräuchte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn nicht kündigen ließen, selbst wenn er es wollte. “Saras Gips wird morgen abgenommen. Wir können diese Woche fahren. Was sagst du?”

Maya spitzte ihren Mund. Er kannte diesen Ausdruck, sie gab ihr bestes, um ein Grinsen zurückzuhalten. Sie war immer noch nicht gerade glücklich darüber, wie er ihre Nachrichten zuvor aufgenommen hatte. Doch sie nickte. “OK, es macht Sinn. Ja, lass uns verreisen.”

“Super.” Reid ergriff sie an den Schultern und küsste ihre Stirn, bevor sich seine Tochter ihm entwinden konnte. Als er ihr Schlafzimmer verließ, blickte er zurück und ertappte sie definitiv beim Lächeln.

Er schlich in Saras Zimmer und sah, wie sie auf dem Rücken lag und die Decke anstarrte. Sie sah ihn nicht an, als er hereinkam und neben ihrem Bett kniete.

“Hey”, flüsterte er fast. “Es tut mir leid, was vorhin beim Essen geschehen ist. Doch ich habe eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir ein wenig verreisen? Nur du und ich und Maya, und wir fahren an einen schönen Ort, weit weg. Würde dir das gefallen?”

Sara drehte ihren Kopf zu ihm, gerade genug, damit ihr Blick den seinen traf. Dann nickte sie leicht.

“Ja? Gut. Dann machen wir das.” Er reichte herüber und nahm ihre Hand in seine. Er war sich fast sicher, dass ihre Finger ein wenig zudrückten.

Das wird funktionieren, sagte er sich. Das erste Mal in einer langen Weile fühlte sich etwas gut für ihn an.

Und die Mädchen mussten nichts von seinem tieferen Beweggrund wissen.

Kapitel fünf

Maria Johansson lief durch die Haupthalle des Atatürk Flughafens in Istanbul in der Türkei und öffnete die Tür zur Damentoilette. Sie hatte die letzten paar Tage damit verbracht, die Spur der drei israelischen Journalisten zu verfolgen, die vermisst wurden. Es gescha, nachdem sie über Imam Khalils Sekte von Fanatikern berichtet hatten, die fast einen tödlichen Pockenvirus in den Industrienationen verbreitet hätten. Man vermutete, dass das Verschwinden der Journalisten möglicherweise etwas mit Khalils überlebenden Anhängern zu tun hatte, doch die Spur verlor sich im Irak, kurz vor ihrem Ziel in Bagdad.

Sie zweifelte stark daran, dass man sie jemals fände, zumindest nicht, bis wer auch immer für ihr Verschwinden verantwortlich war, sich bekannt gab. Ihr Befehl war es derzeitig, eine angebliche Quelle zu verfolgen, die die Journalisten hier in Istanbul hatten und anschließend zu dem regionalen Hauptquartier der CIA in Zürich zurückzukehren, wo es eine Nachbesprechung gäbe und man sie möglicherweise zu einem anderen Einsatz schickte, falls dieser nichts Weiteres ergab.

Doch in der Zwischenzeit hatte sie ein anderes Treffen.

In einer der Toilettenkabinen öffnete Maria ihre Handtasche und entnahm ihr eine wasserdichte Tüte aus dickem Plastik.

Bevor sie ihr Telefon, das ihr von der CIA ausgestellt wurde, darin versiegelte, rief sie die Mailbox ihrer privaten Linie an.

Es gab keine neuen Nachrichten. Es schien, als hätte Kent es aufgegeben, zu versuchen, sie zu erreichen. Er hatte ihr mehrere Nachrichten in den letzten Wochen hinterlassen, alle paar Tage eine weitere. In den kurzen, einseitigen Abschnitten hatte er ihr von den Mädchen berichtet, dass Sara immer noch mit dem Trauma der Ereignisse, die sie mitmachen musste, beschäftigt war. Er hatte seine Arbeit für die nationale Ressourcen Division erwähnt und wie langweilig sie war, im Vergleich zu den Einsätzen. Er hatte ihr gesagt, dass er sie vermisste.

Es war eine kleine Erleichterung, dass er es aufgegeben hatte. Jetzt musste sie mindestens nicht mehr der Klang seiner Stimme hören und sich dessen bewusst werden, wie sehr auch sie ihn vermisste.

Maria versiegelte das Telefon in der Plastiktüte und ließ es vorsichtig in den Spülkasten hinunter, bevor sie wieder den Deckel darauflegte. Sie wollte keine neugierigen Ohren riskieren, die ihrer Unterhaltung zuhören könnten.

Dann verließ sie die Toilette und ging den Terminal entlang zu einem Gate, an dem etwa zwei Dutzend Menschen warteten. Das Flugbrett kündigte an, dass das Flugzeug nach Kiew in eineinhalb Stunden abhöbe.

Sie saß in einem festgeschraubten Plastiksitz in einer Reihe von sechs. Der Mann war schon hinter ihr, er saß in der gegenüberliegenden Reihe und blickte in die andere Richtung. Er hielt ein Automagazin geöffnet vor sein Gesicht.

“Studentenblume”, sagte er mit einer rauen, doch leisen Stimme. “Berichte.”

“Es gibt nichts zu berichten”, antwortete sie auf ukrainisch. “Agent Null ist wieder zu Hause mit seiner Familie. Seitdem meidet er mich.”

“Oh?” fragte der Ukrainer neugierig. “Ist das so? Oder vermeidest du ihn?”

Maria blickte finster drein, doch drehte sich nicht, um den Mann anzusehen. Er behauptete so etwas nur, wenn er wüsste, dass es wahr wäre. “Überwacht ihr mein privates Handy?”

“Natürlich”, sagte der Ukrainer offen. “Es scheint, als ob Agent Null sehr dringend mit dir reden möchte. Warum hast du ihn nicht kontaktiert?”

Es ging den Ukrainer zwar nichts an, doch Maria war Kent aus dem einfachen Grund aus dem Weg gegangen, weil sie ihn erneut angelogen hatte – nicht nur einmal, sondern zweimal. Sie hatte ihm gesagt, dass die Ukrainer, mit denen sie arbeitete, Mitglieder des auswärtigen Geheimdienstes waren. Einige der Splittergruppe waren es vielleicht einst gewesen, doch sie waren dem FIS etwa so loyal gegenüber, wie sie es der CIA war.

Die zweite Lüge bestand darin, ihm zu sagen, dass sie nicht mehr mit ihnen arbeiten würde. Kent hatte sein Misstrauen den Ukrainern gegenüber klar ausgesprochen, als sie auf dem Weg waren, seine Töchter zu retten, und Maria hatte halbherzig versprochen, dass sie der Beziehung ein Ende setzen würde.

Doch das hatte sie nicht getan. Noch nicht. Es war auch ein Teil des Grundes für das Treffen in Istanbul. Es war noch nicht zu spät, ihr Wort einzuhalten.

“Wir sind fertig”, erklärte sie kurz. “Ich arbeite nicht mehr mit euch. Ihr wisst, was ich weiß und ich weiß, was ihr wisst. Wir können Informationen austauschen, um einen Fall aufzubauen, doch ich werde nicht mehr eure Botengänge für euch übernehmen. Und ich lasse Null da raus.”

Der Ukrainer war einen langen Moment still. Er schlug lässig eine Seite seines Automagazins um, so als läse er es tatsächlich. “Bist du dir sicher?” fragte er. “Neue Information ist vor kurzem ans Licht gekommen.”

Marias Augenbraue erhob sich instinktiv, doch sie war sich sicher, dass das nur eine Finte war, um sie weiter zu beschäftigen. “Was für neue Information?”

“Information, die dich interessiert”, antwortete der Mann geheimnisvoll. Maria konnte sein Gesicht nicht sehen, doch aufgrund seines Tonfalls hatte sie den Eindruck, dass er grinste.

“Du bluffst”, gab sie unverblümt zurück.

“Das tue ich nicht” versicherte er ihr. “Wir kennen seine Position. Und wir wissen, was geschehen könnte, wenn er seine Haltung beibehält.”

Marias Puls beschleunigte sich. Sie wollte ihm nicht glauben, doch sie hatte kaum die Wahl. Ihre Verwicklung in der Aufdeckung der Verschwörung, ihre Entscheidung, mit ihnen zu arbeiten und zu versuchen, an Information der CIA zu gelangen, bedeutete mehr als nur das Richtige zu tun. Natürlich wollte sie einen Krieg vermeiden, die Täter davon abhalten, ihre fälschlich errungenen Gewinne zu erhalten, unschuldige Menschen davor beschützen, verletzt zu werden. Doch viel mehr noch hatte sie ein persönliches Interesse an dem Komplott.

 

Ihr Vater war ein Mitglied des nationalen Sicherheitsrats, ein hoher Beamter, was internationale Angelegenheiten anbelangte. Auch wenn es sie beschämte, nur daran zu denken, war es dennoch ihre höchste Priorität, viel höher noch als Leben zu retten oder die Vereinigten Staaten davon abzuhalten, einen Krieg zu beginnen, herauszufinden, ob er daran beteiligt war, ob er ein Mitverschwörer war – und sollte er es nicht sein, ihn in Sicherheit vor jenen zu bringen, die alles täten, um ihren Willen durchzusetzen.

Maria konnte ihn nicht einfach anrufen und fragen. Ihre Beziehung war etwas angespannt, beschränkte sich hauptsächlich auf professionellen Smalltalk über Gesetzgebung und das gelegentliche Gespräch über ihre Privatleben. Wäre er sich der Verschwörung bewusst, dann hätte er außerdem auch keinen Grund, es offen vor ihr zuzugeben. Sollte dem nicht so sein, dann wollte er sicher handeln. Er war ein entschiedener Mann, der an Justiz und das Rechtssystem glaubte. Maria war eher etwas zynisch veranlagt und deshalb auch vorsichtig.

“Was meinst du mit,was geschehen könnte’?” wollte sie wissen. Die rätselhafte Erklärung des Ukrainers schien darauf hinzuweisen, dass ihr Vater nicht eingeweiht war, während sie gleichzeitig auch ein gewisses Gewicht einer Drohung in sich trug.

“Wir wissen es nicht”, antwortete er kurz.

“Wie habt ihr es rausgefunden?”

“E-Mails”, gab der Ukrainer zurück, “die von einem privaten Server stammen. Seine Name war erwähnt, zusammen mit zwei anderen, die… sich vielleicht nicht fügen.”

“Sowas wie eine Abschussliste?” fragte sie geradeheraus.

“Unklar.”

Frust breitete sich in ihrer Brust aus. “Ich will diese E-Mails lesen. Ich will es mit eigenen Augen sehen.”

“Das kannst du ja”, versicherte ihr der Ukrainer. “Doch nur, wenn du nicht darauf bestehst, mit uns zu brechen. Wir brauchen dich, Ringelblume. Du brauchst uns. Und wir alle brauchen Agent Null.”

Sie seufzte. “Nein. Haltet ihn da raus. Er ist zu Hause mit seiner Familie. Er muss sich jetzt darauf konzentrieren. Er ist ja nicht mal mehr ein Agent —”

“Doch er arbeitet immer noch für die CIA.”

“Er hat keine Loyalität zu ihnen —”

“Doch dir gegenüber schon.”

Maria schnaubte. “Er erinnert sich nicht mal ausreichend, um das Wenige, das er weiß, zu verstehen.”

“Die Erinnerungen sind immer noch da, in seinem Kopf. Letztendlich wird er sich erinnern, und wenn es soweit ist, dann musst du da sein. Verstehst du nicht? Wenn er sich an die Information erinnert, dann hat er keine Wahl, dann muss er handeln. Er braucht dich dann, um ihn zu beraten, und er wird deine Ressourcen brauchen, wenn er etwas Sinnvolles dagegen tun möchte.” Der Ukrainer hielt inne, bevor er hinzufügte: “Die Information in Agent Nulls Kopf könnte uns die fehlenden Stücke zur Verfügung stellen oder zumindest zu Beweisen führen. Einen Weg, dies aufzuhalten. Darum geht es doch, oder nicht?”

“Ja natürlich”, murmelte Maria. Es war zwar nicht der einzige Grund dafür, dass sie sich dazu entschlossen hatte, mit den Ukrainern zu arbeiten, doch es war entscheidend, den Krieg und das unnötige Gemetzel aufzuhalten, bevor es begann, und die falschen Leute davon abzuhalten, an die Art von Macht zu gelangen, die historisch zu viel größeren Konflikten geführt hatte. Dennoch schüttelte sie ihren Kopf. “Ohne Rücksicht auf das, was ich will, wollt ihr ihn nur ausnutzen.”

“Es wäre natürlich nützlich, wenn der Top Agent der CIA sich gegen seine Regierung wendet”, gab der Mann zu. “Doch das ist nicht unser Ziel.” Er wagte es, sich leicht in ihre Richtung zu wenden, gerade genug, um zu murmeln: “Wir sind hier nicht dein Feind.”

Sie wollte das glauben. Doch weiter mit ihnen zusammenzuarbeiten, obwohl sie Kent versprochen hatte, dass sie diese Verbindung aufgäbe, fühlte sich so an, als wäre sie, wie er ihr einst vorgeworfen hatte, eine Doppelagentin – doch gegen ihn, nicht gegen die CIA.

“Ich kümmere mich um Null”, sagte sie, “aber ich will diese E-Mails und alle anderen Informationen, die ihr über meinen Vater habt.”

“Die bekommst du auch, sobald du etwas Neues und Nützliches für uns hast.” Der Mann blickte auffällig auf seine Uhr. “Übrigens, ich höre, dass du bald zurück in das regionale CIA Hauptquartier kehrst? Das ist in Zürich, oder? Du solltest dich mal umhören, wo sich Agent Null gerade aufhält. Wenn mich nicht alles täuscht, wird er ganz in der Nähe sein.”

“Er ist in Europa?” Maria war so überrascht, dass sie sich halb auf ihrem Stuhl herumdrehte. “Überwacht ihr ihn?”

Er zuckte mit den Schultern. “Seine letzte Kreditkartenaktivität zeigte drei Flugtickets in die Schweiz.”

Drei? dachte Maria. Das war kein Einsatz, das war eine Reise. Höchstwahrscheinlich Kent und seine zwei Mädchen. Aber warum in die Schweiz? fragte sie sich. Plötzlich überkam sie eine Idee… Würde er das wirklich versuchen? Ist er soweit?

Der Ukrainer stand auf, knöpfte sich sein Sakko zu und steckte sich sein Magazin unter einen Arm. “Suche ihn auf. Bring uns etwas Nützliches. Die Zeit geht aus. Wenn du es nicht tust, dann werden wir das übernehmen.”

“Wagt es nicht, jemanden in seine Nähe oder die seiner Mädchen zu schicken”, warnte Maria.

Er grinste. “Dann zwing uns nicht dazu. Auf Wiedersehen, Studentenblume.” Er nickte einmal und schritt hinweg durch den Terminal.

Maria sank in den Stuhl und seufzte abgeschlagen. Sie wusste nur zu gut, dass eine einzige erneute Erinnerung Kents obsessive Natur hervorrufen könnte, und dann befände er sich wieder in dem Alptraum von Verschwörung und Täuschung und wollte Antworten erhalten. Sie hatte es hautnah miterlebt, wie Kent durch die Hölle ging, um seine Familie zurückzubekommen… doch sie wusste auch, dass das Wissen, das er einst hatte, sie erneut auseinanderreißen würde.

Dort, am Terminal des Atatürk Flughafens von Istanbul, fasste sie einen Beschluss: sie war persönlich dafür verantwortlich, ihn hier mit hineingezogen zu haben, deshalb hing es auch an ihr, sicherzustellen, für ihn da zu sein, falls oder wenn er sich erinnerte. Und ihn davon abzuhalten, falls sie das tun musste.

Kapitel sechs

“Maya, schau.” Sara stach ihre ältere Schwester in den Arm und zeigte aus dem Fenster, als das Flugzeug durch eine Wolke auf dem Anflug zum Flughafen Zürich flog. Der Himmel öffnete sich und die weiß bedeckten Kämme der Schweizer Alpen wurden in der Entfernung sichtbar.

“Ganz schön cool, oder?” sagte Maya mit einem Lächeln. Reid, der auf Gangplatz saß, konnte kaum seinen Augen trauen – ein kleines Lächeln leuchtete auch in Saras Gesicht auf.

In den drei Tagen, seitdem er die Reise vorgeschlagen hatte, stimmte Sara zwar zu, aber schien sich kaum zu freuen. Sie hatte die meiste Zeit des achtstündigen Flugs geschlafen und in den Momenten, in denen sie wach war, fast nicht gesprochen. Doch als sie den Landeflug begannen und Sara die zackigen Kuppen der Alpen und die ausgedehnte Stadt Zürich unter ihnen sehen konnte, schien ein wenig Leben in sie zurückzukehren. Sie trug ein Lächeln auf dem Gesicht und ihre Wangen hatten das erste Mal seit geraumer Zeit etwas Farbe. Reid hätte nicht glücklicher sein können.

Nachdem sie ausgestiegen und durch den Zoll gegangen waren, warteten sie neben dem Gepäckband auf ihre Koffer. Reid fühlte, wie Saras Hand seine nahm. Er war überrascht, doch versuchte, es nicht zu zeigen.

Können wir heute Skifahren?” fragte sie.

“Ja, natürlich”, sagte er ihr. “Wir können tun, was immer du willst, Liebling.”

Sie nickte ernst, als ob der Gedanke schwer auf ihr gelastet hätte. Ihre Finger drückten seine, als ihr Gepäck langsam auf sie zufuhr.

Von Zürich aus nahmen sie einen Zug Richtung Süden. Es dauerte weniger als zwei Stunden, um die Alpenstadt Engelberg zu erreichen.

Es gab nicht weniger als sechsundzwanzig Hotels und Skihütten auf dem nahegelegenen Berg Titlis, dem größten Gipfel der Urner Alpen, der mehr als neunhundert Meter über dem Meeresspiegel lag.

Natürlich teilte Reid all dies seinen Mädchen mit.

“…Und außerdem auch die Heimat der ersten Luftseilbahn der Welt”, erklärte er ihnen, als sie vom Bahnhof zu ihrer Skihütte liefen. “Oh, und das Kloster Engelberg stammt aus dem zwölften Jahrhundert. Es ist eines der ältesten schweizer Kloster, die noch existieren…”

“Wow”, unterbrach ihn Maya. “Ist es das?”

Reid hatte eine der rustikaleren Hütten für ihre Unterkunft gewählt. Sie war sicherlich ein bisschen veraltet, doch charmant und gemütlich, nicht so wie einige der größeren Hotels im amerikanischen Stil, die während der letzten Jahre gebaut wurden. Sie checkten ein und gingen in ihr Zimmer, das zwei Betten, einen Kamin mit zwei Sesseln davor und eine atemberaubende Sicht auf die Südseite des Titlis hatte.

“Hey, ähm, es gibt da noch was, das ich sagen möchte, bevor wir rausgehen”, sagte Reid, während sie auspackten und sich für die Skipisten bereitmachten. “Ich möchte nicht, dass ihr Zwei einfach alleine loszieht.”

“Papa…” Maya rollte mit den Augen.

“Es geht nicht darum”, fügte er schnell hinzu. “Diese Reise machen wir, damit wir Zeit zusammen verbringen und ein bisschen Spaß haben, und das bedeutet, dass wir zusammenbleiben. OK?”

Sara nickte.

“Ja, in Ordnung”, stimmte Maya zu.

“Gut. Dann ziehen wir uns um.” Es war keine Lüge, nicht wirklich. Er wollte, dass sie sich zusammen amüsierten, und er wollte nicht, dass sie alleine herumwanderten. Dabei ging es um Sicherheitsgründe, die nichts mit dem Vorfall zu tun hatten. Zumindest sagte er sich das selbst.

Er hatte immer noch keine Ahnung, wie er seine andere Aufgabe bewältigen würde, der versteckte Grund, aus dem sie in die Schweiz geflogen waren und in der Nähe von Zürich blieben. Doch er hatte Zeit, um den Teil zu organisieren.

Dreißig Minuten später waren die drei auf einem Skilift und fuhren eine der dutzenden von Pisten hoch, die Titlis durchkreuzten. Reid hatte eine Anfängerpiste gewählt, um zu beginnen. Keiner von ihnen war seit Jahren Ski gefahren, seit der Familienreise nach Vermont.

Schuldgefühle stachen in Reids Brust, wenn er an diesen Urlaub dachte. Kate war damals noch am Leben. Die Reise hatte sich perfekt angefühlt, als ob nichts Schlimmes jemals zwischen ihnen geschehen könnte. Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen, den Urlaub erneut genießen, vielleicht sogar sein Ich der Vergangenheit davor warnen, was ihm bevorstünde – oder das Ergebnis verändern, damit es niemals geschehen wäre.

Er schüttelte den Gedanken aus seinem Kopf. Es hatte keinen Sinn, sich weiter damit zu beschäftigen. Es war geschehen und jetzt musste er für seine Töchter da sein und sicherstellen, dass die Vergangenheit sich nicht wiederholte.

An der Spitze der einfachen Piste gab ihnen ein bärtiger Skilehrer ein paar Auffrischungstipps darüber, wie man langsamer fuhr, wie man stoppte und wie man lenkte. Die Mädchen nahmen sich Zeit, standen unsicher in ihren Skistiefeln, die an den Fersen eingeklickt waren.

Doch sobald Reid sich mit den Stöcken abschob und begann, über das Pulver zu rutschen, reagierte sein Körper, als hätte er es tausende Male getan. Die einzige Erinnerung, die er über das Skifahren hatte, war die Familienreise vor fünf Jahren, doch die Art, wie er einfach wusste, wie er sich zu bewegen hatte, ohne darüber nachzudenken, wie seine Beine und sein Körper sich subtil anpassten, um nach links und rechts zu schwingen, sagte ihm, dass er dies viel öfter als nur einmal getan hatte. Nachdem er die erste Piste bewältigt hatte, war er sich ziemlich sicher, dass er eine schwarze Diamant Piste problemlos bezwingen könnte.

Dennoch gab er sich Mühe, das zu verstecken und passte sich dem Rhythmus der Mädchen an. Sie schienen sich prächtig zu amüsieren, Maya lachte bei jedem Wackeln und Beinahe-Sturz und Sara hörte gar nicht mehr auf zu Lächeln.

Bei ihrer dritten Fahrt die Anfängerpiste hinunter, fuhr Reid zwischen die beiden. Dann beugte er ein wenig seine Beine, lehnte sich nach vorn und steckte die Stöcke unter seine Arme. “Der Letzte hat verloren!” rief er, während er begann, schneller zu fahren.

“Ich krieg dich, alter Mann!” lachte Maya hinter ihm.

“Alter Mann? Wart’s ab… wer zuletzt lacht, lacht am besten…” Reid blickte gerade rechtzeitig über seine Schulter, um zu sehen, wie Saras linker Ski auf einen kleinen Absatz mit festgefahrenem Schnee stieß. Er schlüpfte unter ihr heraus und beide Arme schlugen um sich, als sie mit dem Gesicht zuerst in den Hang fiel.

 

“Sara!” Reid stoppte. Er löste die Stiefel augenblicklich aus der Halterung und rannte durch den Pulverschnee zu ihr. “Sara, alles in Ordnung?” Sie war gerade den Gips losgeworden, das Letzte, was sie bräuchte, wäre eine weitere Verletzung, um ihren Urlaub zu ruinieren.

Er kniete nieder und drehte sie um. Ihr Gesicht war rot und es standen ihr Tränen in den Augen – doch sie lachte.

“Alles in Ordnung?” fragte er noch einmal.

“Ja”, antwortete sie zwischen Kichern. “Mir geht’s gut.”

Er half ihr auf die Beine und sie wischte sich die Tränen von den Augen. Er war mehr als nur erleichtert, dass es ihr gutging – das Geräusch ihres Lachens klang wie Musik in seiner Seele.

“Bist du dir sicher, dass alles OK ist?” fragte er ein drittes Mal.

“Ja, Papa.” Sie seufzte glücklich und stellte sich auf die Ski. “Ich verspreche dir, mir geht’s gut. Nichts gebrochen. Übrigens…” Sie drückte sich mit beiden Stöcken ab und sauste den Abhang hinunter. “Wir machen immer noch ein Rennen, oder?”

In der Nähe lachte auch Maya und fuhr hinter ihrer Schwester her.

“Nicht fair!” rief Reid hinter ihnen, als er zurück zu seinen Skiern eilte.

Nachdem sie drei Stunden lang die Abhänge hinuntergefahren waren, kehrten sie zur Skihütte zurück und setzten sich auf ein Sofa des großen Gemeinschaftsraums, in dem ein Kamin brannte, der groß genug war, um ein Motorrad darin zu parken. Reid bestellte drei Becher heißer, schweizer Schokolade und sie nippten zufrieden vor dem Kaminfeuer an ihr.

“Morgen will ich eine blaue Piste ausprobieren”, kündigte Sara an.

“Bist du dir sicher, Mäuschen? Du hast gerade erst den Gips vom Arm”, neckte sie Maya.

“Vielleicht können wir uns am Nachmittag die Stadt anschauen”, bot Reid an. “Einen Ort fürs Abendessen finden?”

“Das klingt gut”, stimmte Sara zu.

“Das sagst du jetzt”, warnte Maya, “doch du weißt schon, dass er uns in das Kloster schleppen wird.”

“Hey, es ist wichtig, sich über die Geschichte eines Ortes zu informieren”, erklärte Reid. “Das Kloster war der Beginn dieser Stadt. Naja, bis in die 1850er, als es ein Urlaubsort für Touristen wurde, die wegen der sogenannten,Frischluftheilung’ hierher kamen. Seht ihr, damals…”

Maya lehnte sich auf dem Sofa zurück und gab vor, laut zu schnarchen.

“Ha-ha”, spottete Reid. “In Ordnung, ich höre schon auf mit der Vorlesung. Wer möchte noch eine Portion? Ich komme gleich wieder.” Er nahm die drei Becher und ging damit auf die Theke zu.

Während er wartete, konnte er nicht anders, als sich selbst in Gedanken auf die Schulter zu klopfen. Das erste Mal seit einer langen Zeit, vielleicht sogar seitdem der Gedächtnishemmer eingesetzt wurde, fühlte er, dass er seine Töchter richtig behandelt hatte. Sie hatten alle Spaß, die Ereignisse des letzten Monats schienen eine weit entfernte Erinnerung zu werden. Er hoffte, dass dies nicht nur vorübergehend war, und dass das Erschaffen neuer, glücklicher Erinnerungen, die Angst und Qual dessen, was geschehen war, ersetzte.

Natürlich war er nicht so naiv zu glauben, dass die Mädchen einfach den Vorfall vergäßen. Es war wichtig, nicht zu vergessen. Genau wie in der Geschichte, wollte er nicht, dass sich so etwas noch einmal wiederholen könnte. Doch wenn es Sara aus ihrer Melancholie riss und Maya wieder in Richtung Schule und Zukunft brächte, dann hätte er das Gefühl, dass er seine Arbeit als Elternteil erfüllte.

Er kam zurück zum Sofa und sah, wie Maya auf ihrem Handy tippte und Saras Platz leer war.

“Ist auf die Toilette gegangen”, erklärte Maya, bevor er noch fragen konnte.

“Ich hätte nicht gefragt”, gab er so unbekümmert wie er konnte zurück, und stellte die drei Becher auf den Tisch.

“Ja klar”, stichelte Maya.

Reid richtete sich auf und schaute sich trotzdem um. Natürlich hätte er gefragt. Wenn es nach ihm ginge, dann verließe keines der Mädchen sein Blickfeld. Her blickte um sich, an den anderen Touristen und Skifahrern vorbei, die Anwohner, die ein heißes Getränk genossen, die Angestellten, die Gäste bedienten…

Ein Knoten voll Panik zog sich in seinem Magen zusammen, als er Saras blonden Hinterkopf auf der anderen Seite des Gemeinschaftsraumes erblickte. Hinter ihr war ein Mann mit einem schwarzen Parka, der ihr folgte – oder sie vielleicht wegführte.

Er schritt schnell hinüber, die Hände ballten sich zu Fäusten an seinen Seiten. Sein erster Gedanke galt sofort den slowakischen Menschenhändlern. Die haben uns gefunden. Seine angespannten Muskeln waren bereit zu kämpfen, bereit, diesen Mann vor allen anderen auseinanderzunehmen. Die haben uns irgendwie gefunden, mitten in den Bergen.

“Sara”, sagte er scharf.

Sie hielt an und drehte sich um, ihre Augen geweitet aufgrund seines befehlenden Tonfalls.

“Alles in Ordnung?” Sein Blick wanderte von ihr zu dem Mann, der ihr folgte. Er hatte dunkle Augen, war unrasiert, eine Skibrille balancierte auf seiner Stirn. Er sah nicht slowakisch aus, doch Reid ginge keine Risiken ein.

“Alles OK, Papa. Dieser Mann hat mich gefragt, wo die Toiletten sind”, erklärte ihm Sara.

Der Mann hielt beide Hände abwehrend hoch, die Handinnenflächen nach vorn. “Es tut mir sehr leid”, sagte er, sein Akzent klang deutsch. “Ich meinte nichts Böses —”

“Hätten Sie keinen Erwachsenen fragen können?” erwiderte Reid nachdrücklich, starrte den Mann dabei an.

“Ich habe die erste Person gefragt, die ich sah”, verteidigte sich der Mann.

“Und das war ein vierzehnjähriges Mädchen?” Reid schüttelte seinen Kopf. “Mit wem sind sie hier?”

“Mit wem?” fragte der Mann fassungslos. “Ich… ich bin mit meiner Familie hier.”

“Ach ja? Wer sind sie? Zeigen Sie auf sie”, verlangte Reid.

“Ich-ich will keine Probleme.”

“Papa.” Reid fühlte, wie ein Arm an seinem zog. “Das reicht jetzt, Papa.” Maya zog erneut an ihm. “Das ist nur ein Tourist.”

Reids Augen verengten sich zu Schlitzen. “Sie halten sich besser von meinen Mädchen fern”, warnte er, “oder sonst wird es Probleme geben.” Er drehte sich von dem verängstigten Mann weg, während Sara verwirrt zum Sofa zurückging.

Doch Maya stellte sich ihm, mit ihren Händen auf ihre Hüften gestützt, in den Weg. “Was zum Teufel war das?”

Er legte die Stirn in Falten. “Maya, gib Acht, wie du sprichst —”

“Nein, gib du besser Acht, wie du sprichst”, schoss sie zurück. “Papa, du hast gerade deutsch geredet.”

Reid blinzelte vor Überraschung. “Habe ich?” Er hatte es nicht mal bemerkt, doch der Mann in dem schwarzen Parka hatte sich auf Deutsch entschuldigt – und Reid fuhr einfach in derselben Sprache fort, ohne darüber nachzudenken.

“Du verängstigst Sara einfach nur wieder mit solchen Sachen”, beschuldigte ihn Maya.

Seine Schultern fielen nach vorn. “Du hast recht. Es tut mir leid. Ich dachte nur…” Du dachtest, die slowakischen Menschenhändler wären dir und deinen Mädchen in die Schweiz gefolgt. Plötzlich bemerkte er, wir lächerlich das klang.

Es war offensichtlich, dass Maya und Sara nicht die einzigen waren, die sich von der geteilten Erfahrung erholen mussten. Vielleicht sollte ich ein paar Sitzungen mit Dr. Branson buchen, dachte er, als er sich wieder zu seinen Töchtern setzte.

“Es tut mir leid, was da passiert ist”, erklärte er Sara. “Ich glaube, ich bin einfach ein bisschen zu beschützerisch im Moment.”

Sie antwortete nicht, doch starrte auf den Boden mit dem weit entfernten Blick in ihren Augen. Beide Hände hielten den Kakaobecher, der kalt wurde.

Er wurde sich darüber klar, dass seine Reaktion und wie er wütend den Mann auf deutsch angebrüllt hatte, sie an den Vorfall erinnerten und wie wenig sie über ihren eigenen Vater wusste.

Großartig, dachte er bitter. Nicht mal ein Tag und ich habe schon alles kaputt gemacht. Wie kann ich das nur wieder gutmachen? Er setzte sich zwischen die Mädchen und versuchte verzweifelt, an etwas etwas zu denken, was er sagen oder tun könnte, um die fröhliche Atmosphäre, die nur ein paar Augenblicke zuvor geherrscht hatte, wieder herzustellen.