Jack London – Gesammelte Werke

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

»Also Sie sind Maud Brewster«, sag­te ich fei­er­lich und blick­te sie an.

»Und Sie sind Hum­phrey van Wey­den«, sag­te sie und er­wi­der­te mei­nen Blick eben­so fei­er­lich und furcht­sam. »Wie selt­sam! Es ist mir al­les ganz un­ver­ständ­lich. Wir ha­ben si­cher­lich eine wildro­man­ti­sche See­ge­schich­te von Ih­nen zu er­war­ten.«

»Nein, ich samm­le kei­nen Stoff, das ver­si­che­re ich Ih­nen«, lau­te­te mei­ne Ant­wort. »Ich habe we­der Ge­schick, noch Nei­gung für fan­tas­ti­sche Li­te­ra­tur.«

»Sa­gen Sie mir: warum ha­ben Sie sich im­mer in Ka­li­for­ni­en be­gra­ben?« frag­te sie nun. »Das war wirk­lich nicht nett von Ih­nen. Wir im Os­ten ha­ben so we­nig von Ih­nen zu se­hen be­kom­men – viel zu we­nig – von dem großen ame­ri­ka­ni­schen Kri­ti­ker.«

Ich lehn­te das Kom­pli­ment mit ei­ner Ver­beu­gung ab. »Ich hät­te Sie fast ein­mal in Phil­adel­phia ge­trof­fen, Sie woll­ten Brow­ning oder et­was Ähn­li­ches vor­tra­gen. Aber mein Zug hat­te vier Stun­den Ver­spä­tung.«

Und dann ver­ga­ßen wir ganz, wo wir wa­ren, und lie­ßen Wolf Lar­sen stumm und wie ein ge­schei­ter­tes Schiff in­mit­ten der Bran­dung un­se­rer Un­ter­hal­tung. Die Jä­ger stan­den auf und gin­gen an Deck, und wir spra­chen im­mer noch. Nur Wolf Lar­sen blieb. Plötz­lich wur­de ich sei­ner An­we­sen­heit inne, er saß zu­rück­ge­lehnt am Tisch und lausch­te neu­gie­rig un­sern fremd­ar­ti­gen Re­den über eine Welt, die er nicht kann­te.

Ich brach mit­ten im Sat­ze ab. Die Ge­gen­wart mit all ih­ren Ge­fah­ren und Schre­cken lähm­te mich. Fräu­lein Brewster muss­te es ähn­lich ge­hen, ein un­be­stimm­tes na­men­lo­ses Ent­set­zen trat in ihre Au­gen, die jetzt auf Wolf Lar­sen fie­len.

Er er­hob sich und lach­te ver­le­gen mit ei­nem selt­sa­men, me­tal­li­schen Klang.

»Oh, küm­mern Sie sich nicht um mich«, sag­te er mit ei­ner Hand­be­we­gung, als wol­le er sei­ne ei­ge­ne Un­ter­wür­fig­keit kund­ge­ben. »Ich zäh­le nicht mit. Bit­te, fah­ren Sie nur fort.«

Aber die Tore der Be­red­sam­keit wa­ren ge­schlos­sen. Auch wir er­ho­ben uns und lach­ten ver­le­gen.

21

Der Ver­druss, den Wolf Lar­sen emp­fand, weil Maud Brewster und ich ihn in un­se­rer Un­ter­hal­tung bei Tisch igno­riert hat­ten, muss­te sich ir­gend­wie Luft ma­chen, und Tho­mas Mu­gridge soll­te der Sün­den­bock sein. Trotz sei­ner ge­gen­tei­li­gen Be­haup­tung hat­te er we­der sein Be­neh­men noch sein Hemd ge­wech­selt. Die­ses Klei­dungs­stück wi­der­leg­te ihn eben­so­sehr, wie die Fet­t­abla­ge­run­gen auf Ofen, Töp­fen und Pfan­nen, die al­ler Be­grif­fe von Rein­lich­keit spot­te­ten.

»Ich habe dich ge­warnt, Köch­lein«, sag­te Wolf Lar­sen, »und jetzt hilft’s dir nichts mehr, jetzt kriegst du dei­ne Me­di­zin.«

Mu­gridge wur­de krei­de­weiß un­ter der Ruß­schicht, und als Wolf Lar­sen nach ei­nem Tau und ein paar Mann rief, schoss der ver­zwei­fel­te Cock­ney in wil­der Flucht aus der Kom­bü­se, mach­te wei­te Sät­ze über das Deck und duck­te sich, um der Ver­fol­gung der grin­sen­den Mann­schaft zu ent­ge­hen. Der hät­te kaum et­was grö­ße­res Ver­gnü­gen ma­chen kön­nen, als ihn ein biss­chen ins Schlepp­tau zu neh­men, denn was er der Mann­schaft an Es­sen und Trin­ken vor­ge­setzt hat­te, war ein­fach scheuß­lich ge­we­sen. Auch die äu­ße­ren Ver­hält­nis­se be­güns­tig­ten das Un­ter­neh­men. Die ›Ghost‹ glitt mit nur drei Mei­len Fahrt durch das Was­ser, und die See war ziem­lich ru­hig. Aber Mu­gridge ver­spür­te nur ge­rin­ge Nei­gung, un­ter­ge­taucht zu wer­den. Höchst­wahr­schein­lich hat­te er schon frü­her mit­ge­macht, wie Leu­te ins Schlepp­tau ge­nom­men wur­den. Zu­dem war das Was­ser furcht­bar kalt und er al­les an­de­re eher, als ab­ge­här­tet.

Wie ge­wöhn­lich, wenn Aus­sicht auf eine Be­lus­ti­gung war, ka­men die an­de­re Wa­che und die Jä­ger an Deck. Mu­gridge schi­en eine ver­zwei­fel­te Angst vor dem Was­ser zu ha­ben und zeig­te eine Ge­wandt­heit und Schnel­lig­keit, die nie­mand ihm zu­ge­traut hät­te. Als er in dem Win­kel zwi­schen Kom­bü­se und Ruff in die Klem­me ge­trie­ben wur­de, sprang er wie eine Kat­ze auf das Ka­jü­ten­dach und rann­te nach ach­tern. Sei­ne Ver­fol­ger ka­men ihm zu­vor, aber er ent­wisch­te ih­nen und er­reich­te das Deck mit Hil­fe der Zwi­schen­decks­lu­ke. Jetzt rann­te er vor­wärts, der Bootspul­ler Har­ri­son dicht hin­ter ihm her. Plötz­lich aber mach­te Mu­gridge einen Sprung und pack­te die Klü­ver­baum-Top­pen­ant. Es war das Werk ei­nes Au­gen­blicks. Er hing an den Ar­men und be­schrieb mit den aus­ge­streck­ten Bei­nen einen Kreis in der Luft. Der an­stür­men­de Har­ri­son wur­de mit­ten in den Leib ge­trof­fen, brüll­te un­will­kür­lich auf und stürz­te rück­lings auf das Deck. Hän­de­klat­schen und schal­len­des Ge­läch­ter be­grüß­ten die­se Hel­den­tat, wäh­rend Mu­gridge, die Hälf­te sei­ner Ver­fol­ger am Fock­mast las­send, wie ein Läu­fer beim Fuß­ball nach ach­tern rann­te. Di­rekt nach ach­tern ging es, nach der Ruff und die Ruff ent­lang zum Heck. So groß war sei­ne Schnel­lig­keit, dass er, als er um die Ka­jü­te aus­bog, aus­rutsch­te und fiel. Im Fal­len traf er die Bei­ne Nil­sons, der am Ran­de stand. Sie stürz­ten über­ein­an­der, doch nur Mu­gridge er­hob sich wie­der. Durch eine Lau­ne des Schick­sals hat­te sein schwäch­li­cher Kör­per das Bein des star­ken Man­nes wie ein Pfei­fen­rohr ge­knickt.

Par­sons er­griff das Rad, und die Ver­fol­gung wur­de wie­der auf­ge­nom­men. Im­mer ums Deck her­um ging es. Erst Mu­gridge, vor Angst fast von Sin­nen, und hin­ter­drein die Ma­tro­sen, die sich schrei­end die Rich­tung an­ga­ben, und die Jä­ger, die sie mit brül­len­dem Ge­läch­ter an­feu­er­ten. Auf der Vor­der­lu­ke fiel dann Mu­gridge mit drei Mann über sich. Aber er wand sich wie ein Aal her­aus und sprang zur Haupt­ta­ke­lung, wäh­rend ihm das Blut aus dem Mun­de troff und das an­sto­ßer­re­gen­de Hemd in Fet­zen riss. Hin­auf ging es, ge­ra­des­wegs hin­auf, un­ter den Püt­tings­wan­ten zum Groß­mast­topp.

Ein hal­b­es Dut­zend Ma­tro­sen setz­te ihm nach, muss­te aber an den Dwars­sa­lin­gen zu­rück­blei­ben bis auf zwei, Oof­ty-Oof­ty und Black, den Boots­steue­rer La­ti­mers, die ihn wei­ter die dün­nen, stäh­ler­nen Stags hin­auf ver­folg­ten und sich mit den Ar­men im­mer hö­her schwan­gen.

Es war ein ge­fähr­li­ches Un­ter­neh­men, denn in ei­ner Höhe von über hun­dert Fuß über Deck und nur an den Hän­den hän­gend, konn­ten sie sich nur schwer vor Mu­gridges Fü­ßen schüt­zen. Und Mu­gridge trat um sich wie ein Wil­der, bis der Kana­ke, der sich mit der einen Hand fest­hielt, mit der an­de­ren den Fuß des Cock­neys pack­te. Black tat das­sel­be mit dem an­de­ren Fuß. Eine Wei­le hin­gen alle drei und wan­den sich in ei­nem un­ent­wirr­ba­ren Klum­pen, bis sie, im­mer noch kämp­fend, hin­un­ter­rutsch­ten und in die Arme ih­rer Ka­me­ra­den auf den Dwars­sa­lin­gen fie­len.

Die Schlacht in der Luft war vor­bei, und Tho­mas Mu­gridge wur­de, wim­mernd und heu­lend, mit blu­ti­gem Schaum vor dem Mun­de, aufs Deck ge­schleppt. Wolf Lar­sen steck­te eine Bug­lei­ne durch eine Tausch­lin­ge, die er ihm un­ter den Ar­men um den Leib leg­te. Dann wur­de er nach ach­tern ge­schleppt und ins Was­ser ge­wor­fen. Vier­zig – fünf­zig – sech­zig Fuß Lei­ne wa­ren be­reits aus­ge­lau­fen, als Wolf Lar­sen »Fest­ma­chen!« rief. Oof­ty-Oof­ty leg­te eine Sch­lin­ge um einen Pöl­ler, die Lei­ne straff­te sich, und durch die an­dau­ern­de Fahrt der ›Ghost‹ wur­de der Koch an die Ober­flä­che ge­ris­sen.

Es war ein mit­lei­der­re­gen­der An­blick. Wenn er auch nicht er­trin­ken konn­te und dazu zäh wie eine Kat­ze war, er­litt er doch die Qua­len ei­nes Er­trin­ken­den. Die ›Ghost‹ fuhr sehr lang­sam, und wenn ihr Heck sich auf ei­ner Wel­le hob und sie vor­wärts glitt, zog sie den Un­glück­li­chen an die Ober­flä­che, dass er einen Au­gen­blick Atem schöp­fen konn­te. Wenn aber das Heck sank und der Bug trä­ge die nächs­te Woge er­klomm, wur­de die Lei­ne wie­der schlaff, und er sank un­ter. Ich hat­te ganz Maud Brewsters Exis­tenz ver­ges­sen und fuhr da­her er­schro­cken zu­sam­men, als sie mit leich­ten Schrit­ten ne­ben mich trat. Seit sie an Bord ge­kom­men war, be­fand sie sich das ers­te­mal an Deck. To­ten­stil­le be­grüß­te ihr Er­schei­nen.

»Wor­über freu­en sich alle so?« frag­te sie.

»Fra­gen Sie Ka­pi­tän Lar­sen«, ant­wor­te­te ich ge­fasst und kühl, ob­wohl mir das Blut bei dem Ge­dan­ken koch­te, dass sie Zeu­ge ei­ner sol­chen Ro­heit wer­den soll­te.

Sie woll­te mei­nem Rat fol­gen und wand­te sich um, als ihr Blick auf Oof­ty-Oof­ty fiel, der mit an­mu­tig ge­straff­tem Kör­per vor ihr stand und die Tausch­lin­ge hielt.

»Fi­schen Sie?« frag­te sie.

Er ant­wor­te­te nicht. In sei­ne Au­gen, die sich fest auf die See ach­tern hef­te­ten, trat plötz­lich ein Schim­mer. »Hai ahoi, Ka­pi­tän!« schrie er.

»Hiv ein! Schnell alle Mann!« rief Wolf Lar­sen und sprang selbst vor al­len an­de­ren an die Lei­ne.

Mu­gridge hat­te den Warn­ruf des Kana­ken ge­hört und schrie wie ein Be­ses­se­ner. Ich konn­te eine schwar­ze Flos­se se­hen, die das Was­ser durch­schnitt, und zwar mit grö­ße­rer Schnel­lig­keit, als er ein­ge­hahlt wur­de. Ein Wett­ren­nen zwi­schen dem Hai und uns be­gann, aber al­les voll­zog sich in we­ni­gen Au­gen­bli­cken. Als Mu­gridge ge­ra­de un­ter uns war, sank das Heck in ein Wel­len­tal, wo­durch der Hai einen Vor­sprung ge­wann. Bei­na­he eben­so, aber nicht ganz so schnell war Wolf Lar­sen. Sei­ne gan­ze Kraft äu­ßer­te sich in ei­nem ge­wal­ti­gen Ruck. Der Kör­per des Kochs schoss aus dem Was­ser, der Hai hin­ter­drein.

Mu­gridge zog die Füße hoch, de­ren einen der Men­schen­fres­ser nur eben zu be­rüh­ren schi­en. Dann sank er klat­schend ins Was­ser zu­rück. Aber bei der Berüh­rung stieß Tho­mas Mu­gridge einen lau­ten Schrei aus. Dann wur­de er wie ein Fisch an der An­gel hoch­ge­zo­gen, streif­te leicht die Re­ling und stürz­te kopf­über aufs Deck.

 

Doch ein Strom von Blut er­goss sich über die Plan­ken. Der rech­te Fuß fehl­te, fast am Knö­chel am­pu­tiert. Ich blick­te Maud Brewster an. Sie war lei­chen­blass, ihre Au­gen wei­te­ten sich vor Ent­set­zen. Sie sah nicht Tho­mas Mu­gridge, son­dern Wolf Lar­sen an. Und er be­merk­te es, denn er sag­te mit kur­z­em La­chen:

»Män­ner­spiel, Miss Brewster. Wohl et­was rau­er, als Sie es ge­wöhnt sein mö­gen, aber im­mer­hin – Män­ner­spiel. Der Hai war nicht mit in der Rech­nung. Es –« Bei die­sen Wor­ten hat­te Tho­mas Mu­gridge den Kopf ge­ho­ben und war sich über den Ver­lust, den er er­lit­ten hat­te, klar ge­wor­den. Jetzt kroch er über das Deck und schlug plötz­lich sei­ne Zäh­ne in Wolf Lar­sens Bein. Der aber bück­te sich ru­hig zum Cock­ney nie­der und press­te mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger von hin­ten die Kinn­la­den des Man­nes un­ter­halb der Ohren zu­sam­men. Die Kie­fer öff­ne­ten sich wi­der­stre­bend, und Wolf Lar­sen war frei.

»Wie ge­sagt«, fuhr er fort, als ob nichts Be­son­de­res ge­sche­hen sei: »Der Hai war nicht mit in der Rech­nung. Es war – hm – sa­gen wir, gött­li­che Vor­se­hung.« Sie gab kein Zei­chen, dass sie ihn ge­hört hat­te, aber die Angst in ih­ren Au­gen wich un­aus­sprech­li­chem Ekel, und sie wand­te sich, um zu ge­hen. Sie hat­te in­des­sen kaum einen Schritt ge­tan, als sie wank­te und die Hand schwach nach mir aus­streck­te. Ich fing sie ge­ra­de noch recht­zei­tig auf und half ihr, sich auf die Ka­jüt­strep­pe zu set­zen. Ich glaub­te, sie wür­de so­fort in Ohn­macht fal­len, aber sie be­herrsch­te sich.

»Herr van Wey­den, wol­len Sie eine Ader­pres­se ho­len«, rief Wolf Lar­sen mir zu.

Ich zö­ger­te. Ihre Lip­pen be­weg­ten sich, und ob­gleich sie kein Wort her­vor­brach­te, bat sie mich mit den Au­gen so deut­lich wie mit Wor­ten, dem Un­glück­li­chen zu hel­fen. Mit An­stren­gung flüs­ter­te sie »bit­te!«, und mir blieb nichts üb­rig, als zu ge­hor­chen.

Ich hat­te all­mäh­lich sol­che Ge­schick­lich­keit als Chir­urg er­langt, dass Wolf Lar­sen mir nach kur­z­er Be­ra­tung die Be­hand­lung über­las­sen konn­te, wo­bei mir ein paar Ma­tro­sen hal­fen. Für sei­nen Teil wähl­te er sich die Ra­che an dem Hai. Ein schwe­rer Wir­bel­ha­ken, an dem als Kö­der ein Stück Pö­kel­fleisch hing, wur­de über Bord ge­wor­fen, und als ich ge­ra­de da­mit fer­tig war, die ge­fähr­de­ten Ve­nen und Ar­te­ri­en zu­sam­men­zu­pres­sen, hol­ten die Ma­tro­sen sin­gend das Un­ge­heu­er ein. Ich sah es nicht selbst, aber mei­ne As­sis­ten­ten ver­lie­ßen mich ab­wech­selnd, um mit­schiffs zu lau­fen und zu se­hen, was vor­ging. Der 16 Fuß lan­ge Hai wur­de in die Haupt­ta­ke­lung ge­heißt. Sein Ra­chen war weit auf­ge­ris­sen, und jetzt wur­de eine an bei­den Sei­ten zu­ge­spitz­te Ei­sen­stan­ge hin­ein­ge­stellt, so­dass sie sich in die Kie­fer, wenn sie sich schlie­ßen woll­ten, ein­boh­ren und sie fest­hal­ten muss­te. Als dies voll­bracht war, wur­de der Ha­ken her­aus­ge­schnit­ten. Der Hai sank ins Meer zu­rück, hilf­los und doch im Be­sitz sei­ner vol­len Kraft, zu lang­sa­mem Hun­ger­to­de ver­ur­teilt, den we­ni­ger er ver­dien­te als der Mann, der ihm die­se Stra­fe zu­er­teil­te.

22

Als ich sie auf mich zu­kom­men sah, wuss­te ich, was sie woll­te. Ich hat­te sie zehn Mi­nu­ten lang ernst mit dem Ma­schi­nis­ten spre­chen se­hen, und jetzt zog ich sie au­ßer Hör­wei­te des Ru­der­gas­tes, in­dem ich ihr ein Zei­chen mach­te, zu schwei­gen. Ihr Ant­litz war blass und ent­schlos­sen, ihre großen Au­gen, die die Ent­schlos­sen­heit noch grö­ßer mach­te, sa­hen fest in die mei­nen. Mir war nicht sehr wohl zu­mu­te, denn sie kam, um mei­ne See­le zu er­for­schen, und ich be­saß, seit ich auf die ›Ghost‹ ge­kom­men war, nichts mehr, auf das ich be­son­ders stolz hät­te sein kön­nen. Wir gin­gen zum Ran­de der Acht­er­hüt­te, wo sie sich um­wand­te und mir ins Ge­sicht blick­te. Ich sah mich um, um mich zu ver­ge­wis­sern, dass nie­mand in Hör­wei­te war.

»Was gibt es?« frag­te ich sanft, aber der ent­schlos­se­ne Aus­druck wich nicht von ih­rem Ge­sicht.

»Ich kann be­grei­fen, dass das, was heu­te Mor­gen ge­sch­ah, in der Haupt­sa­che ein Un­glücks­fall war, aber ich habe mit Herrn Has­kins ge­spro­chen, und er er­zählt mir, dass an dem Tage, als wir ge­ret­tet wur­den, wäh­rend ich in der Ka­jü­te war, zwei Men­schen er­tränkt, mit Vor­be­dacht er­tränkt – er­mor­det wur­den.«

In ih­rer Stim­me lag eine Fra­ge, und sie sah mich an­kla­gend an, als ob ich schul­dig oder doch we­nigs­tens mit­schul­dig an der Tat wäre.

»Das ist ganz rich­tig«, ant­wor­te­te ich. »Die bei­den Män­ner wur­den er­mor­det.«

»Und das ha­ben Sie zu­ge­las­sen?« rief sie.

»Ich war nicht im­stan­de, es zu ver­hin­dern, so muss es wohl hei­ßen«, ent­geg­ne­te ich, im­mer noch sanft.

»Aber ha­ben Sie we­nigs­tens den Ver­such ge­macht, es zu ver­hin­dern?« Sie leg­te den Ton auf das Wort ›Ver­such‹, und ein fle­hen­der Klang war in ih­rer Stim­me. »Ach, Sie ha­ben es nicht ge­tan«, fuhr sie fort, da sie mei­ne Ant­wort er­riet … »Aber warum nicht?«

Ich zuck­te die Ach­seln. »Sie dür­fen nicht ver­ges­sen, Fräu­lein Brewster, dass Sie ein neu­er Be­woh­ner die­ser klei­nen Welt sind und noch nicht die Ge­set­ze, die hier herr­schen, ver­ste­hen. Sie ha­ben ge­wiss edle Be­grif­fe von Men­sch­lich­keit, Männ­lich­keit, Be­neh­men und ähn­li­chem mit­ge­bracht, aber Sie wer­den bald er­ken­nen, dass das al­les hier kei­ne Gel­tung hat. Mir ging es eben­so«, füg­te ich, un­will­kür­lich seuf­zend, hin­zu. Ungläu­big schüt­tel­te sie den Kopf.

»Was wür­den Sie mir denn ra­ten?« frag­te ich. »Soll ich ein Mes­ser, ein Ge­wehr oder eine Axt neh­men und die­sen Mann tö­ten?«

Sie wich zu­rück. »Nein, das nicht!«

»Was soll­te ich sonst tun? Mich selbst tö­ten?«

»Sie be­trach­ten die Din­ge von ei­nem rein ma­te­ri­el­len Stand­punkt«, hielt sie mir ent­ge­gen. »Es gibt einen sitt­li­chen Mut, und ein sol­cher sitt­li­cher Mut ist nie wir­kungs­los.«

»Ach«, lä­chel­te ich, »ich soll we­der ihn noch mich tö­ten, son­dern mich von ihm tö­ten las­sen.« Sie woll­te spre­chen, aber ich hob die Hand. »Sitt­li­cher Mut ist et­was ganz Wert­lo­ses auf die­ser schwim­men­den klei­nen Welt. Le­ach, der eine der bei­den Er­mor­de­ten, be­saß sitt­li­chen Mut in au­ßer­ge­wöhn­lich ho­hem Maße. Eben­so der an­de­re, John­son. Er hat ih­nen nicht nur nichts genützt, er hat sie so­gar ver­nich­tet. Und so wür­de es mir auch ge­sche­hen, wenn ich das biss­chen sitt­li­chen Mut, das ich be­sit­ze, ge­brau­chen woll­te.

Sie müs­sen ver­ste­hen, Fräu­lein Brewster, völ­lig ver­ste­hen, dass die­ser Mann ein Un­ge­heu­er ist. Er be­sitzt kein Ge­wis­sen. Nichts ist ihm hei­lig, nichts ist so furcht­bar, dass er es nicht täte. Eine Lau­ne von ihm hielt mich an Bord zu­rück. Eine Lau­ne von ihm hat mich am Le­ben ge­las­sen. Ich tue nichts, kann nichts tun, denn ich bin der Skla­ve die­ses Un­ge­heu­ers, wie Sie jetzt sei­ne Skla­vin sind, weil ich le­ben möch­te, wie Sie le­ben möch­ten, weil ich nicht kämp­fen und ihn über­wäl­ti­gen kann, ge­ra­de wie Sie nicht im­stan­de wä­ren, ihn zu be­kämp­fen und zu über­wäl­ti­gen.«

Sie schwieg, war­te­te of­fen­bar, dass ich fort­fah­ren soll­te.

»Was soll ich noch sa­gen? Mir ist die Rol­le des Schwa­chen zu­ge­teilt. Ich schwei­ge und er­dul­de die Schmach, wie auch Sie schwei­gen und dul­den wer­den. Das ist das Bes­te, was wir tun kön­nen, wenn wir am Le­ben blei­ben wol­len. Der Kampf ent­schei­det sich nicht stets für den Star­ken. Wir ha­ben nicht die Kraft, mit die­sem Man­ne zu kämp­fen. Wir müs­sen heu­cheln, und wenn wir ge­win­nen, tun wir es durch Ver­schla­gen­heit Wenn Sie sich von mir ra­ten las­sen wol­len, so rich­ten Sie sich hier­nach. Ich weiß, dass mei­ne Lage ge­fähr­lich ist, und die Ihre, das kann ich of­fen sa­gen, noch ge­fähr­li­cher. Wir müs­sen zu­sam­men­hal­ten, müs­sen ein ge­hei­mes Bünd­nis schlie­ßen, ohne dass je­mand es merkt. Mir wird es nicht mög­lich sein, of­fen Ihre Par­tei zu er­grei­fen, und was Un­wür­di­ges mir auch im­mer auf­er­legt wird: Sie müs­sen schwei­gen. Wir dür­fen es nicht auf einen Streit mit die­sem Man­ne an­kom­men las­sen, und wir dür­fen sei­nen Wil­len nicht durch­kreu­zen. Wir müs­sen lä­cheln und freund­lich zu ihm sein, so wi­der­wär­tig es uns auch sein mag.«

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und sag­te ver­wirrt: »Es ist mir im­mer noch un­ver­ständ­lich.«

»Sie müs­sen tun, wie ich sage«, un­ter­brach ich sie ge­bie­te­risch, denn ich sah, wie Wolf Lar­sens Blick uns traf, wäh­rend er mit La­ti­mer mitt­schiffs auf und ab wan­der­te. »Tun Sie, wie ich sage, und Sie wer­den bald se­hen, dass ich recht habe.«

»Was soll ich denn tun?« frag­te sie, als sie den ängst­li­chen Blick be­merk­te, den ich auf den Ge­gen­stand un­se­rer Un­ter­hal­tung warf, und – so schmeich­le ich mir – durch­drun­gen von dem Ernst mei­ner Wor­te. »Las­sen Sie alle Ihre Be­grif­fe von sitt­li­chem Mut fah­ren«, sag­te ich rasch. »Rei­zen Sie nicht den Un­wil­len die­ses Man­nes. Sei­en Sie ganz freund­lich zu ihm, spre­chen Sie mit ihm, strei­ten Sie sich mit ihm über Li­te­ra­tur und Kunst – er liebt die­se Din­ge. Sie wer­den in ihm einen auf­merk­sa­men, ver­ständ­nis­vol­len Zu­hö­rer fin­den. Und um Ih­rer selbst wil­len ver­mei­den Sie es, so­weit mög­lich, Zeu­ge der Bru­ta­li­tä­ten zu sein, die auf die­sem Schif­fe ge­sche­hen. Das wird es Ih­nen er­leich­tern, Ihre Rol­le zu spie­len.«

»Ich soll also lü­gen«, sag­te sie fest und mit Em­pö­rung in der Stim­me. »Lü­gen in Wort und Tat.«

Wolf Lar­sen hat­te La­ti­mer ste­hen las­sen und kam auf uns zu. Ich er­schrak tief.

»Bit­te, bit­te, miss­ver­ste­hen Sie mich nicht«, sag­te ich rasch, in­dem ich die Stim­me senk­te. »Alle Ihre Men­schen­kennt­nis, alle Ihre Er­fah­run­gen sind hier wert­los. Sie müs­sen ganz um­ler­nen. Ich weiß – ich kann es se­hen: Sie ha­ben in an­de­ren Ver­hält­nis­sen ge­lebt, sind ge­wohnt, Men­schen mit Ihren Au­gen zu be­herr­schen, durch sie ge­wis­ser­ma­ßen Ihren sitt­li­chen Mut spre­chen zu las­sen. Sie ha­ben mich be­reits mit Ihren Au­gen be­herrscht, mit ih­nen über mich ge­bo­ten. Aber ver­su­chen Sie es nicht mit Wolf Lar­sen. Eben­so leicht könn­ten Sie einen Lö­wen be­herr­schen, und er wür­de sich nur über Sie lus­tig ma­chen. Er wür­de – ich bin im­mer stolz dar­auf ge­we­sen, dass ich ihn ent­deckt habe«, sag­te ich, in­dem ich den Ge­sprächss­toff wech­sel­te, da Wolf Lar­sen in die­sem Au­gen­blick zu uns auf die Acht­er­hüt­te trat. »Die Re­dak­teu­re fürch­te­ten ihn, und die Ver­le­ger woll­ten nichts mit ihm zu schaf­fen ha­ben. Aber ich hat­te ihn er­kannt, und sein Ge­nie und mei­ne Ur­teils­kraft wur­den ge­recht­fer­tigt, als er den fa­bel­haf­ten Er­folg mit sei­ner ›Schmie­de‹ hat­te.«

»Und da­bei war es ein Zei­tungs­ge­dicht«, sag­te sie, eben­falls im Un­ter­hal­tungs­ton.

»Es er­schi­en zu­fäl­lig in ei­ner Zei­tung«, er­wi­der­te ich, »aber es hat­te schon man­chem Zeit­schrif­ten­re­dak­teur vor­ge­le­gen.

Wir spre­chen von Har­ris«, sag­te ich zu Wolf Lar­sen. »Ach ja«, stimm­te er zu. »Ich ent­sin­ne mich gut der ›Schmie­de‹. Eine Fül­le schö­ner Ge­füh­le und ein all­mäch­ti­ger Glau­be an mensch­li­che Il­lu­sio­nen. Aber Herr van Wey­den, Sie soll­ten sich lie­ber nach Köch­lein um­se­hen. Er klagt und ist un­ru­hig.«

So wur­de ich auf recht der­be Wei­se von der Acht­er­hüt­te weg­ge­schickt, und nur, um Mu­gridge in tie­fem Schlum­mer zu fin­den nach dem Mor­phi­um, das ich ihm ge­ge­ben hat­te. Ich be­eil­te mich nicht, wie­der an Deck zu kom­men, als ich es aber schließ­lich tat, sah ich zu mei­ner Freu­de Fräu­lein Brewster in an­ge­reg­ter Un­ter­hal­tung mit Wolf Lar­sen. Wie ge­sagt, freu­te ich mich über die­sen An­blick. Sie be­folg­te also mei­nen Rat. Und doch durch­zuck­te mich ein leich­ter Schmerz, als ich sah, dass sie tat, um was ich sie ge­be­ten, und was sie vor­hin mit Ab­scheu von sich ge­wie­sen hat­te.