»Also Sie sind Maud Brewster«, sagte ich feierlich und blickte sie an.
»Und Sie sind Humphrey van Weyden«, sagte sie und erwiderte meinen Blick ebenso feierlich und furchtsam. »Wie seltsam! Es ist mir alles ganz unverständlich. Wir haben sicherlich eine wildromantische Seegeschichte von Ihnen zu erwarten.«
»Nein, ich sammle keinen Stoff, das versichere ich Ihnen«, lautete meine Antwort. »Ich habe weder Geschick, noch Neigung für fantastische Literatur.«
»Sagen Sie mir: warum haben Sie sich immer in Kalifornien begraben?« fragte sie nun. »Das war wirklich nicht nett von Ihnen. Wir im Osten haben so wenig von Ihnen zu sehen bekommen – viel zu wenig – von dem großen amerikanischen Kritiker.«
Ich lehnte das Kompliment mit einer Verbeugung ab. »Ich hätte Sie fast einmal in Philadelphia getroffen, Sie wollten Browning oder etwas Ähnliches vortragen. Aber mein Zug hatte vier Stunden Verspätung.«
Und dann vergaßen wir ganz, wo wir waren, und ließen Wolf Larsen stumm und wie ein gescheitertes Schiff inmitten der Brandung unserer Unterhaltung. Die Jäger standen auf und gingen an Deck, und wir sprachen immer noch. Nur Wolf Larsen blieb. Plötzlich wurde ich seiner Anwesenheit inne, er saß zurückgelehnt am Tisch und lauschte neugierig unsern fremdartigen Reden über eine Welt, die er nicht kannte.
Ich brach mitten im Satze ab. Die Gegenwart mit all ihren Gefahren und Schrecken lähmte mich. Fräulein Brewster musste es ähnlich gehen, ein unbestimmtes namenloses Entsetzen trat in ihre Augen, die jetzt auf Wolf Larsen fielen.
Er erhob sich und lachte verlegen mit einem seltsamen, metallischen Klang.
»Oh, kümmern Sie sich nicht um mich«, sagte er mit einer Handbewegung, als wolle er seine eigene Unterwürfigkeit kundgeben. »Ich zähle nicht mit. Bitte, fahren Sie nur fort.«
Aber die Tore der Beredsamkeit waren geschlossen. Auch wir erhoben uns und lachten verlegen.
Der Verdruss, den Wolf Larsen empfand, weil Maud Brewster und ich ihn in unserer Unterhaltung bei Tisch ignoriert hatten, musste sich irgendwie Luft machen, und Thomas Mugridge sollte der Sündenbock sein. Trotz seiner gegenteiligen Behauptung hatte er weder sein Benehmen noch sein Hemd gewechselt. Dieses Kleidungsstück widerlegte ihn ebensosehr, wie die Fettablagerungen auf Ofen, Töpfen und Pfannen, die aller Begriffe von Reinlichkeit spotteten.
»Ich habe dich gewarnt, Köchlein«, sagte Wolf Larsen, »und jetzt hilft’s dir nichts mehr, jetzt kriegst du deine Medizin.«
Mugridge wurde kreideweiß unter der Rußschicht, und als Wolf Larsen nach einem Tau und ein paar Mann rief, schoss der verzweifelte Cockney in wilder Flucht aus der Kombüse, machte weite Sätze über das Deck und duckte sich, um der Verfolgung der grinsenden Mannschaft zu entgehen. Der hätte kaum etwas größeres Vergnügen machen können, als ihn ein bisschen ins Schlepptau zu nehmen, denn was er der Mannschaft an Essen und Trinken vorgesetzt hatte, war einfach scheußlich gewesen. Auch die äußeren Verhältnisse begünstigten das Unternehmen. Die ›Ghost‹ glitt mit nur drei Meilen Fahrt durch das Wasser, und die See war ziemlich ruhig. Aber Mugridge verspürte nur geringe Neigung, untergetaucht zu werden. Höchstwahrscheinlich hatte er schon früher mitgemacht, wie Leute ins Schlepptau genommen wurden. Zudem war das Wasser furchtbar kalt und er alles andere eher, als abgehärtet.
Wie gewöhnlich, wenn Aussicht auf eine Belustigung war, kamen die andere Wache und die Jäger an Deck. Mugridge schien eine verzweifelte Angst vor dem Wasser zu haben und zeigte eine Gewandtheit und Schnelligkeit, die niemand ihm zugetraut hätte. Als er in dem Winkel zwischen Kombüse und Ruff in die Klemme getrieben wurde, sprang er wie eine Katze auf das Kajütendach und rannte nach achtern. Seine Verfolger kamen ihm zuvor, aber er entwischte ihnen und erreichte das Deck mit Hilfe der Zwischendecksluke. Jetzt rannte er vorwärts, der Bootspuller Harrison dicht hinter ihm her. Plötzlich aber machte Mugridge einen Sprung und packte die Klüverbaum-Toppenant. Es war das Werk eines Augenblicks. Er hing an den Armen und beschrieb mit den ausgestreckten Beinen einen Kreis in der Luft. Der anstürmende Harrison wurde mitten in den Leib getroffen, brüllte unwillkürlich auf und stürzte rücklings auf das Deck. Händeklatschen und schallendes Gelächter begrüßten diese Heldentat, während Mugridge, die Hälfte seiner Verfolger am Fockmast lassend, wie ein Läufer beim Fußball nach achtern rannte. Direkt nach achtern ging es, nach der Ruff und die Ruff entlang zum Heck. So groß war seine Schnelligkeit, dass er, als er um die Kajüte ausbog, ausrutschte und fiel. Im Fallen traf er die Beine Nilsons, der am Rande stand. Sie stürzten übereinander, doch nur Mugridge erhob sich wieder. Durch eine Laune des Schicksals hatte sein schwächlicher Körper das Bein des starken Mannes wie ein Pfeifenrohr geknickt.
Parsons ergriff das Rad, und die Verfolgung wurde wieder aufgenommen. Immer ums Deck herum ging es. Erst Mugridge, vor Angst fast von Sinnen, und hinterdrein die Matrosen, die sich schreiend die Richtung angaben, und die Jäger, die sie mit brüllendem Gelächter anfeuerten. Auf der Vorderluke fiel dann Mugridge mit drei Mann über sich. Aber er wand sich wie ein Aal heraus und sprang zur Haupttakelung, während ihm das Blut aus dem Munde troff und das anstoßerregende Hemd in Fetzen riss. Hinauf ging es, geradeswegs hinauf, unter den Püttingswanten zum Großmasttopp.
Ein halbes Dutzend Matrosen setzte ihm nach, musste aber an den Dwarssalingen zurückbleiben bis auf zwei, Oofty-Oofty und Black, den Bootssteuerer Latimers, die ihn weiter die dünnen, stählernen Stags hinauf verfolgten und sich mit den Armen immer höher schwangen.
Es war ein gefährliches Unternehmen, denn in einer Höhe von über hundert Fuß über Deck und nur an den Händen hängend, konnten sie sich nur schwer vor Mugridges Füßen schützen. Und Mugridge trat um sich wie ein Wilder, bis der Kanake, der sich mit der einen Hand festhielt, mit der anderen den Fuß des Cockneys packte. Black tat dasselbe mit dem anderen Fuß. Eine Weile hingen alle drei und wanden sich in einem unentwirrbaren Klumpen, bis sie, immer noch kämpfend, hinunterrutschten und in die Arme ihrer Kameraden auf den Dwarssalingen fielen.
Die Schlacht in der Luft war vorbei, und Thomas Mugridge wurde, wimmernd und heulend, mit blutigem Schaum vor dem Munde, aufs Deck geschleppt. Wolf Larsen steckte eine Bugleine durch eine Tauschlinge, die er ihm unter den Armen um den Leib legte. Dann wurde er nach achtern geschleppt und ins Wasser geworfen. Vierzig – fünfzig – sechzig Fuß Leine waren bereits ausgelaufen, als Wolf Larsen »Festmachen!« rief. Oofty-Oofty legte eine Schlinge um einen Pöller, die Leine straffte sich, und durch die andauernde Fahrt der ›Ghost‹ wurde der Koch an die Oberfläche gerissen.
Es war ein mitleiderregender Anblick. Wenn er auch nicht ertrinken konnte und dazu zäh wie eine Katze war, erlitt er doch die Qualen eines Ertrinkenden. Die ›Ghost‹ fuhr sehr langsam, und wenn ihr Heck sich auf einer Welle hob und sie vorwärts glitt, zog sie den Unglücklichen an die Oberfläche, dass er einen Augenblick Atem schöpfen konnte. Wenn aber das Heck sank und der Bug träge die nächste Woge erklomm, wurde die Leine wieder schlaff, und er sank unter. Ich hatte ganz Maud Brewsters Existenz vergessen und fuhr daher erschrocken zusammen, als sie mit leichten Schritten neben mich trat. Seit sie an Bord gekommen war, befand sie sich das erstemal an Deck. Totenstille begrüßte ihr Erscheinen.
»Worüber freuen sich alle so?« fragte sie.
»Fragen Sie Kapitän Larsen«, antwortete ich gefasst und kühl, obwohl mir das Blut bei dem Gedanken kochte, dass sie Zeuge einer solchen Roheit werden sollte.
Sie wollte meinem Rat folgen und wandte sich um, als ihr Blick auf Oofty-Oofty fiel, der mit anmutig gestrafftem Körper vor ihr stand und die Tauschlinge hielt.
»Fischen Sie?« fragte sie.
Er antwortete nicht. In seine Augen, die sich fest auf die See achtern hefteten, trat plötzlich ein Schimmer. »Hai ahoi, Kapitän!« schrie er.
»Hiv ein! Schnell alle Mann!« rief Wolf Larsen und sprang selbst vor allen anderen an die Leine.
Mugridge hatte den Warnruf des Kanaken gehört und schrie wie ein Besessener. Ich konnte eine schwarze Flosse sehen, die das Wasser durchschnitt, und zwar mit größerer Schnelligkeit, als er eingehahlt wurde. Ein Wettrennen zwischen dem Hai und uns begann, aber alles vollzog sich in wenigen Augenblicken. Als Mugridge gerade unter uns war, sank das Heck in ein Wellental, wodurch der Hai einen Vorsprung gewann. Beinahe ebenso, aber nicht ganz so schnell war Wolf Larsen. Seine ganze Kraft äußerte sich in einem gewaltigen Ruck. Der Körper des Kochs schoss aus dem Wasser, der Hai hinterdrein.
Mugridge zog die Füße hoch, deren einen der Menschenfresser nur eben zu berühren schien. Dann sank er klatschend ins Wasser zurück. Aber bei der Berührung stieß Thomas Mugridge einen lauten Schrei aus. Dann wurde er wie ein Fisch an der Angel hochgezogen, streifte leicht die Reling und stürzte kopfüber aufs Deck.
Doch ein Strom von Blut ergoss sich über die Planken. Der rechte Fuß fehlte, fast am Knöchel amputiert. Ich blickte Maud Brewster an. Sie war leichenblass, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sah nicht Thomas Mugridge, sondern Wolf Larsen an. Und er bemerkte es, denn er sagte mit kurzem Lachen:
»Männerspiel, Miss Brewster. Wohl etwas rauer, als Sie es gewöhnt sein mögen, aber immerhin – Männerspiel. Der Hai war nicht mit in der Rechnung. Es –« Bei diesen Worten hatte Thomas Mugridge den Kopf gehoben und war sich über den Verlust, den er erlitten hatte, klar geworden. Jetzt kroch er über das Deck und schlug plötzlich seine Zähne in Wolf Larsens Bein. Der aber bückte sich ruhig zum Cockney nieder und presste mit Daumen und Zeigefinger von hinten die Kinnladen des Mannes unterhalb der Ohren zusammen. Die Kiefer öffneten sich widerstrebend, und Wolf Larsen war frei.
»Wie gesagt«, fuhr er fort, als ob nichts Besonderes geschehen sei: »Der Hai war nicht mit in der Rechnung. Es war – hm – sagen wir, göttliche Vorsehung.« Sie gab kein Zeichen, dass sie ihn gehört hatte, aber die Angst in ihren Augen wich unaussprechlichem Ekel, und sie wandte sich, um zu gehen. Sie hatte indessen kaum einen Schritt getan, als sie wankte und die Hand schwach nach mir ausstreckte. Ich fing sie gerade noch rechtzeitig auf und half ihr, sich auf die Kajütstreppe zu setzen. Ich glaubte, sie würde sofort in Ohnmacht fallen, aber sie beherrschte sich.
»Herr van Weyden, wollen Sie eine Aderpresse holen«, rief Wolf Larsen mir zu.
Ich zögerte. Ihre Lippen bewegten sich, und obgleich sie kein Wort hervorbrachte, bat sie mich mit den Augen so deutlich wie mit Worten, dem Unglücklichen zu helfen. Mit Anstrengung flüsterte sie »bitte!«, und mir blieb nichts übrig, als zu gehorchen.
Ich hatte allmählich solche Geschicklichkeit als Chirurg erlangt, dass Wolf Larsen mir nach kurzer Beratung die Behandlung überlassen konnte, wobei mir ein paar Matrosen halfen. Für seinen Teil wählte er sich die Rache an dem Hai. Ein schwerer Wirbelhaken, an dem als Köder ein Stück Pökelfleisch hing, wurde über Bord geworfen, und als ich gerade damit fertig war, die gefährdeten Venen und Arterien zusammenzupressen, holten die Matrosen singend das Ungeheuer ein. Ich sah es nicht selbst, aber meine Assistenten verließen mich abwechselnd, um mitschiffs zu laufen und zu sehen, was vorging. Der 16 Fuß lange Hai wurde in die Haupttakelung geheißt. Sein Rachen war weit aufgerissen, und jetzt wurde eine an beiden Seiten zugespitzte Eisenstange hineingestellt, sodass sie sich in die Kiefer, wenn sie sich schließen wollten, einbohren und sie festhalten musste. Als dies vollbracht war, wurde der Haken herausgeschnitten. Der Hai sank ins Meer zurück, hilflos und doch im Besitz seiner vollen Kraft, zu langsamem Hungertode verurteilt, den weniger er verdiente als der Mann, der ihm diese Strafe zuerteilte.
Als ich sie auf mich zukommen sah, wusste ich, was sie wollte. Ich hatte sie zehn Minuten lang ernst mit dem Maschinisten sprechen sehen, und jetzt zog ich sie außer Hörweite des Rudergastes, indem ich ihr ein Zeichen machte, zu schweigen. Ihr Antlitz war blass und entschlossen, ihre großen Augen, die die Entschlossenheit noch größer machte, sahen fest in die meinen. Mir war nicht sehr wohl zumute, denn sie kam, um meine Seele zu erforschen, und ich besaß, seit ich auf die ›Ghost‹ gekommen war, nichts mehr, auf das ich besonders stolz hätte sein können. Wir gingen zum Rande der Achterhütte, wo sie sich umwandte und mir ins Gesicht blickte. Ich sah mich um, um mich zu vergewissern, dass niemand in Hörweite war.
»Was gibt es?« fragte ich sanft, aber der entschlossene Ausdruck wich nicht von ihrem Gesicht.
»Ich kann begreifen, dass das, was heute Morgen geschah, in der Hauptsache ein Unglücksfall war, aber ich habe mit Herrn Haskins gesprochen, und er erzählt mir, dass an dem Tage, als wir gerettet wurden, während ich in der Kajüte war, zwei Menschen ertränkt, mit Vorbedacht ertränkt – ermordet wurden.«
In ihrer Stimme lag eine Frage, und sie sah mich anklagend an, als ob ich schuldig oder doch wenigstens mitschuldig an der Tat wäre.
»Das ist ganz richtig«, antwortete ich. »Die beiden Männer wurden ermordet.«
»Und das haben Sie zugelassen?« rief sie.
»Ich war nicht imstande, es zu verhindern, so muss es wohl heißen«, entgegnete ich, immer noch sanft.
»Aber haben Sie wenigstens den Versuch gemacht, es zu verhindern?« Sie legte den Ton auf das Wort ›Versuch‹, und ein flehender Klang war in ihrer Stimme. »Ach, Sie haben es nicht getan«, fuhr sie fort, da sie meine Antwort erriet … »Aber warum nicht?«
Ich zuckte die Achseln. »Sie dürfen nicht vergessen, Fräulein Brewster, dass Sie ein neuer Bewohner dieser kleinen Welt sind und noch nicht die Gesetze, die hier herrschen, verstehen. Sie haben gewiss edle Begriffe von Menschlichkeit, Männlichkeit, Benehmen und ähnlichem mitgebracht, aber Sie werden bald erkennen, dass das alles hier keine Geltung hat. Mir ging es ebenso«, fügte ich, unwillkürlich seufzend, hinzu. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
»Was würden Sie mir denn raten?« fragte ich. »Soll ich ein Messer, ein Gewehr oder eine Axt nehmen und diesen Mann töten?«
Sie wich zurück. »Nein, das nicht!«
»Was sollte ich sonst tun? Mich selbst töten?«
»Sie betrachten die Dinge von einem rein materiellen Standpunkt«, hielt sie mir entgegen. »Es gibt einen sittlichen Mut, und ein solcher sittlicher Mut ist nie wirkungslos.«
»Ach«, lächelte ich, »ich soll weder ihn noch mich töten, sondern mich von ihm töten lassen.« Sie wollte sprechen, aber ich hob die Hand. »Sittlicher Mut ist etwas ganz Wertloses auf dieser schwimmenden kleinen Welt. Leach, der eine der beiden Ermordeten, besaß sittlichen Mut in außergewöhnlich hohem Maße. Ebenso der andere, Johnson. Er hat ihnen nicht nur nichts genützt, er hat sie sogar vernichtet. Und so würde es mir auch geschehen, wenn ich das bisschen sittlichen Mut, das ich besitze, gebrauchen wollte.
Sie müssen verstehen, Fräulein Brewster, völlig verstehen, dass dieser Mann ein Ungeheuer ist. Er besitzt kein Gewissen. Nichts ist ihm heilig, nichts ist so furchtbar, dass er es nicht täte. Eine Laune von ihm hielt mich an Bord zurück. Eine Laune von ihm hat mich am Leben gelassen. Ich tue nichts, kann nichts tun, denn ich bin der Sklave dieses Ungeheuers, wie Sie jetzt seine Sklavin sind, weil ich leben möchte, wie Sie leben möchten, weil ich nicht kämpfen und ihn überwältigen kann, gerade wie Sie nicht imstande wären, ihn zu bekämpfen und zu überwältigen.«
Sie schwieg, wartete offenbar, dass ich fortfahren sollte.
»Was soll ich noch sagen? Mir ist die Rolle des Schwachen zugeteilt. Ich schweige und erdulde die Schmach, wie auch Sie schweigen und dulden werden. Das ist das Beste, was wir tun können, wenn wir am Leben bleiben wollen. Der Kampf entscheidet sich nicht stets für den Starken. Wir haben nicht die Kraft, mit diesem Manne zu kämpfen. Wir müssen heucheln, und wenn wir gewinnen, tun wir es durch Verschlagenheit Wenn Sie sich von mir raten lassen wollen, so richten Sie sich hiernach. Ich weiß, dass meine Lage gefährlich ist, und die Ihre, das kann ich offen sagen, noch gefährlicher. Wir müssen zusammenhalten, müssen ein geheimes Bündnis schließen, ohne dass jemand es merkt. Mir wird es nicht möglich sein, offen Ihre Partei zu ergreifen, und was Unwürdiges mir auch immer auferlegt wird: Sie müssen schweigen. Wir dürfen es nicht auf einen Streit mit diesem Manne ankommen lassen, und wir dürfen seinen Willen nicht durchkreuzen. Wir müssen lächeln und freundlich zu ihm sein, so widerwärtig es uns auch sein mag.«
Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und sagte verwirrt: »Es ist mir immer noch unverständlich.«
»Sie müssen tun, wie ich sage«, unterbrach ich sie gebieterisch, denn ich sah, wie Wolf Larsens Blick uns traf, während er mit Latimer mittschiffs auf und ab wanderte. »Tun Sie, wie ich sage, und Sie werden bald sehen, dass ich recht habe.«
»Was soll ich denn tun?« fragte sie, als sie den ängstlichen Blick bemerkte, den ich auf den Gegenstand unserer Unterhaltung warf, und – so schmeichle ich mir – durchdrungen von dem Ernst meiner Worte. »Lassen Sie alle Ihre Begriffe von sittlichem Mut fahren«, sagte ich rasch. »Reizen Sie nicht den Unwillen dieses Mannes. Seien Sie ganz freundlich zu ihm, sprechen Sie mit ihm, streiten Sie sich mit ihm über Literatur und Kunst – er liebt diese Dinge. Sie werden in ihm einen aufmerksamen, verständnisvollen Zuhörer finden. Und um Ihrer selbst willen vermeiden Sie es, soweit möglich, Zeuge der Brutalitäten zu sein, die auf diesem Schiffe geschehen. Das wird es Ihnen erleichtern, Ihre Rolle zu spielen.«
»Ich soll also lügen«, sagte sie fest und mit Empörung in der Stimme. »Lügen in Wort und Tat.«
Wolf Larsen hatte Latimer stehen lassen und kam auf uns zu. Ich erschrak tief.
»Bitte, bitte, missverstehen Sie mich nicht«, sagte ich rasch, indem ich die Stimme senkte. »Alle Ihre Menschenkenntnis, alle Ihre Erfahrungen sind hier wertlos. Sie müssen ganz umlernen. Ich weiß – ich kann es sehen: Sie haben in anderen Verhältnissen gelebt, sind gewohnt, Menschen mit Ihren Augen zu beherrschen, durch sie gewissermaßen Ihren sittlichen Mut sprechen zu lassen. Sie haben mich bereits mit Ihren Augen beherrscht, mit ihnen über mich geboten. Aber versuchen Sie es nicht mit Wolf Larsen. Ebenso leicht könnten Sie einen Löwen beherrschen, und er würde sich nur über Sie lustig machen. Er würde – ich bin immer stolz darauf gewesen, dass ich ihn entdeckt habe«, sagte ich, indem ich den Gesprächsstoff wechselte, da Wolf Larsen in diesem Augenblick zu uns auf die Achterhütte trat. »Die Redakteure fürchteten ihn, und die Verleger wollten nichts mit ihm zu schaffen haben. Aber ich hatte ihn erkannt, und sein Genie und meine Urteilskraft wurden gerechtfertigt, als er den fabelhaften Erfolg mit seiner ›Schmiede‹ hatte.«
»Und dabei war es ein Zeitungsgedicht«, sagte sie, ebenfalls im Unterhaltungston.
»Es erschien zufällig in einer Zeitung«, erwiderte ich, »aber es hatte schon manchem Zeitschriftenredakteur vorgelegen.
Wir sprechen von Harris«, sagte ich zu Wolf Larsen. »Ach ja«, stimmte er zu. »Ich entsinne mich gut der ›Schmiede‹. Eine Fülle schöner Gefühle und ein allmächtiger Glaube an menschliche Illusionen. Aber Herr van Weyden, Sie sollten sich lieber nach Köchlein umsehen. Er klagt und ist unruhig.«
So wurde ich auf recht derbe Weise von der Achterhütte weggeschickt, und nur, um Mugridge in tiefem Schlummer zu finden nach dem Morphium, das ich ihm gegeben hatte. Ich beeilte mich nicht, wieder an Deck zu kommen, als ich es aber schließlich tat, sah ich zu meiner Freude Fräulein Brewster in angeregter Unterhaltung mit Wolf Larsen. Wie gesagt, freute ich mich über diesen Anblick. Sie befolgte also meinen Rat. Und doch durchzuckte mich ein leichter Schmerz, als ich sah, dass sie tat, um was ich sie gebeten, und was sie vorhin mit Abscheu von sich gewiesen hatte.