»Kennst du ihn?« fragte Billy sie.
Sie nickte nur, obwohl sie gern tausend Anklagen gegen diesen Mann hinausgeschrien hätte, der sie so hartnäckig verfolgte. Billy wandte sich jetzt zu dem Schmied.
»Hör, Genosse, du willst dich doch nicht mit mir schlagen. Warum auch? Das Mädel hat wohl selbst auch noch ein Wörtchen dabei mitzureden.«
»Nein. Das geht nur uns beide an!«
Billy schüttelte besonnen den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Ich denke, dass sie auch ein Wörtchen dabei mitzureden hat.«
»Schön, dann sag’ es«, knurrte Long, zu Saxon gewandt. »Mit wem willst du dich zusammentun? Mit mir oder ihm? Entscheide es.«
Statt zu antworten, legte Saxon ihre freie Hand auf die, die auf Billys Arm ruhte.
»Ja, dann ist die Sache wohl erledigt«, meinte Billy.
Long starrte zuerst Saxon, dann ihren Beschützer an.
»Ich hätte schon Lust, die Sache gelegentlich mit dir auszutragen«, knurrte er zwischen den Zähnen.
Sie wandten sich zum Gehen, und Saxon war stolz. Sie hatte nicht das Schicksal Lily Sandersons erlitten. Dieser herrliche Mann, der dabei ein Junge war, hatte, ohne auch nur mit Schlägen zu drohen, den großen Schmied mit seiner Besonnenheit und Unerschütterlichkeit besiegt.
»Er hat sich mir überall aufgedrängt«, flüsterte sie Billy zu. »Er hat sich vorgenommen, mich mürbe zu machen, und hat allen, die mir nur in die Nähe kamen, die Köpfe zerschlagen. Ich möchte ihn nie wiedersehen.«
Billy blieb sofort stehen. Long, der sich noch nicht recht entschließen konnte zu gehen, stand auch still.
»Sie sagt, dass sie nichts mehr mit dir zu tun haben will. Und was sie sagt, das gilt. Wenn ich je höre, dass du sie auch nur mit einem Mucks genierst, dann kannst du was erleben. Verstanden?«
Long warf ihm einen wütenden Blick zu, sagte aber nichts.
»Verstanden?« wiederholte Billy gebieterisch.
Der Schmied ließ ein bestätigendes Knurren hören.
»Schön. Dann vergiss es auch nicht. Und jetzt mach, dass du wegkommst, sonst trete ich dich auf die Füße.«
Long trottete unter unartikulierten Drohungen ab, und Saxon ging wie in einem Traum weiter. Charley Long hatte klein beigegeben. Er hatte Angst vor diesem blauäugigen, glatthäutigen Jungen. Der hatte sie von ihm befreit – hatte getan, was kein anderer Mann für sie versucht hatte. Und sie gefiel Billy besser als Lily Sanderson.
Zweimal machte Saxon einen Versuch, Billy die Einzelheiten ihrer Bekanntschaft mit Long zu erzählen, aber beide Male unterbrach er sie.
»Ich pfeife darauf«, sagte Billy das zweitemal. »Du bist ja hier, nicht wahr?« Aber sie beharrte bei ihrer Absicht, und als sie endlich erregt und erbittert über ihre eigene Geschichte schloss, streichelte er ihr tröstend die Hand.
»Lass es gut sein, Saxon«, sagte er. »Er ist ein richtiger Strolch. Ich habe ihn gleich, als ich ihn sah, richtig eingeschätzt. Aber er wird dich nicht mehr belästigen. Ich kenne die Sorte. Die bellt nur. Aber sich schlagen! Er könnte sich nicht einmal mit einem Milchwagen schlagen.«
»Aber wie machst du es nur?« fragte sie, und ihr Atem ging schneller. »Warum fürchten dich alle Männer? Das ist direkt wunderbar.«
Er lächelte mit leichter Verlegenheit und kam auf etwas anderes zu sprechen.
»Weißt du«, sagte er, »deine Zähne gefallen mir so gut. Sie sind so weiß und gleichmäßig und nicht groß. Aber du hast auch nicht solche winzigen Kinderzähne. Sie sind – sie sind ganz wie sie sein sollen, und sie passen großartig zu dir. Sie sind zum Fressen.«
Gegen Mitternacht brachen Billy und Saxon auf und verabschiedeten sich von Bert und Mary, den beiden Unermüdlichen, die nie genug tanzen konnten. Billy hatte vorgeschlagen, so früh zu gehen, und es drängte ihn, ihr den Grund zu erklären.
»Das habe ich von den Boxern gelernt«, sagte er. »Auf mich zu achten. Man kann nicht den ganzen Tag arbeiten und die ganze Nacht arbeiten und dabei in Form bleiben. Das ist dasselbe, wie wenn man trinkt. Nicht, dass ich ein Engel bin. Ich bin so betrunken gewesen wie nur einer, und ich liebe Bier – massenhaft. Aber ich trinke nicht so viel, wie ich gern möchte. Ich habe es versucht, aber es lohnt sich nicht. Nimm zum Beispiel den großen Strolch, der heute mit uns anbändelte. Er ist ein Hund durch und durch, aber er hat Bierblut. Darüber war ich mir klar, sobald er uns anrempelte.«
»Aber er ist so groß«, protestierte Saxon. »Ach, seine Hände sind sicher doppelt so groß wie deine.«
»Das hat nichts zu sagen. Es kommt lediglich darauf an, was hinter den Fäusten steckt. Er würde wie ein wütender Stier drauflosgehen. Vielleicht könnte ich ihn nicht gleich zu Boden schlagen. Aber ich brauchte ihn mir nur vom Leibe zu halten, ihn zu ermüden und abzuwarten. Auf einmal würde er explodieren – in Stücke gehen, verstehst du. Und dann hätte ich ihn, wo ich wollte, und das weiß er selber gut. Das ist das Geheimnis.«
»Du bist der einzige Boxer, den ich je gekannt habe«, sagte Saxon nach einer Pause.
»Ich bin es nicht mehr«, wandte er schnell ein. »Es lohnt sich nicht. Man trainiert, bis man so fein wie Seide ist – bis man die reine Seide ist, in Haut und allem, und man glaubt, hundert Jahre leben zu können. Und dann geht man eines schönen Tages mit irgendeinem zähen Kerl in den Ring, der ebenso gut ist wie man selber – zwanzig Runden – und in diesen zwanzig Runden setzt man all seine Seide zu und wirft ein Jahr seines Lebens weg. Ja, manchmal setzt man fünf Jahre seines Lebens oder die Hälfte zu, oder verbraucht alles auf einmal. Ich habe meine Augen gebraucht, ich habe Burschen, so stark wie Stiere, sterben sehen, ehe ein Jahr um war, an Schwindsucht oder Nierenkrankheit oder dergleichen. Welche Freude hat man davon? Geld kann nicht ersetzen, was man verliert. Sieh, das ist der Grund, dass ich das Boxen aufgab und mich entschloss, Kutscher zu bleiben. Ich habe meine Seide und gedenke, sie zu behalten, das ist alles.«
»Es muss ein stolzes Gefühl sein, zu wissen, dass man den anderen Männern überlegen ist«, sagte sie sanft und war selbst stolz auf seine Kraft und Tüchtigkeit.
»Das ist es«, gab er freimütig zu. »Ich freue mich, dass ich damit anfing, ebenso wie ich mich jetzt freue, dass ich’s wieder aufgab. Ja, ja, ich habe allerlei dabei gelernt – die Augen offen und den Kopf klar zu halten. Das Boxen lehrte mich, Dampf zu sparen und nichts zu tun, was ich hinterher bereute.«
»Ach, du bist der nettste und friedlichste Mann, den ich je gekannt habe«, warf sie ein.
»Glaub das nicht. Pass nur auf, und du wirst sehen, gelegentlich überwältigt mich das Böse, dass ich nicht weiß, was ich tue. Ach, wenn ich erst losgelassen bin, bin ich schlimmer als der schlimmste Teufel.«
Dieses stillschweigende Versprechen, ihre Bekanntschaft fortzusetzen, ließ Saxons ganze Gestalt von Freude erschauern.
»Sag«, meinte er, als sie in die Nähe ihrer Wohnung kamen. »Was machst du Sonntag?«
»Nichts. Ich habe mir noch nichts vorgenommen.«
»Schön, was meinst du dazu, mit mir eine Wagenfahrt in die Berge zu machen?«
Sie antwortete nicht gleich, denn einen Augenblick lang hatte sie eine Vision, wie einen Alpdruck, sie sah ihre letzte Ausfahrt, ihren Schrecken, ihren Sprung aus dem Wagen und den meilenweiten Heimweg, in der Dunkelheit stolpernd in ihren dünnsohligen Schuhen, die die Steine fast bei jedem Schritt durchschnitten. Aber dann ging es wie eine Freudenwoge durch ihre Seele bei dem Gedanken, dass dieser Mann neben ihr nicht so war.
»Ich liebe Pferde«, sagte sie. »Ich liebe sie fast mehr als Tanzen, aber ich verstehe nichts von ihnen. Mein Vater hatte einen großen Rotschimmel als Streitross. Er war Rittmeister, weißt du. Ich habe ihn nie gesehen, aber mir scheint immer, ich müsste ihn auf dem großen Pferde sehen, eine Schärpe um den Leib und einen Säbel an der Seite. Mein Bruder George hat den Säbel, aber Tom – das ist der Bruder, bei dem ich wohne – Tom sagt, dass er mir gehört, weil es nicht sein Vater war. Siehst du, sie sind nur meine Halbbrüder. Ich bin das einzige Kind aus der zweiten Ehe meiner Mutter. Es war ihre richtige Ehe – ihre Liebesehe, meine ich.«
Saxon hielt plötzlich inne, verlegen über ihre eigene Redseligkeit; und doch war es so verlockend, diesem jungen Mann von sich zu erzählen, denn all diese fernen Erinnerungen waren ja ein so großer Teil von ihr selber.
»Erzähl mir mehr davon«, ermunterte Billy sie. »Ich höre so gern von alten Tagen. Meine Familie hat auch alles mitgemacht, und ich habe beinahe das Gefühl, dass es eine bessere Welt war als die, in der wir jetzt leben. Alles war einfacher und natürlicher, ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll. Aber ich meine ungefähr so: Ich verstehe das Leben heute nicht, alle diese Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände und Streiks und die schweren Zeiten und die Jagd nach Arbeit. Alles das. So war es früher nicht. Da waren sie alle Bauern, schossen selbst ihr Wild, hatten genug zu essen und sorgten gut für die Alten. Aber jetzt ist es ein Durcheinander, das ich nicht verstehe. Vielleicht bin ich nur dumm, ja, was weiß ich? Aber das ist auch einerlei – lass mich mehr von deiner Mutter hören.«
»Ja, siehst du, als sie noch ganz jung war, gewannen sie und Kapitän Brown sich lieb. Er war damals Soldat. Es war vor dem Krieg. Und er wurde gleich nach Osten in den Krieg kommandiert, während sie für ihre Schwester Laura sorgen musste. Und dann kam die Nachricht, dass er bei Shiloh gefallen war. Und sie heiratete einen Mann, der sie seit vielen, vielen Jahren liebte. Er war als Knabe in demselben Wagenzug wie sie über die Prärie gezogen. Sie hatte ihn gern, liebte ihn aber nicht. Und später erfuhr sie dann, dass mein Vater gar nicht gefallen war. Das machte sie sehr schwermütig, vernichtete aber nicht ihr Leben. Sie war eine gute Mutter und eine gute Gattin, aber sie war immer schwermütig, sanft und freundlich, und ich glaube, ihre Stimme war die schönste von der Welt.«
»Ja, sie muss prachtvoll gewesen sein«, gab Billy zu.
»Und mein Vater heiratete nie. Er liebte sie immer noch. Ich habe zu Hause ein herrliches Liebesgedicht, das er ihr gemacht hat. Es ist geradezu wundervoll, und es klingt wie Musik. Nun und dann, nach langer Zeit, starb ihr Mann, und da gingen sie und mein Vater ihre Liebesehe ein. Sie heiratete erst 1882, und da war sie nicht mehr jung.«
Sie erzählte ihm noch mehr, während sie an der Pforte standen, und nachher versuchte sie sich einzureden, dass der Gutenachtkuss ein ganz klein wenig länger gedauert hätte als sonst.
»Sagen wir also um neun?« fragte er über die Pforte hinweg. »Kümmere dich nicht um Frühstück und dergleichen. Dafür sorge ich schon. Sei nur um neun Uhr bereit.«
*
Am Sonntagmorgen war Saxon viel zu früh fertig, und als sie zum zweiten Mal aus dem Fenster gesehen hatte und wieder in die Küche trat, begann Sarah einen ihrer üblichen Angriffe.
»Es ist ein Skandal, dass gewisse Leute sich immer seidene Strümpfe leisten können«, begann sie. »Sieh mich an, ich schinde mich den ganzen Tag und bekomme nie seidene Strümpfe – oder Schuhe, gleich drei Paar auf einmal. Aber es gibt einen Gott im Himmel, und gewisse Leute werden noch mächtige Überraschungen erleben, wenn am Jüngsten Tage jeder kriegt, was ihm zukommt.« Saxon machte sich daran, einem der kleinen Mädchen ein rotes Seidenband ins Haar zu flechten. Sarah rumorte in der Küche herum, wusch auf und räumte den Frühstückstisch ab. Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich von der Aufwäsche um und blickte Saxon zornig und kampfbereit an.
»Du sagst nichts – was? Und warum sagst du nichts? Weil du noch ein bisschen Scham im Leibe hast – he – mit einem Boxer zu laufen. O ja, ich habe schon gehört, was du und Bill Roberts machen. Ein schöner Kerl ist er. Aber wart nur, sage ich dir. Wart nur, bis Charley Long ihn erwischt.«
»Na, ich weiß nicht«, legte Tom sich dazwischen. »Bill Roberts ist, soviel ich weiß, ein braver Kerl.«
Saxon lächelte, und Sarah, die ihr Lächeln bemerkte, wurde zornig.
»Warum nimmst du Charley Long nicht? Er ist verrückt nach dir, und er ist ein netter, nüchterner Mann.«
»Ach, er trinkt wohl das Bier, das er haben will – und noch etwas dazu«, antwortete Saxon.
»Das tut er«, ergänzte ihr Bruder, »und ich weiß bestimmt, dass er immer ein Fass zu Hause liegen hat.«
»Dann hast du wohl geholfen, es auszutrinken«, fauchte Sarah.
»Vielleicht«, sagte Tom und wischte sich den Mund mit dem Handrücken.
»Aber er kann es sich wohl auch leisten, zu Hause ein Fass liegen zu haben, wenn er Lust dazu hat.« Hiermit wappnete Sarah sich zu einem neuen Angriff, der diesmal ebensosehr gegen ihren Mann gerichtet war. »Er bezahlt seine Rechnungen und verdient viel Geld – mehr als gewisse andere.«
»Ja, und er braucht nicht für Frau und Kinder zu sorgen«, sagte Tom.
»Und hat auch nicht die ewigen Abgaben an die Gewerkschaften zu zahlen, von denen man doch nichts hat.«
»Nun ja«, meinte Tom gutmütig. »Er würde verflucht wenig in seiner Werkstatt und in allen anderen Werkstätten zu tun haben, wenn er sich nicht gut mit den Schmieden stellte. Du verstehst dich nicht auf Arbeiterverhältnisse, Sarah. Die Gewerkschaften müssen erhalten werden, wenn die Arbeiter nicht vor Hunger krepieren sollen.«
»Ja – selbstverständlich«, schnüffelte Sarah. »Ich verstehe nichts, nein. Ich bin ein Idiot. Sag das nur, dass die Kinder es hören.« Sie wandte sich wütend zu dem Ältesten, der erschrocken die Flucht ergriff. »Willie, deine Mutter ist verrückt. Verstehst du? Dein Vater sagt, dass ich verrückt bin – sagt es mir und euch mit reinen Worten gerade ins Gesicht.«
Der Knabe begann, von dumpfer Angst vor irgendeiner unbestimmten und unberechenbaren Katastrophe ergriffen, lautlos, mit hängender, zitternder Unterlippe zu weinen. Saxon verlor für einen Augenblick ihre Selbstbeherrschung.
»Du lieber Gott, können wir denn nicht fünf Minuten zusammen sein, ohne uns zu streiten?«
Sarah wandte sich zur Schwägerin.
»Wer streitet sich? Darf ich nicht den Mund öffnen, ohne dass ihr gleich über mich herfallt?«
Saxon zuckte resigniert die Achseln. Und Sarah wandte sich wieder zu ihrem Mann.
»Wenn du deine Schwester so viel lieber hast als mich, warum hast du mich dann geheiratet – mich, die dir Kinder geboren und sich deinetwegen bis aufs Blut abgerackert hat ohne Dank? Aber mich beleidigen in Gegenwart der Kinder, das kannst du, und sagen, dass ich verrückt bin, während sie zuhören, und was hast du je für mich getan – das möchte ich gern wissen? Wo ich dir dein Essen gekocht und dein dreckiges Zeug gewaschen und deine Strümpfe gestopft und nachts bei deinen Gören gesessen habe, wenn sie krank waren? Hier! Willst du sehen!«
Und es erschien ein unförmiger, geschwollener Fuß in einem mächtigen, ungeputzten Schuh, dessen trockenes Leder voller Risse und Beulen war.
»Willst du sehen! Ich sage nur, willst du sehen!«
Die Stimme versagte ihr, und plötzlich ließ sie sich auf einen Stuhl am Tisch fallen, wo sie, ein Bild unsagbaren Jammers, vor sich hinstarrte. Dann stand sie, steif wie ein Stock, auf, goss sich mit den stoßweisen Bewegungen eines Automaten eine Tasse kalten Kaffees ein und setzte sich ebenso automatisch wieder. Als wäre ihr der Kaffee zu heiß, goss sie die fettige, unbestimmbare Flüssigkeit in die Untertasse und starrte dann wieder vor sich hin, während ihre Brust sich in kurzen, mechanischen Stößen hob und senkte.
»Na na, Sarah, nur ruhig«, sagte Tom furchtsam.
Langsam und mit einer Überlegung, als hinge die Wohlfahrt von ganzen Völkern davon ab, mit welcher Sicherheit sie es täte, setzte sie die Untertasse umgekehrt auf den Tisch. Langsam hob sie die Hand und ließ sie in einem breiten Bogen auf der Backe des verblüfften Tom mit lautem Klatschen landen. Und fast im selben Augenblick erhob sie ihre Stimme, stieß gellende, heisere, monotone Schreie in wildester Hysterie aus und setzte sich dann plötzlich auf den Fußboden, wo sie, hin- und herwankend, in einem Abgrund von Kummer und Jammer sitzen blieb.
Das leise Weinen Willies wurde laut, und die beiden kleinen Mädchen mit den neuen Bändern im Haar stimmten ein. Toms Gesicht war blass und erschrocken, wenn auch die übel mitgenommene Backe noch flammend rot war, und Saxon wäre am liebsten zu ihm hingetreten, hätte ihm den Arm um den Hals gelegt und ihn getröstet. Aber sie wagte es nicht. Er beugte sich über seine Frau.
»Sarah, du bist nicht wohl. Darf ich dich ins Bett legen? Dann werde ich schon für alles sorgen.«
»Rühr mich nicht an! Rühr mich nicht an!« kreischte sie wie besessen.
»Nimm die Kinder mit auf den Hof hinaus, Tom, mach einen Spaziergang mit ihnen oder was du willst – schaff sie nur fort!« sagte Saxon. Sie war ganz krank und blass und zitterte am ganzen Körper. »Geh jetzt, hörst du. Da ist dein Hut. Ich werde mich ihrer schon annehmen.«
Sobald Saxon allein war, machte sie sich mit rasendem Eifer an die Arbeit, wobei sie mit Rücksicht auf die schreiende Tollhäuslerin auf dem Boden eine Ruhe vortäuschte, die sie keineswegs besaß. Das schreckliche war, dass der Lärm wie ein Zugwind durch das dünne Holzhaus ging; Saxon wusste, dass man es nebenan, ja, auf der Straße und in den Häusern auf der anderen Seite der Straße hören konnte. Sie fürchtete nur; dass Billy unterdessen käme. Außerdem war sie empört und verletzt. Jede Fiber in ihr ekelte sich, sodass ihr fast übel wurde, und dennoch bewahrte sie ihre Selbstbeherrschung und strich Sarah leise und beruhigend über Stirn und Haar. Und wie sie, die Arme um die Schwägerin geschlungen, dasaß, glückte es ihr bald, das grässliche, schrille, unaufhörliche Schreien zu beschwichtigen. Wenige Minuten später lag Sarah laut schluchzend in ihrem Bett. Über ihrer Stirn und ihren Augen lag ein nasses Handtuch – gegen die Kopfschmerzen, die sie und Saxon stillschweigend als eine hübschere Bezeichnung für den hysterischen Anfall gelten ließen.
Als man kurz darauf Pferdehufe auf der Straße hörte, war Saxon so weit, dass sie sich an die Haustür schleichen und Bill zuwinken konnte. In der Küche fand sie Tom, der entmutigt und besorgt wartete.
»Es ist vorüber«, sagte sie. »Billy Roberts ist da, und ich muss gehen. Bleib ein bisschen bei ihr sitzen, dann schläft sie vielleicht ein. Aber reize sie nicht. Lass sie sagen, was sie will. Versuch es jedenfalls. Aber vor allem musst du als Einleitung und wie das Natürlichste von der Welt das Handtuch, das über ihren Augen liegt, nehmen und in Wasser tauchen.«
Er war ein freundlicher, umgänglicher Mann, aber wie so vielen aus dem Westen wurde es ihm nicht leicht, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Er nickte, wandte sich zur Tür und blieb dann unentschlossen stehen. Der Blick, den er Saxon sandte, erinnerte fast an den eines Hundes. So rührend dankbar war er, aber gleichzeitig tief brüderlich in seiner Liebe. Sie fühlte es, und ihr Herz flog ihm sofort entgegen.
»Es ist ja gut – es ist ja alles gut«, sagte sie schnell.
Tom schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist es nicht. Es ist eine Schande, eine verfluchte Schande!« Er zuckte die Achseln. »Ach, meinetwegen ist es mir gleich. Aber deinetwegen. Du hast das Leben vor dir, Schwesterchen. Du wirst noch früh genug alt. Aber das ist eine ekelhafte Art, einen Feiertag zu beginnen. Jetzt mach, dass du es vergisst, fahr mit deinem Freund aus und amüsiere dich gut.«
In der offenen Tür blieb er noch einmal, die Hand auf der Klinke, stehen, und sein Gesicht zuckte. »Zum Teufel! Es gab eine Zeit, da auch Sarah und ich zusammen ausfuhren. Und ich glaube fast, dass sie damals auch ihre drei Paar Schuhe hatte. Verstehst du das?«
In ihrer Kammer machte Saxon sich schnell fertig und stieg auf einen Stuhl, sodass sie in dem kleinen Wandspiegel einen letzten kritischen Überblick über den Sitz ihres fertig gekauften Leinenrockes bekommen konnte. Sowohl ihn wie die Jacke hatte sie selbst passend gemacht, sie hatte die Nähte mit doppelten Stichen umgenäht, um dem Kleid das gewünschte Tailormade-Gepräge zu geben. Was sie sah, gefiel ihr. Sie unterschätzte keineswegs die schlanken Fesseln über dem Ausschnitt des braunen Schuhs, ebensowenig die feine und doch kräftige Rundung der Wade, die in den neuen hellbraunen Florstrümpfen so schön zum Ausdruck kam. Dann sprang sie wieder auf den Fußboden, rieb sich schnell die Backen, um ihnen die Farbe wiederzugeben, die Sarah daraus vertrieben hatte, und brauchte dann noch einen Augenblick, um sich ihre braunen Zwirnhandschuhe anzuziehen.
Sie eilte durch das Wohnzimmer und an Sarahs Tür vorbei, aus der tiefe Seufzer und gedämpftes Schluchzen durch die Holzwand an ihr Ohr drangen, aber sie nahm sich zusammen und es glückte ihr, die Farbe in ihren Wangen und den Glanz in ihren Augen zu bewahren. Und Billy ahnte nicht, dass das strahlend frische junge Geschöpf, welches so leichtfüßig die Treppe herabtrippelte, soeben von einem aufreibenden Kampf mit Wahnsinn und Hysterie kam.
In dem hellen Sonnenschein machte Billys Blondheit einen fast verblüffenden Eindruck auf sie. Seine Wangen, die so rund wie die eines Mädchens waren, hatten eine leichte Röte angenommen. Es waren mehr Wolken in den blauen Augen als je, und das krause, weißliche Haar hatte einen stärkeren Anstrich von dem blassgoldenen Ton, den sie zuvor bemerkt hatte. Noch nie hatte sie ihn so strahlend jung gesehen. Als er sie mit einem ruhigen Lächeln begrüßte, das von weißen Zähnen und roten Lippen leuchtete, war ihr das wie eine Verheißung von Frieden und Ruhe. Nach dem irrsinnigen Benehmen der Schwägerin wirkte Billys Ruhe doppelt so wohltuend, und Saxon lachte im stillen bei dem Gedanken an das gefürchtete »schreckliche Temperament«, dessen er sich selbst bezichtigt hatte.
Sie war früher schon ausgefahren, aber immer im Einspänner mit einem Mietspferd, und es war eine der schmutzigen, schweren Kaleschen gewesen, die man wegen ihrer Festigkeit und Haltbarkeit zum Vermieten gebrauchte. Aber jetzt standen hier zwei feurige, am Gebiss zerrende Pferde, die mit jedem blitzenden Reflex auf ihrer seidenblanken Haut verkündeten, dass sie noch nie in ihrem jungen Leben vermietet worden waren. Zwischen ihnen befand sich eine unbegreiflich dünne Deichsel, und ihr Geschirr war so fein und zart wie Zwirnsfäden. Billy hielt die Zügel in einer Hand, schien aber die nervösen jungen Tiere durch eine Art Willensübertragung zu lenken.
Es war keine lange Zeit zum Überlegen. Mit ihrem schnellen, wissenden Frauenblick sah Saxon nicht nur die neugierigen Kinder der Straße, sondern auch die Erwachsenen, deren Gesichter in offenen Türen und Fenstern und hinter beiseitegezogenen Gardinen hervorguckten. Mit der freien Hand hob Billy das Schutzleder und half ihr auf den Sitz neben sich. Der bequem gepolsterte Ledersitz mit der hohen Rückenlehne verlieh ihr ein Gefühl unsagbaren Wohlbehagens. Aber noch größeres Wohlbehagen fühlte sie an dem Manne selbst, an seiner Nähe, seinem Körper.
»Wie gefallen sie dir?« fragte er, indem er die Zügel mit beiden Händen ergriff und die Pferde antrieb, die sich sofort mit einer Schnelligkeit, die ihr etwas ganz Neues war, in Bewegung setzten. »Sie gehören meinem Chef. Solche Tiere kann man nicht mieten. Er lässt mich zuweilen mit ihnen fahren, damit sie Bewegung bekommen. Sieh nur King, das kann man Feuer nennen, nicht wahr? Ja, der andere ist auch fein. Prince heißt er. Aber man muss ihn fest im Zügel halten. He! Hast du gesehen, Saxon? Das ist ein Pferd, nicht wahr? Ja, das ist ein Pferd!«
Hinter ihnen ertönte das bewundernde Hurrageschrei der Kinder. Mit einem zufriedenen Seufzer setzte Saxon sich zurecht, sich bewusst, dass der glückliche Tag endlich begonnen hatte.
*
»Ich verstehe nichts von Pferden«, sagte Saxon. »Ich habe nie auf einem Pferd gesessen, und bin ich einmal ausgefahren, dann immer nur mit einem Einspänner, der meistens lahmte oder dergleichen. Aber ich habe keine Angst vor Pferden. Ich liebe sie. Das ist mir angeboren, glaube ich.«
Billy warf ihr einen bewundernden Blick zu.
»Das ist es eben«, sagte er. »Das hab’ ich gern an einem Mädel – Mut! Einige von den Mädchen, mit denen ich früher zu tun hatte – nun ja, du kannst mir auf mein Wort glauben, dass sie mich wirklich krank machten. Nein, das ist nichts für mich. Nervös, bebend, schreiend und zitternd. Wenn sie mitfuhren, taten sie es eher um meinetwillen als der Pferde wegen. Da lob’ ich mir ein tüchtiges Mädel, das Pferde liebt. Du bist vom rechten Schlage, Saxon, das ist sicher. Siehst du, mit dir kann ich von der Leber weg reden. Alle anderen machen mich krank. Ich werde stumm wie ein Fisch. Sie verstehen nichts und fürchten sich andauernd, aber du verstehst mich doch, nicht wahr?«
»Das ist einem sicher angeboren«, antwortete sie. »Vielleicht kommt meine Liebe zu Pferden daher, dass ich immer an meinen Vater und seinen Rotschimmel denke. Denk dir, Billy, manchmal träumt mir, dass ich wirklich ein Pferd hätte, das mir gehörte. Und oft, oft hat mir geträumt, ich ritte auf einem Pferde oder führe mit ihm.«
»Du darfst sie gern fahren, aber warte, bis sie sich ausgetobt haben. Im Anfang gehen sie zu sehr ins Geschirr. Fass hier gerade vor meinen Händen – ja, nur fest. Merkst du was? Natürlich! Und dabei merkst du lange nicht alles. Ich wage sie nicht loszulassen, denn du bist ja nur so ein kleines Ding.«
Ihre Augen strahlten, als sie fühlte, wie die schönen starken Tiere am Zügel zerrten. Und er sah sie an und strahlte um die Wette mit ihr.
»Ich will dir etwas sagen, Saxon. Ich habe manchen guten Kampf im Ring ausgefochten und mir das Fell verprügeln lassen von einem whiskytrinkenden, tabakstinkenden Publikum, das mich anekelte. Und die Burschen, die selbst nicht einen ordentlichen Schlag aufs Kinn oder in den Magen vertragen konnten, die brüllten Hurra und heulten nach Blut. Nach Blut, verstehst du. Aber offen gestanden, ich möchte lieber für einen Menschen allein kämpfen – für dich zum Beispiel – oder für sonst jemand, aus dem ich mir etwas mache. Darauf würde ich stolz sein. Aber der elende schwachköpfige Pöbel, mit dem Mut eines Kaninchens und der Haut eines räudigen Schakals! Nein! Kannst du es mir verdenken, dass ich den dreckigen Beruf aufgab? Bei Gott, ich möchte lieber vor einem Publikum von alten, lahmen Arbeitspferden kämpfen, die gerade noch gut genug sind, um Gulasch aus ihnen zu machen, als vor der faulen Bande, die in den Adern nichts als Wasser hat.«
»Ich – ich wusste nicht, dass der Boxerberuf so ist«, stotterte sie, während sie die Zügel losließ und sich auf den Sitz neben ihm sinken ließ.
»Es ist nicht der Kampf selbst, es ist das Publikum«, erklärte er schnell. »Selbstverständlich nimmt ein junger Bursche keinen Schaden dabei, wenn er boxt und wenn ihm das Fell verprügelt wird. Aber es sind die Brüllaffen um einen her, die mich anekeln. Alle Freundlichkeiten, die sie mir sagen, ihr Lob und so weiter, das beleidigt mich. Verstehst du das nicht? Es macht mich verlegen. Denk dir – whiskysaufende Banditen, die mit keiner kranken Katze anbinden würden und nicht wert sind, einem ehrlichen Mann den Rock zu halten – – denk dir den Anblick, wenn sie heulen und Hurra schreien – für mich – für mich! –«
»Haha! Was hältst du nun von ihm? Ist er nicht ein Teufel?«
Eine große Bulldogge, die sich still und ohne den Wagen zu beachten über die Straße geschlichen hatte, war so nahe gekommen, dass Prince einen Versuch machte, sie zu packen, indem er trotz den straffen Zügeln den Kopf beugte und die Zähne fletschte.
»Er ist auch ein Kämpfer, unser lieber Prince. Und er tut es nicht, damit so ein Brüllaffe ihm zuheult. Er tut es einfach, wenn ihm etwas in die Quere kommt. So muss es sein. Das ist Natur. Aber diese Sportidioten, bei Gott, Saxon –«