Die Zwangsjacke

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Und jetzt muß ich erzählen, wie die vierzig Lebenslänglichen in die Stille meiner Zelle einbrachen. Ich schlief, als die Tür zum Korridor aufgerissen und ich dadurch geweckt wurde. »Irgendein armer Teufel«, dachte ich, und mein nächster Gedanke war, daß er sicher mehr bekam, als ihm gut tat, als ich auf die schleppenden Schritte, das dumpfe Klatschen von Schlägen auf den bloßen Körper und plötzliche Schmerzensschreie, schmutzige Flüche und das Geräusch von fortgeschleppten Körpern hörte. Jeder Mann wurde nämlich den ganzen Weg getragen oder geschleppt.

Eine Zellentür nach der andern wurde aufgerissen und ein Körper nach dem andern hineingeschoben, -geworfen oder -geschleppt. Beständig kamen neue Gruppen von Wärtern mit ausgepeitschten Gefangenen, die immer noch geprügelt wurden, und immer mehr Zellentüren öffneten sich, um die blutigen Körper von Männern aufzunehmen, die sich der Sehnsucht nach ihrer Freiheit schuldig gemacht hatten.

Ja, wenn ich daran zurückdenke – ein Mann muß ein gut Teil von einem Philosophen sein, um jahrelang Gegenstand einer so tierischen Behandlung sein zu können und es zu überleben. Ich bin ein solcher Philosoph. Ich habe ihre Peinigungen acht Jahre lang ertragen, und jetzt zuletzt, da es ihnen nicht geglückt ist, mich auf andere Art loszuwerden, lassen sie die Staatsmaschinerie einen Strick um meinen Hals legen und mir die Kehle durch das Gewicht meines eigenen Körpers zuschnüren. Oh, ich kenne schon das sachkundige Urteil, das die Sachverständigen abgegeben haben, wie der Fall durch die Falltür dem Opfer den Hals bricht. Und diese Opfer kommen ja, wie der Reisende bei Shakespeare, nie wieder, um das Gegenteil zu beweisen. Wir aber, die im Gefängnis gelebt haben, wir kennen Fälle, die verschwiegen werden – Fälle, in denen der Hals des Opfers nicht gebrochen wurde.

Es ist eine komische Sache, einen Menschen zu hängen. Ich habe nie einer Hinrichtung beigewohnt, aber ich habe von Augenzeugen Einzelheiten über ein Dutzend erfahren, so daß ich weiß, was mit mir geschehen wird. Wenn ich, an Armen und Beinen gebunden, den Knoten im Nacken und die schwarze Kapuze über dem Gesicht, auf der Falltür stehe, werden sie mich stürzen lassen, bis der Fall plötzlich durch das Straffen des Stricks unterbrochen wird. Dann scharen sich die Ärzte um mich, und einer nach dem andern wird der Reihe nach auf einen Stuhl steigen und, die Arme um mich geschlungen, damit ich nicht wie ein Pendel hin- und herschwinge, das Ohr dicht an meine Brust pressen und meine verlöschenden Herzschläge zählen; zuweilen vergehen, nachdem die Falltür sich geöffnet hat, zwanzig Minuten, ehe das Herz zu schlagen aufhört. Ja, glauben Sie mir, auf die wissenschaftlichste Methode vergewissert man sich, daß ein Mann wirklich tot ist, wenn man ihn erst am Ende eines Stricks angebracht hat.

Ich schweife immer wieder von meiner Erzählung ab, um der menschlichen Gesellschaft diese oder jene Frage zu stellen. Ich muß doch das Recht haben zu fragen, denn binnen kurzem holen sie mich heraus und tun dies mit mir. Wenn wirklich der Halswirbel des Opfers durch dieses geschickte Arrangement mit Knoten und Schlinge und durch die schlaue Berechnung vom Gewicht des Opfers und der Länge des Falles gebrochen wird, warum binden sie dann die Arme des Opfers? Die Gesellschaft kann diese Frage nicht beantworten. Aber ich weiß, warum es geschieht, und das weiß auch jeder Amateur, der dabei war, wenn ein Mann gelyncht wurde, und gesehen hat, wie das Opfer die Hände hob, den Strick faßte und dadurch die Schlinge um seinen Hals lockerte, so daß er atmen konnte.

Noch eine Frage will ich an das gutsituierte, gut konservierte Mitglied der Gesellschaft stellen, dessen Seele sich nie in die roten Höllen verirrt hat: Warum zieht man dem Opfer die schwarze Kapuze über Kopf und Gesicht, ehe man es durch die Falltür fallen läßt? Seien Sie so gut und erinnern Sie sich, daß man binnen kurzem die schwarze Kapuze über meinen Kopf ziehen wird. Ich habe also ein Recht zu fragen. Ob das, mein verdienstvoller Mitbürger, wohl daher kommt, daß Ihre Henkersknechte sich davor fürchten, das Entsetzen im Gesicht des Opfers vor dem Grauenhaften zu sehen, das sie für Sie und in Ihrem Namen betreiben?

Seien Sie so freundlich und erinnern Sie sich, daß ich diese Frage nicht im zwölften Jahrhundert nach Christus oder zur Zeit Christi oder zwölf Jahrhunderte vor Christus stelle. Ich, der im Jahre 1913 nach Christus gehängt werden soll, stelle diese Frage an Sie, die vermutlich Christen sind, an Sie, deren Henkersknechte mich hinausführen und mein Gesicht mit einer schwarzen Kapuze verhüllen, weil sie das Entsetzliche, das sie mir antun, nicht zu sehen wagen, wenn ich noch am Leben bin.

Und nun zurück zu der Situation in dem Gefängniskeller. Als der letzte Wärter ging und die Korridortür zuschlug, begannen alle die vierzig verprügelten und enttäuschten Männer zu reden und zu fragen. Aber beinah im selben Augenblick gebot Skysegel-Jack, ein riesiger Seemann, mit seiner Donnerstimme Schweigen, damit eine Zählung abgehalten werden könnte. Die Gefängniskeller waren voll, und aus Zelle auf Zelle ertönte nacheinander das Hier! der Gefangenen. Auf die Art wurde man sich darüber klar, daß die Zellen nur von Gefangenen besetzt waren, auf die man sich verlassen konnte, und daß kein Spitzel irgendwo versteckt liegen und lauschen konnte.

Nur über mich herrschte Zweifel, denn ich war der einzige, der das Komplott nicht mitgemacht hatte. Ich mußte ein genaues Examen über mich ergehen lassen. Ich konnte ihnen nur erzählen, wie ich am selben Morgen aus Einzelzelle und Zwangsjacke herausgekommen und ohne weiteres, ohne einen mir bekannten Grund, nach nur wenigen Stunden wieder hinuntergebracht war. Mein Ruf als Unverbesserlicher nützte mir hier, und bald begannen sie zu reden.

Wie ich da lag und lauschte, hörte ich zum erstenmal von dem beabsichtigten Fluchtversuch. »Wer hat uns verpfiffen?« lautete ihre einzige Frage, und die ganze Nacht wurde die Frage erörtert. Cecil Winwood fehlte, und der Verdacht richtete sich allgemein gegen ihn.

»Es ist nur eins zu machen, Jungens«, sagte Skysegel-Jack schließlich. »Es ist bald Morgen, und dann holen sie uns und machen uns die Hölle heiß. Wir sind auf frischer Tat, voll angekleidet, erwischt. Winwood hat uns zum Narren gehalten und uns verpfiffen. Sie werden uns, einen nach dem andern, vernehmen und uns vertrimmen. Wir sind vierzig. Jede Lüge wird bald herauskommen. Jeder von uns muß deshalb, wenn sie ihn verhören, alles sagen, wie es ist, ohne Umschweife – die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Gott ihm helfe!«

Und in diesem finstern, von der Unmenschlichkeit von Menschen geschaffenen Loch schwuren diese vierzig Lebenslänglichen, die Lippen gegen das eiserne Gitter gepreßt, einander ihren heiligsten Eid, nur die Wahrheit zu sagen.

Nur wenig half ihnen ihre Wahrheitsliebe. Um neun Uhr kamen die Wärter; ausgeschlafen und vollgefressen waren sie, diese Banditen, die von den satten Bürgern bezahlt sind, welche den Staat ausmachen. Wir hatten kein Frühstück bekommen, nicht einmal Wasser. Und geprügelte Männer bekommen leicht Fieber. Gott weiß, ob jemand von Ihnen, liebe Leser, auch nur ahnt, was es heißt, hier im Gefängnis geprügelt zu werden. Aber nein, ich will nicht davon reden. Lassen Sie sich damit begnügen, wenn Sie wissen, daß diese geprügelten, fiebernden Männer sieben Stunden lang ohne Wasser lagen.

Um neun Uhr kamen die Wärter. Es waren nicht viele. Das war nicht nötig, da sie immer nur einen Käfig auf einmal öffneten. Sie waren mit eisernen Haken versehen – ein praktisches Werkzeug, um einem hilflosen Mann »Disziplin beizubringen«. Aus einem Käfig nach dem andern holten sie die Gefangenen heraus und verprügelten sie. Sie waren unparteiisch. Ich erhielt dieselbe Behandlung wie die andern. Und das war nur der Anfang, das Vorspiel zu der Untersuchung, die jeder für sich allein von den bezahlten Bestien des Staates über sich ergehen lassen mußte. Es war ein Vorgeschmack dessen, was eines jeden im Untersuchungsraum wartete.

Ich bin durch die meisten roten Höllen des Gefängnislebens gegangen, aber am schlimmsten von allem, weit schlimmer als das, was sie binnen kurzem mit mir zu tun gedenken, war die Hölle der Gefängniskeller in den jetzt folgenden Tagen. Der lange Bill Hodge, der harte Gebirgsler, war der erste, der zum Verhör kam. Zwei Stunden darauf kam er wieder, oder vielmehr, sie brachten ihn wieder und warfen ihn auf den steinernen Fußboden der Zelle. Dann holten sie Luigi Polazzo, einen San Franziskoer Vagabunden, Sohn italienischer Einwanderer, und er verhöhnte sie und forderte sie auf, das Schlimmste mit ihm zu tun.

Es dauerte eine Weile, ehe Bill Hodge soweit Herr über seine Schmerzen war, daß er zusammenhängend reden konnte.

»Was ist das mit dem Dynamit?« fragte er. »Wer hat etwas von Dynamit gehört?«

Natürlich wußte keiner etwas davon, obwohl es der ewige Kehrreim des Verhörs gewesen war.

Als kaum zwei Stunden vergangen waren, kam Luigi Polazzo wieder, und er kam als ein im Fieberrausch lallendes Wrack, unfähig, die Fragen zu beantworten, die den widerhallenden Gefängniskorridor entlang auf ihn herabhagelten von Männern, die noch zugute hatten, was er bekommen hatte, und die wissen wollten, was mit ihm geschehen war und welche Fragen man an ihn gestellt hatte.

Zweimal in den nächsten achtundvierzig Stunden wurde Luigi hinaufgeholt und verhört. Danach kam er als sabbelnder Idiot nach Bughouse Alley. Er hat eine starke Konstitution. Seine Schultern sind breit, seine Brust ist hoch, sein Blut ist gesund; er wird noch lange, nachdem ich meine Luftfahrt gemacht und von den Foltern in den Strafanstalten Kaliforniens befreit bin, in Bughouse Alley sabbeln und lallen.

 

Mann auf Mann wurde geholt, immer einer auf einmal, und Menschenwracks wurden wiedergebracht, eines nach dem andern, um in der Finsternis zu toben und zu heulen.

Unterdessen wuchsen die Schrecken der Gefängniskeller nach der Entdeckung des Fluchtkomplotts. Und nicht einen Augenblick verließ mich in diesen unendlichen Wartestunden der Gedanke, daß ich all diesen andern Gefangenen folgen, dieselbe Inquisitionshölle wie sie erleben und als Wrack zurückgebracht und auf den steinernen Fußboden meiner Zelle mit den Steinwänden hinter der eisernen Tür geworfen werden sollte.

Sie kamen. Mit Knüffen und Flüchen zogen sie mich fort, und dann stand ich Angesicht zu Angesicht mit Inspektor Jamie und Direktor Atherton, von einem halben Dutzend dieser gekauften, mit Steuern bezahlten Hunden von Wächtern des Staates umgeben, die zugegen waren, um zur Hand zu sein. Aber es war nicht nötig.

»Setz dich«, sagte Direktor Atherton und zeigte auf einen bequemen Armlehnstuhl.

Ich war zerschlagen, und alle Glieder schmerzten mir, ich hatte eine ganze Nacht und einen ganzen Tag kein Wasser bekommen, war schwach vor Hunger, geschwächt durch Peitschen als Zulage zu fünf Tagen Dunkelzelle und achtzig Stunden Zwangsjacke, niedergeschlagen vom Unglück und besorgt bei dem Gedanken, was jetzt mit mir geschehen sollte nach dem, was ich mit den andern hatte geschehen hören – ich, ein armer Heimatloser, früherer Professor der Landwirtschaft in einer ruhigen Universitätsstadt, und ich zögerte, der Aufforderung zu folgen und mich zu setzen.

Direktor Atherton war ein großer, sehr kräftiger Mann. Seine Hände packten meine Schultern. Ich war wie ein Strohhalm in seiner Macht. Er hob mich hoch und schleuderte mich auf den Stuhl.

»So«, sagte er, während ich nach Atem rang und meinen Schmerz verbiß, »nun erzähle mir alles, Standing, heraus damit, wenn du dir klar darüber bist, was dir frommt.«

»Ich weiß ja gar nicht, was vorgegangen ist ...«, begann ich.

Weiter kam ich nicht. Mit einem Gebrüll und einem Sprung war er über mir. Wieder hob er mich hoch und schleuderte mich auf den Stuhl.

»Keine Ausflüchte, Standing«, warnte er mich. »Erzähle lieber alles. Wo ist das Dynamit?«

»Ich weiß nichts von Dynamit«, protestierte ich. Wieder wurde ich hochgehoben und auf den Stuhl geschleudert.

Ich habe mancherlei Torturen erduldet, wenn ich aber jetzt, in meinen letzten Stunden, in Ruhe darüber nachdenke, so bin ich sicher, daß keine Tortur dieser gleichkam. Aus dem schweren Stuhl hämmerte mein Körper jede Ähnlichkeit mit einem Stuhl heraus. Ein anderer Stuhl wurde hingesetzt und allmählich ebenso zerstört. Aber es wurden immer neue Stühle gebracht, während man das ewige Ausfragen nach dem Dynamit fortsetzte. Als der Direktor müde war, sprang der Inspektor für ihn ein, dann löste Schutzmann Monohan Inspektor Jamie ab, und immer wieder wurde ich auf den Stuhl geschleudert. Unaufhörlich lautete es: Dynamit, Dynamit! Wo ist das Dynamit? – Und es gab ja gar kein Dynamit. Ja – zuletzt würde ich einen großen Teil meiner unsterblichen Seele für ein paar Pfund Dynamit ausgeliefert haben, wenn ich sein Vorhandensein hätte gestehen können.

Ich weiß nicht, wieviel Stühle unter meinem Körper zerbrachen. Immer wieder wurde ich ohnmächtig, und schließlich war mir alles wie ein böser Traum. Dann wurde ich in die Dunkelheit zurück halb getragen, halb geschleppt. Dort fand ich, als ich endlich wieder zum Bewußtsein kam, einen Spitzel in der Zelle. Es war ein kleiner blasser Opiumfresser, der nur kurze Zeit zu sitzen hatte, einer von denen, die glauben, für ein bißchen von ihrem Gift alles bekommen zu können. Sobald ich ihn erkannte, kroch ich an das Gitter und rief in den Korridor hinaus:

»Ein Spitzel ist bei mir, Jungens! Ignatius Irvine! Paßt auf, was ihr sagt!«

Das Gebrüll der Erbitterung, das sich erhob, hätte einen tapfereren Mann als Ignatius Irvine erschüttert. Er war kläglich in seiner Angst, während alle die gefolterten Lebenslänglichen ringsum wie die wilden Tiere heulend riefen, was sie mit ihm machen würden, wenn sie ihn einmal zu fassen kriegten.

Hätte ein Geheimnis vorgelegen, so würde die Gegenwart eines Spitzels in den Strafzellen sie zum Schweigen gebracht haben. Da sie ja aber alle geschworen hatten, die Wahrheit zu sagen, so sprachen sie frei heraus, trotz seiner Gegenwart. Das große Rätsel war das Dynamit, von dem sie ebensowenig etwas ahnten wie ich. Sie baten mich, bettelten mich an, zu gestehen, falls ich etwas von dem Sprengstoff wüßte, und sie dadurch alle aus ihrem Elend zu erretten. Ich konnte nur wahrheitsgetreu antworten, daß ich nichts davon ahnte.

Eines erzählte der Spitzel mir, ehe er fortgebracht wurde, und das zeigte, wie ernst die Geschichte war. Selbstverständlich erzählte ich es weiter: Nicht eine Maschine im ganzen Gefängnis lief an diesem Tage. All die Tausende von Sträflingen blieben in ihren Zellen eingeschlossen, und man meinte, daß nicht eine einzige Werkstatt des Gefängnisses wieder eröffnet würde, ehe das Dynamit gefunden war, das irgend jemand im Gefängnis versteckt hatte.

Und die Verhöre gingen weiter. Immer wieder wurden die Gefangenen, einer nach dem andern, durch den Korridor hinausgezogen und wieder zurückgeschleppt oder -getragen. Sie erzählten, daß der Direktor und der Inspektor sich in ihrer Erschöpfung alle anderthalb Stunden ablösten. Wenn der eine schlief, verhörte der andere. Sie schliefen angekleidet in demselben Zimmer, wo große starke Männer, einer nach dem andern, mißhandelt wurden.

Mit jeder Stunde stieg der Schrecken unserer Qual in den dunklen Strafzellen. Ja, glauben Sie mir, denn ich weiß es – gehängt zu werden, ist eine Kleinigkeit gegen alles das, was einem lebenden Menschen angetan werden kann, ohne ihm das Leben zu nehmen. Ich litt dieselbe Qual und denselben Durst wie die andern, und dazu kam, daß ich auch noch mit meinen Leidensgefährten fühlte. Seit zwei Jahren gehörte ich zu den Unverbesserlichen, und meine Nerven und mein Gehirn waren daher im Dulden und Ertragen geübt. Es ist schrecklich zu sehen, wie ein stärker Mann geknickt wird und zusammenbricht. Und ich sah vierzig starke Männer unter ihren Leiden zusammenbrechen. Immer wieder hörte man nach Wasser rufen, und der Ort wurde wie ein Tollhaus, das von dem Weinen und Jammern, dem Lallen und Rasen delirierender Menschen widerhallte.

Eben der Umstand, daß wir die Wahrheit sprachen, war es, was uns verurteilte. Wenn vierzig Männer einstimmig dasselbe sagten, so konnten sie ja daraus nur schließen, daß alles eine Lüge war, die jeder einzelne auswendig gelernt hatte und jetzt wie ein Papagei herplapperte.

Vom Standpunkt der Behörden aus muß man sagen, daß ihre Lage ebenso verzweifelt war wie die unsere. Wie ich später erfuhr, hatte man die ganze Verwaltung telegraphisch hinberufen und zwei Kompanien Miliz in aller Eile nach dem Gefängnis geschickt.

Es war Winter, und der Frost kann selbst in Kalifornien schlimm sein. Decken hatten wir nicht in unseren Zellen. Und denken Sie, wie schrecklich es ist, seine zerschlagenen Glieder auf einem eiskalten Fußboden auszustrecken. Schließlich gaben sie uns wirklich Wasser. Unter Flüchen und Drohungen kamen die Wärter mit Spritzenschläuchen gelaufen und ließen die dicken eiskalten Wasserstrahlen auf uns herabsausen – in eine Zelle nach der andern – bis unsere wunden Glieder wieder mürbe wurden durch die Heftigkeit, womit die Wasserstrahlen uns trafen, und wir bis zu den Knien in dem Wasser standen, nach dem wir zuvor geschrien hatten, und von dem uns zu befreien, wir jetzt heulend flehten.

Was weiter im Gefängniskeller geschah, will ich übergehen. Ich will nur erzählen, daß nicht ein einziger von den vierzig je wieder der alte wurde. Luigi Polazzo bekam seinen Verstand nie wieder. Auch Bill Hodge verlor allmählich den Verstand, bis er, wie der andere, ein Jahr darauf nach Bughouse Alley geschafft wurde. Und noch weitere folgten den beiden, während andere, in ihrem Lebensmark getroffen, der Gefängnistuberkulose zum Opfer fielen. Ganze fünfundzwanzig Prozent von den vierzig starben im Laufe der folgenden sechs Jahre.

Nach meinen fünf Jahren Einzelhaft – seit dem Tage, als sie mich von San Quentin fortschafften, um mich wieder abzuurteilen – sah ich Skysegel-Jack wieder. Sehr viel konnte ich nicht sehen, denn meine Augen blinzelten in der Sonne wie die einer Eule nach den fünf Jahren Dunkelheit, aber ich sah doch genug, daß mein Herz dabei litt. Ich ging gerade über den Gefängnishof, als ich ihn sah. Sein Haar war weiß geworden. Er war vor der Zeit gealtert. Seine Brust war hohl, seine Wangen waren eingefallen, seine Hände zitterten, und die Beine baumelten unter ihm. Und seine Augen wurden von Tränen verschleiert, als er mich erkannte, denn auch ich war ein trauriges Wrack dessen, was einst ein Mann gewesen. Ich wog nur siebenundachtzig Pfund, mein graues Haar war seit fünf Jahren nicht geschnitten – mein Bart auch nicht. Und ich taumelte auch beim Gehen, so daß der Wärter mich stützen mußte, als er mich über den sonnigen Hof führte. Jack und ich starrten uns an, und wir erkannten uns, obwohl wir beide Wracks waren. Männer wie er besitzen selbst im Gefängnis gewisse Privilegien, so daß er das Reglement zu durchbrechen wagte und mich mit gebrochener, zitternder Stimme ansprach.

»Du bist ein braver Kerl, Standing«, kicherte er. »Du hast nicht aus der Schule geschwatzt.«

»Ich hatte ja auch nichts zu erzählen«, flüsterte ich. Laut sprechen konnte ich nicht, denn ich hatte in dem fünfjährigen Schweigen meine Stimme so gut wie verloren. »Ich glaube überhaupt nicht, daß es Dynamit gab.«

»Das ist recht«, kicherte er und nickte kindlich. »Bleib nur dabei. Sag es ihnen nie. Du bist ein braver Kerl. Ich ziehe meinen Hut vor dir, Standing – du hast nicht aus der Schule geschwatzt.«

Die Wärter führten mich weiter, und es war das letzte Mal, daß ich Jack sah. Offenbar glaubte er jetzt selbst an das Dynamit.

Zweimal nahm die gesamte Verwaltung mich vor. Ich wurde abwechselnd mit Brutalität und mit Überredungsversuchen behandelt. Zwei Vorschläge machten sie mir. Wenn ich das Dynamit auslieferte, wollten sie mir eine nominelle Strafe von dreißig Tagen Einzelarrest geben und mich dann durch eine Anstellung in der Gefängnisbibliothek belohnen. Wenn ich in meiner Verstocktheit beharrte und das Dynamit nicht angab, wollten sie mich für den Rest meiner Strafzeit in eine finstere Einzelzelle sperren. Da ich Lebenslänglicher war, hieß das, mich auf Lebenszeit zu finsterer Einzelhaft zu verurteilen.

Nein, gewiß: Kalifornien ist ein zivilisiertes Land. Es gibt keine derartige Bestimmung in den Gesetzbüchern. Es ist eine grausame, unnütze Strafe, und kein modernes Land würde ein solches Gesetz erlassen. Aber doch bin ich der dritte in der Geschichte Kaliforniens, der zu Einzelhaft für Lebenszeit verurteilt wird. Die beiden andern waren Jake Oppenheimer und Ed Morrell. Von ihnen werde ich gelegentlich erzählen, denn jahrelang faulte ich in demselben Gefängniskeller wie sie.

Und noch eins. Wenn man mich binnen kurzem hängt – dann tut man es nicht deshalb, weil ich Professor Haskell erschlug. O nein, dafür erhielt ich lebenslängliches Zuchthaus. Nein, sie wollen mich hängen, weil ich eines Überfalls für schuldig befunden bin. Und es gibt keine Disziplinarbestimmungen im Gefängnis. Nein, es ist Gesetz – und der Paragraph ist im Strafgesetzbuch zu finden.

Ich glaube zwar, daß ich die Nase eines Mannes bluten machte. Ich sah nicht, daß sie blutete, aber die Anklage lautete so. Thurston hieß er. Er war Wärter in San Quentin. Er wog hundertundsiebzig Pfund und war in bester Form. Ich wog weniger als neunzig Pfund, war blind wie eine Fledermaus nach der langen Dunkelheit und hatte so lange hinter engen Wänden gesessen, daß der bloße Anblick eines freien Platzes mich schwindeln machte. Mein Fall war ein einwandfreies, gut entwickeltes Beispiel von Agoraphobie, was ich an dem Tag, als ich aus meiner Zelle entkam und Wärter Thurston auf die Nase schlug, entdeckte. Er versperrte mir den Weg und versuchte, mich zu halten. Da schlug ich ihn auf die Nase – und dafür hängen sie mich. Es ist Gesetz in Kalifornien, daß ein Lebenslänglicher wie ich ein Verbrechen begeht, das mit dem Tode bestraft wird, wenn er einen Gefängnisbeamten schlägt. Sicher hat ihn seine blutige Nase nur eine halbe Stunde gestört – und doch – mich hängen sie dafür.

Obendrein ist dieses Gesetz, was mich betrifft, ex post facto. Als ich Professor Haskell tötete, war es nicht Gesetz. Es ging erst durch, nachdem ich mein Urteil erhalten hatte. Und das ist gerade der Witz: Meine Verurteilung hat mich unter dieses Gesetz gestellt, das damals noch nicht Gesetz war. Und in meiner Eigenschaft als Lebenslänglicher soll ich nun wegen des Überfalls auf Wärter Thurston gehängt werden. Das ist ganz offensichtlich ex post facto und steht deshalb im Widerspruch mit der Verfassung.

 

Aber welchen Einfluß hat wohl die Verfassung auf die verfassungsmäßigen Gesetzesausüber, wenn sie Lust dazu haben, den berüchtigten Professor Darrell Standing aus dem Wege zu schaffen. Und ich bin nicht einmal der erste, dem es so geht. Vor einem Jahr wurde Jake Oppenheimer – wie jeder Zeitungsleser weiß – wegen eines ganz ähnlichen Verbrechens hier in Folsom gehängt. Nur war es nicht die Nase eines Gefängnisbeamten, die er zum Bluten brachte. Er ritzte versehentlich einen andern Gefangenen mit einem Brotmesser.

Ja, merkwürdig ist das Leben, merkwürdig sind die Gesetze der Menschen und ihre dornigen Pfade. Ich schreibe dies in derselben Zelle am Mördergang, wo Jake Oppenheimer saß, als sie ihn holten und mit ihm taten, was sie mit mir tun wollen.

Ich sagte euch ja im voraus, daß ich über vieles zu schreiben hätte. Jetzt will ich zu meiner Erzählung zurückkehren. Die Direktion ließ mir die Wahl zwischen einem Vorzugsplatz im Gefängnis mit Befreiung von der Arbeit in der Juteweberei, wenn ich das eingebildete Dynamit auslieferte, oder Einzelzelle auf Lebenszeit, wenn ich in meiner Verstocktheit beharrte.

Um besser über die Sache nachdenken zu können, bekam ich vierundzwanzig Stunden lang die Zwangsjacke. Dann wurde ich wieder vorgeführt. Ja, was sollte ich tun? Ich konnte sie doch nicht zu dem Dynamit führen, das es gar nicht gab. Das sagte ich, und sie antworteten, ich löge. Sie sagten, ich sei moralisch degeneriert, sei der schlimmste Verbrecher des Jahrhunderts. Vieles andere erzählten sie mir noch, und dann wurde ich in die Einzelzelle gebracht. Ich bekam Nummer eins. In Nummer fünf lag Ed Morrell, in Nummer zwölf Jake Oppenheimer, und er hatte zehn Jahre hier verbracht. Ed Morrell war erst seit einem Jahr in seiner Zelle. Seine Strafe lautete auf fünfzig Jahre. Jake Oppenheimer war Lebenslänglicher. Auch ich war Lebenslänglicher. Wir hatten deshalb alle drei Aussicht, lange Zeit hier zu verbringen. Und doch sind nur sechs Jahre vergangen, und keiner von uns ist mehr dort. Jake Oppenheimer wurde gehängt. Ed Morrell wurde zum Obervertrauensmann in San Quentin gemacht und vor einigen Tagen losgelassen. Und ich sitze hier in Folsom und warte auf den Tag, den Richter Morgan zu meinem letzten in diesem Leben bestimmt hat.

Die Toren! Als ob sie durch ihre plumpe Einrichtung mit Strick und Schafott meine Unsterblichkeit erwürgen könnten! Immer wieder, ach, unzählige Male, werde ich auf dieser lichten Erde wandern. Und ich werde im Fleische wandern, werde Fürst und Bauer, Gelehrter und Stümper sein, auf dem Hochsitz sitzen und unter dem Joche seufzen.

Es war anfangs sehr einsam in der Einzelzelle, und die Stunden waren lang. Ich kontrollierte die Zeit mit Hilfe der regelmäßigen Ablösung der Wache und durch den Wechsel von Tag und Nacht. Der Tag bedeutete nur ein klein wenig Licht, war aber doch besser als das Grabesdunkel der Nacht. In unseren Zellen war der Tag Dämmerung, ein schimmliger Schein von der helleren Welt draußen. Nie war das Licht stark genug, um dabei lesen zu können. Übrigens gab es auch nichts zu lesen. Man konnte nur liegen, denken und denken. Ich war Lebenslänglicher, und es war gegeben, daß alle Jahre meines Lebens in diesem schweigenden Dunkel verrinnen sollten, wenn ich nicht das Wunder tun konnte, fünfunddreißig Pfund Dynamit aus dem Nichts hervorzuzaubern.

Mein Lager war eine dünne, muffige Strohmatratze auf dem Boden der Zelle. Eine dünne, schmutzige Decke war alles, mich zu bedecken. Es gab keinen Stuhl, keinen Tisch – nichts außer der Strohmatratze und der dünnen, verschlissenen Decke. Ich bin nie gewohnt gewesen, lange zu schlafen, und mein Gehirn war stets sehr geschäftig gewesen. In der Einzelzelle wird man seiner selbst so zum Sterben überdrüssig, und das einzige Mittel, sich zu entgehen, ist der Schlaf. Ich machte es zu einer Wissenschaft. Ich war schließlich imstande, zehn Stunden, dann zwölf täglich zu schlafen, und allmählich kam ich auf vierzehn und fünfzehn. Aber weiter brachte ich es nicht und war deshalb gezwungen, wach zu liegen, zu denken und zu denken. Und gerade hierin lauerte der Wahnsinn auf einen Mann mit einem tätigen Hirn.

Ich versuchte, Mittel zu finden, die mich in den Stand setzen konnten, meine wachen Stunden zu ertragen. Ich hob ganze Serien von Zahlen in die zweite und dritte Potenz, und durch Anspannung von Gedanken und Willen stellte ich die erstaunlichsten geometrischen Reihen auf. Ja, ich experimentierte sogar mit der Quadratur des Kreises – bis ich entdeckte, daß ich selbst schon an die Lösung dieses Problems zu glauben begann. Erst als ich sah, daß der Wahnsinn auf mich lauerte, schob ich das Problem beiseite, obwohl ich versichere, daß es ein großes Opfer für mich war, denn es war ein prachtvoller Zeitvertreib, das Gehirn auf diese Aufgaben zu konzentrieren.

Nur mit Hilfe meines inneren Auges baute ich Schachbretter und spielte ganze Partien bis zum Schachmatt. Als ich aber eine richtige Fertigkeit hierin erlangt hatte, verlor das Spiel seine Anziehungskraft für mich. Es war nur Hirngymnastik, es konnte nie ein richtiges Spiel daraus werden, wenn derselbe Spieler auf beiden Seiten spielte. Ich versuchte – und versuchte es vergebens – meine Persönlichkeit in zwei zu zersplittern und die eine gegen die andere aufzustellen. Aber ich blieb immer der eine Spieler, der keine Kriegslist erdenken konnte, ohne daß der Gegenspieler es gleich wußte.

Und die Zeit war sehr träge und sehr lang. Ich spielte mit Fliegen, gewöhnlichen Zimmerfliegen, die mit dem grauen Licht in meine Zelle kamen, und fand heraus, daß sie Spielsinn hatten. Zum Beispiel zog ich, wenn ich auf dem Steinboden lag, eine eingebildete Scheidelinie über die Wand, etwa drei Fuß über dem Boden. Solange die Fliegen über diesem Strich, blieben, ließ ich sie in Frieden. Im selben Augenblick aber, wenn sie sich unter dem Strich auf die Wand setzten, versuchte ich, sie zu fangen. Ich achtete sorgfältig darauf, daß ich ihnen nichts tat, und allmählich wußten sie ebensogut wie ich selber, wo der eingebildete Strich gezogen war. Wenn sie Lust zum Spiel hatten, setzten sie sich unter den Strich, und oft konnte eine Fliege diesen Sport eine ganze Stunde hintereinander betreiben. Wenn sie müde wurde, setzte sie sich zum Ausruhen nach oben.

Von einem Dutzend Fliegen oder mehr, die bei mir waren, machte sich nur eine einzige nichts aus dem Spiel. Sie weigerte sich standhaft, mitzuspielen, und als sie gelernt hatte, welche Strafe es für das Überschreiten des Strichs gab, mied sie das gefährliche Terrain sorgfältig. Diese Fliege war ein richtiger Querkopf. Sie hatte, wie die Gefangenen sagen, eine Pike auf die Welt. Sie spielte nie mit den andern Fliegen. Sie war im übrigen gesund und kräftig – ich studierte sie lange, um klug aus ihr zu werden. Ihr Unwille gegen alles Spiel war ausschließlich eine Folge ihres Temperaments und in keiner Weise in physischer Indisposition begründet.

Glauben Sie mir, ich kannte meine Fliegen. Es war überraschend, welche Menge individueller Eigentümlichkeiten ich bei ihnen entdeckte. Jede einzelne von ihnen war durchaus ein Individuum für sich, verschieden von den andern nicht nur in Größe und Aussehen, Stärke und Fluggeschwindigkeit, in der Art zu fliegen und der Art zu spielen, sich zu drehen und aufzusteigen, herumzuschnurren und wiederzukommen, zu kreisen und fortzufliegen, über die Wand in die Gefahrenzone zu laufen oder sich narren zu lassen und anderswo innerhalb der verbotenen Zone zu landen – auch in Temperament und Charakter gab es große Unterschiede. Ich kannte Nervöse und Phlegmatische. Da war eine kleine Unterernährte, die gleichsam in Raserei fliegen konnte, wütend bald auf mich, bald auf eine andere Fliege. Haben Sie je eine Stute oder ein Kalb mit den Hinterbeinen ausschlagen und wie rasend über die Weide schießen sehen, einzig und allein aus überströmender Kraft und Lebenslust? So war auch eine Fliege – die eifrigste im Spiel von allen – die, wenn es mir drei- oder viermal geglückt war, sie anzuführen, so jubelnd begeistert war, daß sie mir wie verrückt um den Kopf schnurrte.