Die eiserne Ferse

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Sklaven der Maschine



Je mehr ich an Jacksons Arm dachte, desto tiefer war ich erschüttert. Ich stand einer Tatsache gegenüber. Zum ersten Male sah ich das Leben, wie es war. Meine Universitätsjahre, Studium und Kultur waren nichts Wirkliches gewesen. Ich hatte nur die Theorien des Lebens und der Gesellschaft kennen gelernt, die sich gedruckt alle sehr schön ausnahmen, jetzt aber hatte ich das Leben selbst gesehen. Jacksons Arm war eine Tatsache. Ernsts Worte: »Tatsachen, Verehrtester, unwiderlegbare Tatsachen!« klangen mir noch in den Ohren.



Es erschien mir ungeheuerlich, unmöglich, dass unsere ganze Gesellschaft auf Blut begründet sein sollte. Aber Jackson! Ich konnte nicht von ihm loskommen. Immer wieder flogen meine Gedanken zu ihm zurück, wie die Kompassnadel zum Pol. Er war ungeheuerlich behandelt worden. Man hatte ihm sein Blut nicht bezahlt, um eine höhere Dividende ausschütten zu können. Und ich kannte eine ganze Reihe glücklicher, wohlhabender Menschen, die diese Dividende erhalten und Nutzen aus Jacksons Blut gezogen hatten. Konnte ein Mann so ungeheuerlich behandelt werden, und konnte die Gesellschaft so sorglos ihren Weg wandeln, mochten dann nicht viele Menschen so ungeheuerlich behandelt worden sein? Mir fielen die Frauen in Chikago ein, von denen Ernst gesprochen hatte, die für neunzig Cents die Woche arbeiteten, die Kinder, die in den Spinnereien im Süden fronten. Und ich konnte ihre blassen, weißen Hände, aus denen das Blut herausgepresst war, sehen, wie sie die Stoffe für meinen Mantel herstellten. Und dann dachte ich wieder an die Sierra-Spinnereien und die Dividenden, die bezahlt worden waren, und deutlich sah ich das Blut Jacksons auf meinem Mantel. Ich konnte Jackson nicht entgehen. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu ihm zurück.



Tief in meinem Innern hatte ich das Gefühl, dass ich am Rande eines Abgrunds stände. Mir war, als sollte mir eine neue, furchtbare Offenbarung des Lebens werden. Und nicht mir allein. Meine ganze Welt stürzte zusammen. Mein Vater zum Beispiel! Ich konnte den Einfluss Ernsts an ihm beobachten. Und der Bischof! Als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er einem Kranken geglichen. Er befand sich in einer nervösen Erregung, und in seinen Augen lag ein unaussprechliches Grauen. Aus dem wenigen, das ich erfuhr, konnte ich ersehen, dass Ernst sein Versprechen, ihm die Hölle zu zeigen, gehalten hatte. Was für Höllenszenen der Bischof aber gesehen hatte, erfuhr ich nicht, denn vor Entsetzen schien er nicht darüber sprechen zu können.



Als ich einmal besonders stark fühlte, dass in meiner kleinen Welt und in allem um mich her das Unterste zu oberst gekehrt wurde, dachte ich, dass Ernst die Ursache sei; und ich dachte weiter: >Wir waren so glücklich und zufrieden, ehe er kam!< Aber im selben Augenblick empfand ich diesen Gedanken als Verrat an der Wahrheit, und Ernst erschien mir wie ein Verklärter, ein Wahrheitsapostel, der mit strahlendem Antlitz und der Furchtlosigkeit eines Engels Gottes für Wahrheit und Recht, für die Armen, Verlassenen und Unterdrückten kämpfte. Und dann stand er wieder in einer ändern Gestalt vor mir, in der Jesu! Auch Jesus hatte für die Verlassenen und Unterdrückten gegen die ganze bestehende Macht der Priester und Pharisäer Partei ergriffen. Und ich dachte an seinen Tod am Kreuze, und mein Herz krampfte sich zusammen, wenn ich an Ernst dachte. War auch er für das Kreuz bestimmt? Er, mit seiner klingenden, kriegerischen Stimme und all seinem herrlichen Mannesmut!



Und in diesem Augenblick wusste ich, dass ich ihn liebte, dass ich vor Verlangen, ihn zu trösten, verging. Ich dachte an sein Leben. Niedrig, rauh und armselig musste es gewesen sein. Und ich dachte an seinen Vater, der für ihn gelogen und gestohlen und sich zu Tode gearbeitet hatte. Und er selbst hatte als zehnjähriger Knabe in der Spinnerei arbeiten müssen! Mein Herz schien zerspringen zu wollen vor Sehnsucht, ihn mit meinen Armen zu umschlingen und sein Haupt an meiner Schulter zu bergen — dieses Haupt, das von so vielen Gedanken schmerzen musste, und das in einer freundlichen Stunde Ruhe, Linderung und Vergessen finden sollte!



Ich traf Rechtsanwalt Ingram bei einer kirchlichen Veranstaltung. Ich kannte ihn seit Jahren sehr gut. Ich entdeckte ihn hinter großen Palmen und Gummibäumen, ohne dass er indessen etwas davon ahnte. Er begegnete mir mit konventioneller Freundlichkeit und Höflichkeit. Er war immer sehr elegant, taktvoll, diplomatisch und aufmerksam und machte äußerlich den distinguiertesten Eindruck aller Herren in der Gesellschaft. Neben ihm sah selbst der verehrte Rektor der Universität unelegant und unbedeutend aus. Und doch sah ich, dass Ingram sich in derselben Lage befand wie die unbelesenen Maschinenarbeiter. Auch er war nicht Herr seines Handelns. Auch er war an das Rad gefesselt. Nie werde ich die Veränderung vergessen, die mit ihm vorging, als ich den Fall Jackson erwähnte. Seine lächelnde Freundlichkeit verschwand wie ein Geist. Ein entsetzter Ausdruck entstellte plötzlich sein liebenswürdiges Gesicht. Ich spürte dieselbe Unruhe, die ich bei dem Ausbruch von James Smith gefühlt hatte. Aber Herr Ingram fluchte nicht. Das war der sichtbare Unterschied, der zwischen dem Arbeiter und ihm bestehen blieb. Man rühmte ihn als einen Mann von Witz, aber jetzt war nichts davon zu bemerken.



Er blickte nur, ganz unbewusst, hin und her, um eine Gelegenheit zu finden, mir zu entschlüpfen. Aber er stand zwischen Palmen und Gummibäumen.



Nein, ihm war nicht wohl bei dem Klang von Jacksons Namen. Warum ich die Angelegenheit erwähnt hätte? Mein Scherz gefiel ihm nicht. Es wäre geschmacklos und sehr unüberlegt von mir. Ob ich nicht wüsste, dass sein Beruf keine persönlichen Gefühle zuließe? Die ließe er zu Hause, wenn er in sein Bureau ging. Hier hätte er nur berufliche Gefühle.



»Hätte Jackson Schadenersatz haben sollen?« fragte ich ihn.



»Gewiss«, antwortete er. »Das heißt, dies ist ein persönliches Gefühl. Aber das hat nichts mit der rechtlichen Seite der Sache zu tun.« Er versuchte sich zu sammeln.



»Sagen Sie, hat Recht etwas mit Gesetz zu tun?« fragte ich.



»Sie haben einen falschen Ausdruck gebraucht«, antwortete er lächelnd.



»Macht?« fragte ich, und er nickte. »Und doch meinen wir, durch das Gesetz immer zu unserm Recht zu kommen.«



»Das ist eben das Paradoxe dabei«, entgegnete er. »Wir erhalten nicht Gerechtigkeit, sondern Recht.«



»Jetzt sprechen Sie beruflich, nicht wahr?« fragte ich.



Ingram errötete, errötete wirklich und warf wieder ängstliche Blicke um sich. Aber ich versperrte ihm den Weg und machte keine Anstalten, ihn freizugeben.



»Sagen Sie mir«, fragte ich, »wenn jemand seine persönlichen Gefühle mit dem Beruflichen vermengt, gibt das dann nicht eine Art geistiger Missgeburt?«



Ich erhielt keine Antwort. Herr Ingram hatte unrühmlich die Flucht ergriffen, wobei er eine Palme umwarf.



Nunmehr versuchte ich mein Heil bei den Zeitschriften. Ich schrieb einen ruhigen, zurückhaltenden, leidenschaftslosen Aufsatz über den Fall Jackson. Ich griff darin die Männer, mit denen ich gesprochen hatte, nicht an, erwähnte sie nur. Ich legte die Tatsachen dar, sprach von den langen Jahren, die Jackson in der Spinnerei gearbeitet, von der Anstrengung, die er gemacht hatte, um die Maschine vor Schaden zu bewahren, und von dem daraus folgenden Unfall, sowie von seiner jetzigen furchtbaren, bedauernswerten Lage. Weder die drei Tageszeitungen noch die beiden Wochenblätter unserer Stadt nahmen den Aufsatz an.



Ich wandte mich an Percy Layton. Er hatte sein Staatsexamen gemacht, war dann zum Journalismus übergegangen und verdiente sich augenblicklich seine Sporen als Reporter an der einflussreichsten der drei Zeitungen. Als ich ihn fragte, warum die Zeitungen nichts über Jackson und seinen Fall bringen wollten, lächelte er.



»Redaktionspolitik«, sagte er. »Damit haben wir nichts zu tun. Das ist Sache der Redakteure.« »Was heißt Politik?« fragte ich.



»Wir sind alle solidarisch mit den großen Unternehmungen«, erwiderte er. »Selbst wenn Sie die Anzeigengebühr bezahlen würden, könnten Sie etwas Derartiges nicht in die Zeitungen bringen. Und wenn einer von uns versuchen wollte, es einzuschmuggeln, würde er seine Stellung verlieren. Sie würden es nicht hineinbringen, und wenn Sie die zehnfache Gebühr zahlten.«



»Und wie steht es mit Ihrer eigenen Politik?« forschte ich. »Es sieht fast so aus, als hätten Sie auf Befehl Ihrer Arbeitgeber, die ihrerseits wieder den Befehlen der Unternehmungen gehorchen, die Wahrheit zu verdrehen.«



»Damit habe ich nichts zu tun.« Einen Augenblick schien ihm die Sache unbehaglich zu werden, dann aber sah er einen Ausweg, und seine Miene erhellte sich. »Und selbst schreibe ich nichts Unwahres. Ich halte mein Gewissen rein. Aber natürlich gibt es bei meinem Tagewerk viele Widerstände. Das gehört nun einmal dazu, sehen Sie«, schloss er naiv. »Aber Sie hoffen doch, eines Tages am Redaktionstisch zu sitzen und die Politik zu leiten.«



»Bis dahin bin ich abgehärtet«, lautete seine Erwiderung.



»Da Sie heute noch nicht abgehärtet sind, bitte ich Sie, mir Ihre aufrichtige Meinung über die allgemeine Redaktionspolitik zu sagen.«



»Ich denke nicht darüber nach«, antwortete er schnell. »Man kann es sich nicht leisten, über die Stränge zu schlagen, wenn man als Journalist Erfolg haben will. So viel habe ich jedenfalls schon gelernt.«



Er nickte weise mit seinem jungen Kopfe.



»Aber das Recht?« beharrte ich.



»Sie verstehen das Spiel nicht. Alles ist natürlich recht, wenn es auf die rechte Weise gebraucht wird. Sehen Sie das nicht ein?«



»Köstlich unklar«, murmelte ich; aber das Herz schmerzte mir um seine Jugend, und ich fühlte, dass ich es herausschreien oder in Tränen ausbrechen musste.

 



Ich fing an, die äußere Schale der Gesellschaft, in der ich lebte, zu durchschauen und die schreckliche Wirklichkeit dahinter zu entdecken. Es schien eine geheime Verschwörung gegen Jackson zu bestehen, und mir tat der jammernde Anwalt leid, der seinen Prozess so unrühmlich geführt hatte. Und diese heimliche Verschwörung wuchs beständig. Sie richtete sich nicht gegen Jackson allein, sondern gegen jeden Arbeiter, der in der Fabrik zum Krüppel wurde. Und wenn gegen jeden Arbeiter in den Spinnereien, warum nicht auch gegen jeden in jeder ändern Fabrik? Wirklich, war es nicht überall so, in der ganzen Industrie? Verhielt es sich aber so, dann war die Gesellschaft eine Lüge. Ich schreckte vor meinen eigenen Schlüssen zurück. Es war zu furchtbar und abscheulich, um wahr zu sein. Aber Jackson und Jacksons Arm und das Blut, das mein Kleid befleckte und von meinem eigenen Dache herabtropfte? Und es gab viele Jacksons — Hunderte allein in den Spinnereien, wie Jackson selbst gesagt hatte. Ich konnte Jackson nicht entfliehen.



Ich suchte Herrn Wickson und Herrn Pertonwaithe, die beiden Hauptaktionäre der Sierra-Spinnereien, auf. Aber sie konnte ich nicht zum Wanken bringen wie die beiden Maschinisten, die in ihren Diensten standen. Ich sah, dass ihre Moral der der übrigen Gesellschaft überlegen war. Es war eine Moral, die ich die aristokratische oder Herrenmoral nennen möchte.



Sie redeten weitschweifig über Politik und identifizierten Politik und Recht. Mit mir sprachen sie väterlich, sie behandelten mich gönnerhaft mit Rücksicht auf meine Jugend und Unerfahrenheit. Sie waren die Hoffnungslosesten, die ich in meiner Sache aufgesucht hatte. Sie waren durchaus überzeugt, dass die Spinnereien richtig geleitet wurden. Darüber gab es keine Frage, keine Erörterung. Sie waren überzeugt, dass sie die Führer der Gesellschaft waren und der großen Masse das Glück brachten. Sie entwarfen ergreifende Bilder von dem Elend, das über die Arbeiter kommen musste, wenn sie beschäftigungslos wurden, was sie allein durch ihre Weisheit verhüteten.



Gleich nach der Begegnung mit diesen beiden Herren traf ich Ernst und berichtete ihm, was ich erfahren hatte. Er sah mich befriedigt an und sagte: »Wirklich ausgezeichnet! Sie beginnen auf eigene Faust nach Wahrheit zu schürfen. Es ist Ihre eigene, empirische Verallgemeinerung, und sie stimmt. Kein Mensch an der Industriemaschine ist Herr seines Handelns, außer den Großkapitalisten, und die sind es letzten Endes auch nicht. Sie sehen, die Herren sind vollkommen überzeugt, dass sie in allem, was sie tun, recht haben. Das ist der Gipfelpunkt der Absurdität in der ganzen Situation. Sie sind so tief in ihre menschliche Natur verstrickt, dass sie nichts tun können, ohne es für Recht zu halten. Sie brauchen eine Sanktion für ihr Tun.



»Wenn sie etwas tun wollen, etwas Geschäftliches, beraten sie, bis in ihrem Hirn irgendein religiöser oder ethischer, wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff entsteht, der ihnen einen Rechtsstandpunkt verleiht. Und dann machen sie sich daran und wissen nicht, dass der Wunsch der Vater des Gedankens ist, eine der Schwächen der menschlichen Seele. Was sie auch tun, sie finden immer eine Sanktion dafür. Eine der angenehmsten und unumstößlichsten Fiktionen, die sie geschaffen haben, ist, dass sie der übrigen Menschheit an Weisheit und Tüchtigkeit überlegen sind. Daher ihre Anmaßung, dass ihnen die Aufsicht über Brot und Butter der übrigen Menschheit zusteht. Sie sind es auch, die die Lehre vom göttlichen Recht der Könige wieder zum Leben erweckt haben — in ihrem Fall der Handelskönige.



Die Schwäche ihrer Stellung liegt darin, dass sie nur Geschäftsleute sind. Sie sind keine Philosophen, sie sind weder Biologen noch Soziologen. Wären sie es, so würde natürlich alles gut sein. Ein Geschäftsmann, der zugleich Biologe und Soziologe wäre, würde annähernd das Richtige für die Menschheit zu tun wissen. Aber außerhalb des Reiches ihrer Geschäfte sind diese Männer stumpfsinnig. Sie kennen nur ihre Geschäfte. Sie kennen weder die Gesetze noch die Gesellschaft, und doch machen sie sich zu Herren über das Geschick der hungernden Millionen und der übrigen Millionen dazu. Eines Tages wird die Geschichte auf ihre Kosten schmerzlich lachen.«



Über den Erfolg meiner Unterredung mit Frau Wickson und Frau Pertonwaithe war ich nicht weiter überrascht. Sie waren Damen der Gesellschaft. Sie bewohnten Paläste. Sie besaßen viele Häuser, die über das Land, im Gebirge, an den Seen und am Meere verstreut waren. Sie hatten ein Heer von Bedienten, und ihre soziale Betätigung war verwirrend. Sie begönnerten die Universitäten und die Kirchen, und namentlich die Geistlichen lagen in demütiger Unterwürfigkeit vor ihnen auf den Knien. Sie waren Mächte, diese beiden Frauen, und das waren sie kraft ihres Geldes. Mit ihrem Gelde förderten sie in bemerkenswertem Maße die Gedanken, wie ich bald von Ernst lernen sollte.



Sie ahmten ihre Männer nach und redeten in den gleichen hohen Tönen über die Politik und über die Pflichten und die Verantwortlichkeit der Reichen. Sie hatten dieselbe Moral wie ihre Männer — die Moral ihrer Klasse, glatte Phrasen, die sie selbst nicht verstanden. Als ich ihnen von der bedauernswerten Lage der Familie Jackson erzählte und meine Verwunderung aussprach, dass sie nichts für den Mann getan hätten, wurden sie aufgebracht. Ich erfuhr, dass sie niemand für Belehrungen über ihre sozialen Pflichten dankbar seien. Als ich sie rundweg bat, Jackson zu helfen, lehnten sie es ebenso rundweg ab. Das Merkwürdige war, dass sie es fast mit den gleichen Worten ablehnten, und das, obgleich ich sie jede für sich aufsuchte, und keine von den beiden wusste, dass ich die andere besucht hatte oder besuchen wollte. Beide antworteten, dass sie sich freuten, es einmal deutlich aussprechen zu können: Nie würde sie eine Prämie auf Fahrlässigkeit aussetzen, und ebenso wenig wollten sie durch Unterstützung die Armen verleiten, sich in die Maschine zu werfen.



Und sie meinten es aufrichtig, die beiden Frauen. Sie waren trunken von der Überzeugung ihrer Überlegenheit und der ihrer Klasse. Für alles, was sie taten, fanden sie eine Sanktion in ihrer Klassenmoral. Als ich Frau Pertonwaithes Haus verließ, warf ich noch einen Blick zurück und dachte an Ernsts Worte, dass auch sie an die Maschine gefesselt seien, wenn sie auch obendrauf säßen.





Die Wissbegierigen



Ernst besuchte uns jetzt oft. Es war nicht nur mein Vater, und es waren auch nicht allein die Streitfragen, die bei Gesellschaften an unserm Tisch erörtert wurden, welche ihn anzogen, vielmehr schmeichelte ich mir damals, teilweise selbst die Veranlassung zu seinen Besuchen zu sein, und bald darauf erfuhr ich, dass meine Vermutung richtig gewesen war. Nie hat es einen Liebhaber gegeben wie Ernst Everhard. Sein Blick und sein Händedruck wurden, wenn möglich, noch fester und sicherer, und die Frage, die von Anfang an in seinen Augen gestanden, noch gebieterischer.



Mein erster Eindruck von ihm war ungünstig gewesen. Dann hatte ich mich von ihm angezogen gefühlt. Dann wieder hatte er mich mit seinen brutalen Angriffen auf meine Klasse abgestoßen. Als ich jedoch eingesehen hatte, dass er meine Klasse nicht verleumdet hatte, dass alles Bittere, das er von ihr sagte, berechtigt war, fühlte ich mich wieder zu ihm hingezogen. Er wurde mein Orakel. Um meinetwillen riss er der Gesellschaft die Maske vom Gesicht und gewährte mir Einblicke in die Wirklichkeit, die zwar unerfreulich, aber unbestreitbar richtig waren.



Wie gesagt: Nie hat es einen Liebhaber gegeben wie ihn. Kein Mädchen konnte bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr in einer Universitätsstadt leben, ohne Liebeserfahrungen gemacht zu haben. Auch ich hatte meine Verehrer gehabt, und zwar bartlose Studenten, ergraute Professoren und Sportsleute jeder Art. Aber nicht einer von ihnen hatte mir den Hof gemacht, wie Ernst es tat. Ehe ich es wusste, hatte er mich umarmt. Ehe ich Einspruch erheben oder es verhindern konnte, hatten seine Lippen sich auf die meinen gepresst. Seinem Ernst gegenüber hätte konventionelle Geziertheit lächerlich gewirkt. Sein glänzendes, unwiderstehliches Ungestüm riss den Boden unter mir fort. Er machte mir keinen Antrag. Er umschloss mich, küsste mich und hielt es dann für abgemacht, dass wir heiraten sollten. Das war keine Frage. Die einzige Frage — sie entstand erst später — war, wann wir heiraten sollten.



Es war beispiellos. Es war phantastisch. Aber, in Übereinstimmung mit Ernsts Wahrheitsbeweis: es wirkte. Ich vertraute ihm mein Leben an. Und dies Vertrauen war Glück verheißend. Dennoch war mir oft in den ersten Tagen unserer Liebe bange vor der Zukunft, wenn ich an die Heftigkeit und das Ungestüm seiner Liebe dachte. Aber diese Furcht war unbegründet. Nie ist eine Frau mit einem edleren, zartfühlenderen Gatten beglückt worden. Sein Zartgefühl und sein Ungestüm waren eine seltsame Mischung, ähnlich der von Verlegenheit und Ungezwungenheit in seinem Benehmen. Diese linkische Verlegenheit! Er überwand sie nie, und sie war köstlich. Sein Benehmen in unsern Salons war das eines ängstlichen Bullen in einem Porzellanladen. In dieser Zeit schwanden auch meine letzten Zweifel an meiner Liebe zu ihm (es waren höchstens unbewusste Zweifel). Im »Klub der Wissbegierigen« bot Ernst an einem prachtvollen Kampfabend den Herren in ihrem Lager Trotz. Die »Wissbegierigen« waren der exklusivste Klub an der pazifischen Küste. Er war eine Gründung von Fräulein Brentwood, einer sehr reichen alten Jungfer, und war für sie Gatte, Familie und Spielzeug. Seine Mitglieder waren die reichsten Leute der Stadt, die Dollarfürsten, denen, um dem Klub eine intellektuelle Note zu geben, natürlich einzelne Gelehrte zugesellt waren.



Die »Wissbegierigen« hatten kein Klubhaus. Ein derartiger Klub war es nicht. Die Mitglieder trafen sich einmal monatlich in einem ihrer Privathäuser, um einen Vortrag zu hören. Die Vortragenden erhielten gewöhnlich, wenn auch nicht immer, ein Honorar. Wenn ein Chemiker in New York eine neue Entdeckung, sagen wir Radium, machte, wurden ihm alle Reisekosten quer über den Kontinent sowie eine fürstliche Vergütung für seinen Zeitverlust bezahlt. Dasselbe war der Fall mit einem heimgekehrten Nordpolfahrer und einem erfolgreichen Schriftsteller oder Künstler. Gäste wurden nicht zugelassen, weil die Wissbegierigen die Politik verfolgten, nichts von ihren Diskussionen in die Zeitungen gelangen zu lassen. Daher konnten Staatsmänner — und es hatte solche Gelegenheiten gegeben — ganz offen ihre Meinungen aussprechen.



Vor mir liegt ein zerknitterter Brief, den Ernst mir vor zwanzig Jahren geschrieben hat, und dem ich folgendes entnehme:



»Dein Vater ist Mitglied der Wissbegierigen. Du hast also Zutritt. Komm daher am nächsten Dienstag abend. Ich verspreche dir eine der schönsten Stunden deines Lebens. Als du seinerzeit die Herren sprachst, war es dir nicht möglich, sie aufzurütteln. Wenn du jetzt kommst, werde ich es für dich tun. Ich will sie knurren lassen wie die Wölfe. Du hast sie nur bei ihrer Moral gepackt. Dabei fühlen sie sich nur um so selbstgefälliger und erhabener. Ich werde ihren Geldbeutel bedrohen. Das wird die Wurzeln ihres Wesens erschüttern. Wenn du kommst, wirst du den Höhlenmenschen im Smoking über einem Knochen knurren und zuschnappen sehen. Ich verspreche dir eine prachtvolle Katzenmusik und einen tiefen Einblick in das Wesen der Bestien.



Sie haben mich eingeladen in der Absicht, mich zu zerreißen. Es ist die Idee von Fräulein Brentwood, die sie nur ungeschickt verbarg, als sie mich einlud. Sie hat ihnen schon den Vorgeschmack von diesem Spaß gegeben. Man schwelgt in dem Gedanken, einen vertrauensvollen, höflichen Weltverbesserer zu sehen zu bekommen. Fräulein Brentwood hält mich für so sanft wie ein Kätzchen und so gutmütig und dumm wie eine Familienkuh. Ich leugne nicht, dass ich ihr geholfen habe, diesen Eindruck zu gewinnen. Zuerst war sie sehr vorsichtig, bis sie meine Harmlosigkeit festgestellt hatte. Ich bekomme ein hübsches Honorar — zweihundert-fünfzig Dollar —, wie es einem Manne zukommt, der, wenn auch bei den Radikalen, eine leitende Stellung einnimmt. Ich muss auch im Smoking kommen. Das ist Zwang. Ich habe noch nie so etwas angehabt und werde mir wohl irgendwo ein solches Möbel leihen müssen. Aber um eine solche Gelegenheit bei den Wissbegierigen zu erhalten, würde ich noch mehr tun.«



An diesem Abend versammelte sich der ganze Klub im Hause Pertonwaithe. Der große Saal stand voller Stühle und alles in allem müssen zweihundert Wissbegierige dagewesen sein, um Ernst zu hören. Es waren wirklich die Löwen der Gesellschaft. Ich machte mir das Vergnügen, in Gedanken die Summe des Vermögens, das diese Leute repräsentierten, zu veranschlagen; sie lief in die Hunderte Millionen. Und dabei waren die Besitzer nicht untätig. Es waren Geschäftsleute, die den regsten Anteil am industriellen und politischen Leben nahmen.

 



Wir hatten alle Platz genommen, als Fräulein Brentwood Ernst hereinführte. Alles wandte sich gleichzeitig nach der Seite des Raumes, wo er sprechen sollte. Er war im Smoking und sah prachtvoll aus mit seinen breiten Schultern und seinem königlichen Kopfe. Über seinen Bewegungen lag wieder der leichte, unverkennbare Hauch von Verlegenheit.



Ich glaube fast, ich hätte ihn schon deswegen allein lieben können. Als ich ihn ansah, empfand ich eine große Freude. Ich fühlte wieder den Pulsschlag seiner Hand in der meinen und die Berührung seiner Lippen; und so groß war mein Stolz, dass ich am liebsten aufgestanden wäre und der Versammlung zugerufen hätte: »Er ist mein! Er hat mich in seinen Armen gehalten, und ich, ich allein, habe seine Seele bis zur Grenze ihrer Möglichkeiten und ihrer königlichen Gedanken erfüllt!«



Gleich bei seinem Eintritt stellte Fräulein Brentwood ihn Herrn Van Gilbert vor, der, wie ich erfuhr, den Vorsitz führen sollte. Herr Van Gilbert war ein großer Trustanwalt und dazu ungeheuer reich. Seine geringste Honorarforderungbetrug hunderttausend Dollar. Er kannte das Gesetz in-und auswendig. Es war eine Puppe, mit der er spielen konnte. Er knetete es wie Lehm, verdrehte und verzerrte es wie ein chinesisches Spielzeug in jeder gewünschten Richtung. Seine Erscheinung sowie seine Redeweise waren altmodisch, an Phantasie, Kenntnissen und Begabungen aber nahm er es mit dem Jüngsten auf. Seine erste Berühmtheit hatte er erlangt, als er das Shardwellsche Testament mit Erfolg anfocht. Allein hierfür erhielt er ein Honorar von einer halben Million Dollar. Dann war er wie eine Rakete aufgestiegen. Man nannte ihn oft den größten Anwalt — Trustanwalt natürlich — des Landes. Und wenn man die Namen der drei größten Anwälte der Vereinigten Staaten nannte, durfte der seine nicht fehlen.



Er erhob sich und stellte Ernst mit einigen wohlgesetzten Worten vor, die einen leicht ironischen Unterton enthielten, Bei der Vorstellung dieses sozialen Reformators und Angehörigen der arbeitenden Klasse war Van Gilbert geistreich und ironisch, und die Zuhörer lächelten. Das ärgerte mich, und ich sah Ernst an. Sein Anblick ärgerte mich noch mehr. Er schien die feinen Anspielungen nicht übel zu nehmen, ja, noch schlimmer, gar nicht zu verstehen. Höflich, dumm und schläfrig saß er da. Er sah direkt stumpfsinnig aus, und einen Augenblick stieg der Gedanke in mir auf: Wie, wenn die imposante Versammlung von Macht und Geist ihn eingeschüchtert hätte? Dann aber lächelte ich. Mich konnte er nicht narren. Die ändern aber narrte er, wie er Fräulein Brentwood genarrt hatte. Sie setzte sich auf einen Stuhl in der ersten Reihe, wandte sich mehrmals zum einen oder ändern ihrer Gesinnungsgenossen und lächelte beifällig über deren Bemerkungen.



Als Herr Van Gilbert geendet hatte, erhob Ernst sich und begann zu sprechen. Er tat es mit leiser Stimme, bescheiden und zurückhaltend, und seine Miene zeigte deutlich seine Schüchternheit. Er sprach von seiner Herkunft aus der arbeitenden Klasse und von dem Schmutz und Elend seiner Umgebung, wo Körper und Geist gleicherweise Hunger und Qualen erlitten. Er schilderte seine Bestrebungen und Ideale und seine Vorstellung von dem Paradiese, in dem die oberen Klassen lebten. Er sagte:



»Ich wusste, dass dort Selbstlosigkeit, ein reines edles Denken und freier Geist herrschten. Ich wusste das alles, denn ich las die Romane der >Seebücherei<, in denen, mit Ausnahme der Bösewichte und Abenteurer, jeder Mann und jede Frau nur die wundervollsten Gedanken denkt, die herrlichste Sprache redet und die glorreichsten Taten vollbringt. Kurz, es war mir klar wie die Sonne, dass bei ihnen alles fein, edel und schön war, dass sie alles hatten, was dem Leben Anstand und Würde verlieh, alles, was das Leben lebenswert erscheinen ließ und den Menschen für seine Mühe und sein Elend entschädigte.«



Er fuhr fort und schilderte sein Leben in der Fabrik, seine Lehrzeit in der Hufschmiede und seine Begegnung mit den Sozialisten. Unter ihnen, sagte er, hätte er scharfen Verstand und glänzenden Geist gefunden, Verkünder des Evangeliums, die gescheitert wären, weil ihr Christentum zu groß für die Anschauungen der Kapitalisten und Professoren gewesen, und die daher von der herrschenden Klasse unter dem Rade ihres Kastengeistes zermalmt worden wären. Die Sozialisten wären Revolutionäre, sagte er, die danach strebten, die ver

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