Mami, ich habe eine Anguckallergie

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 „altersgem. Sprache fehlt (z. B. keine Zweiwortsätze, kein Sprechen in der 3. Person wie ‚Peter essen‘)“

 „altersgem. Sprachverständnis fehlt (z. B. kein Zeigen auf Körperteile nach Befragen, kein Befolgen einfacher Aufforderung)“

 „Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Schlafstörungen)“

Daraus ergibt sich natürlich die zwingende Frage, wie Benjamins Entwicklung zu diesem Zeitpunkt schon hätte professionell gefördert werden können. Darüber zu spekulieren, wäre allerdings reine Energieverschwendung.

Die ungewöhnliche Sprachentwicklung unseres Sohnes äußerte sich in vielen Besonderheiten. Außer der Beobachtung, dass Benjamin eher mit sich selbst sprach und nur bei dringenden Bedürfnissen mit uns kommunizierte, fiel uns auf, dass er keine Zweiwortsätze bildete. Einige Wörter sprach er sehr deutlich aus, andere dagegen nur rudimentär. Schon damals beobachteten wir, dass er viele Wörter lediglich ein einziges Mal benutzte. Danach schienen sie aus seinem Sprachgebrauch verschwunden zu sein. Es sollte noch über drei Jahre dauern, bis wir die Gewissheit hatten, dass davon nur Benjamins aktiver Wortschatz betroffen war, keineswegs jedoch sein passiver Wortschatz. Viele kleine, zufällige Erlebnisse zeigten uns immer wieder, dass sein Sprachverständnis sich nahezu altersgerecht entwickelte. So erwiderte er auf die Feststellung, dass sein Teller „Alle, alle!“ sei, immer: „Leer!“. Im Übrigen war er laufend damit beschäftigt, seine Spiele mit ausdauernden Monologen zu kommentieren, aber uns gelang es kaum, ein für uns verständliches Wort herauszuhören. Die folgende Aufzählung soll seine Sprachentwicklung in dieser Zeit verdeutlichen:

 10 Monate: „pap-pap“

 11 Monate: „Ball-la“

 12 Monate: „brumm, brumm“ (Auto)

 13 Monate: „danke“

 14 Monate: „mam-mam“ (für Essen und Zähneputzen), „Nani“ (Banane), „alle“

 15 Monate: „Hammer“

 16 Monate: „Teddy“ (zu allen Plüschtieren)

 17 Monate: „Leiter“, „Eimer“, „Gag-gag“ (alle Badetiere), „Nane“ (Banane), „Mama“ und „Papa“ (nicht als Anredeform)

 18 Monate: „Decke“, „Auto“ (Autos und Boote)

 19 Monate: „eins, zwei, drei“, „geht nicht“, „halt“

 20 Monate: „Nein, nein“, „Kröte“, „mehr“, „baden“, „Didi“ (Dinosaurier und Krokodile), „Mille“ (Milch)

 21 Monate: „na klar“, „Wasser“

 22 Monate: „Hallo“ (ins Spielzeugtelefon), „Ei“, „Wau“, „leer“, „Saft“

 23 Monate: „Arielle“, „Ines“

Mehr verständliche Worte bekamen wir in den ersten zwei Lebensjahren von unserem Sohn nicht zu hören. Ein zweijähriges Kind sollte einen Wortschatz „von vielleicht 30 Wörtern“2 bis zu 2503 Wörtern besitzen, aber kann man Wörter, die nur ein einziges Mal oder sehr selten benutzt werden, als Wortschatz bezeichnen? Wörter wie „eins, zwei, drei“ oder „Kröte“ zählten für mich damals jedenfalls nicht zum Wortschatz meines Kindes, weil ich sie für Zufälle hielt. Auch heute vermag ich auf diese Frage keine Antwort zu geben. Auffällig war weiterhin, dass Benjamin keine Fragewörter benutzte, keine Fragen beantwortete und uns nicht mit Mama oder Papa ansprach. „Mama“ und „Papa“ glaubten wir wenige Male in seinen Monologen zu hören, wenn er mit seinem DUPLO-Zoo spielte. Er benutzte seine karge Sprache nur, um etwas zu bekommen, jedoch nicht, um mit anderen Kontakt aufzunehmen. Warum konnte er aber seine Spiele mit einem derart lebhaften Geplapper untermalen und warum blieb die Qualität seiner Sprache dabei unverändert? Bücher zum Thema Spracherwerb wurden nun zu meiner bevorzugten Lektüre, aber keines kannte unsere Probleme und konnte mir irgendwie weiterhelfen. Wie sollte ich zum Beispiel einem Kind Bilderbücher vorlesen, wenn ich es nicht dazu bewegen konnte, neben mir zu sitzen und zuzuhören? Warum war mein Kind nicht an meinen Vorlesekünsten interessiert? Auch für Fingerspiele, Singen oder Musizieren zeigte Benjamin kein Interesse. Wenigstens ertrug er es einigermaßen gelassen, wenn ich mit Conrad sang und musizierte, immer in der Hoffnung, er würde sich doch einmal zu uns gesellen. Die Tochter meiner Freundin, die fast zweijährige Lisa, ließ sich inzwischen von mir mit großer Freude Bücher vorlesen, beantwortete bereitwillig einfache Fragen und hörte auch gespannt zu, wenn Conrad für Lisa den Inhalt von Benjamins Büchern erzählte. Benjamin schien das überhaupt nicht zu stören, er war kein bisschen eifersüchtig auf Lisa. Im Gegenteil: Offenbar war er froh, wenn sich niemand in sein Spiel einmischte. Er genoss es, nicht beachtet zu werden. Zu Beginn hielt ich das Fehlen von Eifersucht für eine charakterliche Stärke meines Sohnes, aber ziemlich bald fragte ich mich, ob es nicht eher ein Defizit in seiner sozialen Entwicklung darstellte.

Von den Büchern zum Thema Sprache und Spracherwerb wurden wir genauso enttäuscht wie von anderen Ratgebern. Werke mit verheißungsvollen Titeln wie „Jedes Kind kann Regeln lernen“, „Jedes Kind kann richtig essen“ oder „Jedes Kind kann schlafen lernen“, die sich „Kompetente Ratgeber für den Alltag“ nennen, wurden von einigen unserer Bekannten hoch gelobt und uns empfohlen, weil wir dort Hilfe finden würden. Wir als verzweifelte Eltern mussten allerdings feststellen, dass all diese vielversprechenden Ratschläge bei unserem Kind nicht funktionierten und uns keinen Schritt weiterbrachten. Gehörte unser Sohn also nicht zu der Kategorie „jedes Kind“? Und wenn er nicht ein „jedes Kind“ ist, was ist er dann für ein Kind?

Eines Abends, kurz vor Benjamins zweitem Geburtstag, bemerkten wir einen bedrohlichen Riss im Putz der Decke des Kinderzimmers. Ich nahm die Kinder und kreuzte kurzerhand bei meinen Eltern auf, während mein Mann die Feuerwehr rief. Die Kinder hatten schon gegessen und gebadet und sollten gerade ins Bett gebracht werden. Um ihnen unnötige Aufregung zu ersparen, hielten wir es für besser, dass ich mit ihnen wegging, bis die Situation geklärt war. Doch Benjamin fing schon an zu weinen, als wir bei seinen Großeltern vor der Tür standen. Drinnen versuchte ich, mich mit den Kindern auf eine Couch zu legen, um wenigstens ein bisschen zu schlafen, aber Benjamin stand auf der Couch, versuchte trotz Schlafsack zu fliehen und weinte immer lauter. Seine Großmutter kam herein, um mir gute Ratschläge zu geben, und Benjamin weinte noch heftiger. Sie hielt mich offenbar für völlig unfähig im Umgang mit diesem Kind, wobei ich das langsam selber glaubte, denn jeder Versuch, ihn zu beruhigen, scheiterte. Jedes Mal, wenn meine Mutter eine neue Idee zum Beruhigen zu haben glaubte, kam sie erneut herein und jedes Mal schien Benjamin noch verzweifelter zu weinen. Sicherlich hatte meine Mutter das nur gut gemeint, aber sie konnte mir nicht glauben, dass dieses kleine Kind voller Panik war und keinen Ausweg für sich aus dieser Situation sah. Vielleicht glaubte Benjamin, er müsse jetzt für immer hier bleiben oder ich würde ihn verlassen oder … Ich konnte nur mit Sicherheit sagen, dass es pure, nackte Angst war, die dieses kleine Bündel in meinen Armen verspürte, gepaart mit Hilflosigkeit, Müdigkeit und dem Gefühl einer Ohnmacht der ganzen Situation gegenüber. Auch ich fühlte mich hilflos, denn nichts, was ein anderes Kind beruhigt hätte, funktionierte bei Benjamin: kein Streicheln, kein Zureden, kein Singen, kein Schmusetier, kein Lieblingskissen, kein Trinken, kein Keks … Meine Arme schmerzten, denn es war Schwerstarbeit, Benjamin, der heftig um sich schlug, festzuhalten, damit er nicht sich oder andere verletzte. Gerade als ich nach mehreren Stunden kaum noch die Kraft hatte, mit dieser Situation weiterhin fertig zu werden, kam mein Mann und erklärte uns, der Gutachter der Feuerwehr hielte den Riss für ungefährlich, und deshalb würde er uns jetzt wieder nach Hause bringen. Kaum hatte er das gesagt und Benjamin auf den Arm genommen, hörte unser Sohn auf zu weinen, schluchzte nur noch kläglich und sank erschöpft auf die Schulter meines Mannes. Hatte er die Worte meines Mannes wirklich richtig verstanden? Da er sonst auf Fragen oder Bitten nie reagierte, zweifelte ich oft daran, ob er verstand, was wir sagten. Jetzt wurden diese Zweifel gerade wieder einmal zerstreut. Endlich zu Hause angekommen, kroch Benjamin sofort in sein Bett, obwohl er noch seine Jacke über seinem Schlafsack trug. Das wunderte uns sehr, denn so ein „Fehler“ unterlief ihm sonst nie. Noch mehr waren wir aber erstaunt, als wir sahen, dass Benjamin sofort einschlief. Eigentlich hatte ich mich innerlich schon auf massive Einschlafprobleme eingestellt. War er vom vielen Weinen körperlich zu ausgelaugt? Sicherlich, denn nach ein paar Stunden Schlaf wachte er wieder weinend auf und es folgten wie immer unzählige Beruhigungsversuche. Zu dieser Zeit war ich aber wenigstens durch die kleine Portion Schlaf etwas ausgeruht. In mir regte sich die bange Frage, wie lange ich noch diesen physischen Belastungen standhalten konnte, wenn Benjamin jede Fremdbetreuung verweigerte.

Meine zwei Erziehungsjahre waren fast um und erneut sah unsere theoretische Planung vor, dass ich meine Berufstätigkeit nun wieder aufnehmen würde. Allerdings wusste ich nicht, wie sich Benjamin in den Kindergarten eingewöhnen sollte, da er noch immer keine Person außer mir und meinem Mann an sich heranließ. Die Kinderärztin äußerte sich bedenklich zu einem Kindergartenbesuch, da er weiterhin häufig krank war. Gerade hatte er wieder einmal eine Rachenentzündung überstanden, schon fieberte er erneut. Ich beschloss, meinen Sohn wenigstens in der Kindertagesstätte einmal vorzustellen, denn vielleicht würde mir dies erleichtern, eine Entscheidung zu fällen. Benjamin verhielt sich in der fremden Umgebung nicht so ängstlich wie erwartet. Er weinte nicht, verließ auch kurzzeitig meinen Arm und lief ein paar Schritte herum – was für ein Fortschritt! Das spielte sich aber alles nur im Büro der Leiterin ab und er bekam kein fremdes Kind zu Gesicht. Trotzdem schöpfte ich neue Hoffnung, vielleicht war das Eis ja nun gebrochen. Diese Hoffnung wurde jäh zerstört, als mir die Leiterin erklärte, dass sie keine Kinder aufnähme, die mit zwei Jahren noch nicht sauber seien. Es stünden genug Kinder auf der Warteliste und die Erzieherinnen hätten eh schon genug zu tun. Ich würde aber meinen Platz auf der Warteliste nicht verlieren und könne mich wieder melden, wenn Benjamin sauber wäre. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet und so verschlug es mir die Sprache. Was konnten wir jetzt noch tun? Meine Vernunft riet mir, in meinen geliebten Beruf zurückzukehren, mein Bauchgefühl sagte mir, dass mich mein kleines, kompliziertes Söhnchen dringender brauchte. Mein Bauchgefühl siegte und dabei spürte ich eine wohltuende Erleichterung. Diese Entscheidung habe ich nie bereut. Wir beschlossen, Benjamin vorerst für ein weiteres Jahr zu Hause zu behalten.

 

Im verregneten Herbst begannen wir, Benjamin am Wochenende manchmal zu erlauben, einen Kinderfilm zu schauen. Conrad konsumierte zu dieser Zeit ausschließlich Disney-Filme und so kuschelten wir uns alle zusammen und sahen, anstatt Mittagschlaf von Benjamin zu erhoffen, einen Film. Ich war mir allerdings nie sicher, wie viel Benjamin von der Handlung mitbekam. Er schaute die Filme ruhig und konzentriert und ich wusste, dass wir den Film auf keinen Fall unterbrechen durften, wenn wir die Harmonie des Nachmittages nicht gefährden wollten. Die aktuellen Lieblingsfilme unserer Kinder waren Bambi und Dumbo. Benjamin schaute diese Filme auch in der x-ten Wiederholung genauso konzentriert. Er redete dabei nie und zeigte uns keine Szenen, die ihm vielleicht gefielen. Als er zum ersten Mal Cinderella sah, brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus, und zwar an der Stelle, als eine neue Maus ins Haus kam. Diese Maus war so dick, dass das Hemdchen, welches sie von Cinderella übergestreift bekam, nach oben schnippte und das Mäusebäuchlein freigab. Dieses herzhafte Lachen zeigte uns, dass Benjamin wenigstens teilweise verstand, was in diesen Filmen vor sich ging. Er lachte übrigens bei jeder Wiederholung des Filmes an exakt derselben Stelle, was ihm für eine Weile den Spitznamen „Mäuschen“ einbrachte. Eine Parallele dazu fand ich im Bericht einer Mutter über ihren autistischen Sohn: „Kinobesuche waren eine der wenigen Unternehmungen, die Whitneys Aufmerksamkeit fesselten – und mir etwas Ruhe verschafften. […] Eines Nachmittags schauten wir uns […] Schneewittchen an. Die Zwerge kamen gerade von ihrer schweren Arbeit im Bergwerk zurück und wuschen sich. Als sie ihre Bärte einschäumten, brach Whitney unvermittelt in Lachen aus.“4 Der hier beschriebene Junge hatte bis dahin keinen Laut von sich gegeben.

Viele Jahre später wurde ich von mehreren Fachleuten und Therapeuten gefragt, wann wir denn bei unserem Sohn das erste Mal an Autismus gedacht hätten: Es war genau in dieser Zeit um seinen zweiten Geburtstag herum. Auch wenn die Kinderärztin vorerst nichts Bedrohliches in der Entwicklung unseres Sohnes sah, machten wir uns weiterhin Gedanken und suchten nach Erklärungen. Hatten wir ein verhaltensgestörtes Kind? Und wenn ja, was würde das überhaupt bedeuten? Von einer Tabelle „Typische Eigenschaften eines verhaltensgestörten Kindes“5 glaubte ich, folgende Kriterien würden auf unser Kind zutreffen: „Folgt Anweisungen nicht. […] Spricht auf Disziplin nicht an. […] Wutanfälle. Hört Erzählungen nicht richtig zu. Trotz. […] Reizbarkeit. […] Sprachstörungen. Ungeduld.“ Wobei ich Wutanfälle und Trotz eigentlich für Angst und Panik hielt, aber das kam in dieser Tabelle nicht vor. Eine solche Anzahl von typischen Merkmalen ließe nun soziale Anpassungsschwierigkeiten vermuten. Dies brachte uns auf den Gedanken an Autismus. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt den Film „Rain Man“, aber dieser Autist hatte mit unserem Sohn nur die Gemeinsamkeit, dass er auf absoluter Gleichförmigkeit seines Alltags bestand. Andererseits erzählte der Film fast nichts über die Kindheit des Protagonisten. Weitere Recherchen führten uns zu der Erkenntnis, dass es sich bei Benjamins Problemen nicht um Autismus handeln konnte, da wir zur damaligen Zeit in der uns zugänglichen Literatur nur folgendes Bild eines Autisten fanden: „Das Kind hält sich von jedem fern, kann keine Beziehungen aufbauen, vermeidet Augenkontakt, spielt alleine für sich […]. Typisches Merkmal ist ein extremer Widerstand gegen Änderungen jeglicher Art. Das Kind reagiert mit heftigen Wutausbrüchen auf Störungen des Tagesablaufs oder seiner Tätigkeit. Beim Spielen entwickelt es Rituale, geht oft enge Bindungen zu Gegenständen ein, hat einen Hang zu Eintönigkeit und ist oft wie besessen von einem Thema. Die extreme Abkapselung macht es schwer, dem Kind neue Fähigkeiten zu vermitteln. Auch sonst verhält sich ein autistisches Kind ungewöhnlich: Es geht auf Zehenspitzen, spielt stundenlang mit den Fingern und wiegt sich endlos.“6 Nein, das war nicht unser Sohn, der dort beschrieben wurde. Einiges mochte ja zutreffen, aber Benjamin hatte zumindest zu uns Eltern eine innige Beziehung, hielt kurzzeitig Blickkontakt und wiegte sich nicht stundenlang oder ging auf Zehenspitzen. Da niemand außer uns die Probleme unseres Sohnes erkannte oder sehen wollte, beschlossen wir, an allem, was uns beunruhigte, mit Benjamin zu arbeiten.

In der Wohnung war es eine von Benjamins Lieblingsbeschäftigungen, mit einem Rutscherauto herumzusausen. Das hatte er vor knapp einem Jahr gelernt und er zeigte ungebrochene Freude daran. Nun versuchte ich, ihm draußen das Dreiradfahren beizubringen. Seit Wochen hatten wir einen festen wöchentlichen Termin zum Üben. Am Anfang weigerte sich Benjamin, sich auf das Dreirad zu setzen. Stattdessen schob er es durch die Gegend. Jetzt, da er endlich bereit war, sich auf das ungewohnte Gefährt zu setzen, konnte ich ihn nicht dazu bewegen, die Füße auf die Pedalen zu stellen. Gewohnheitsmäßig wollte er das Dreirad immer wieder wie ein Rutscherauto benutzen und drohte jedes Mal dabei umzukippen. Egal wie viel Energie ich auch in dieses Projekt steckte, es gelang mir nicht, Benjamin das Dreiradfahren beizubringen. Er lernte zwar später mit einem Kindertraktor in die Pedalen zu treten, aber zu dieser Zeit entmutigte mich dieser Rückschlag sehr. Dahinter verbarg sich die ängstliche Frage, was ich ihm überhaupt beibringen konnte. Oder lernt er nur Dinge, die er sich selbst beibringt oder selbst erkennt wie zum Beispiel das Bauen mit DUPLO-Bausteinen? In der Erzählung eines autistischen Jungen las ich später Folgendes zum Thema Dreiradfahren: „Der Junge setzte sich auf das Dreirad, während die Eltern abwechselnd von hinten schoben. […] Der Junge blieb passiv sitzen […].“„Los, befahl der Junge schweigend seinen Beinen. Doch die Beine bewegten sich nicht, und Mutter und Sohn wurden besorgt und wütend.“7 Beim Lesen dieser Passage fragte ich mich unwillkürlich, ob es meinem Sohn damals genauso ergangen war. Konnte er seinen Beinen nicht befehlen, in die Pedalen zu treten?

Auf anderen Gebieten konnte ich bis zum dreißigsten Lebensmonat immer häufiger kleine Erfolge verbuchen. So gelang es mir nach über einem Jahr Übung, Benjamin beizubringen, einen Stift zu halten und damit selbständig ein paar Striche zu ziehen. Dabei handelte ich ähnlich wie damals mit dem Löffel. Ich gab meinem Sohn immer wieder einen Stift in die Hand, hielt ihn fest und zog ein paar Linien mit ihm zusammen. Diese Bilder befestigte ich dann neben Conrads Kunstwerken an der Pinnwand. Das erste Ergebnis, ein kleines von Benjamin eigenhändig verziertes Partydeckchen, rührte mich damals zu Tränen. Niemand außer meinem Mann konnte das nachvollziehen, denn für gewöhnlich greifen kleine Kinder selbst zum Stift und malen munter drauflos. Die meisten Eltern, die wir kannten, wussten das überhaupt nicht zu würdigen, sondern waren eher genervt, wenn ihr Kind dann auch Wände oder andere Dinge verzierte. Im Buddelkasten zeigte Benjamin mittlerweile immer mehr Ausdauer, sofern ich mich dazu setzte und mit ihm Sandburgen, Straßen oder andere Dinge baute. Ich musste ihm Schritt für Schritt beibringen, wie man buddelt, weil er dafür keinen Plan zu haben schien. Entfernte ich mich aus dem Buddelkasten, so hörte er auf zu buddeln und trat den Heimweg an. Selten ertrug mein Sohn jetzt auch andere Kinder im Buddelkasten, wenn sie weit genug weg und nicht zu laut waren, und wenn sie in geringer Anzahl auftraten. An guten Tagen, das heißt an Tagen ohne Arztbesuche oder andere Unregelmäßigkeiten, und wenn Benjamin einigermaßen störungsfrei geschlafen hatte, ließ er sich manchmal kurz in ein Geschäft oder in den Supermarkt mitnehmen. Dabei saß er aber immer noch im Buggy oder im Kindersitz des Einkaufswagens. Jedes Mal musste ich peinlich genau darauf achten, dass niemand Benjamin ungebührlich nahe kam. Denn dann konnte die ganze Situation kippen und Benjamin die Fassung verlieren.

In dieser Zeit erlebte ich es häufig, dass wildfremde Frauen auf mich zukamen und mir mehr oder weniger freundlich Ratschläge zur Sprachentwicklung meines Sohnes gaben, wenn sie sein munteres, aber offensichtlich völlig sinnloses Geplapper hörten. Der häufigste Vorwurf bestand darin, dass ich mit meinem Sohn zu wenig reden würde. Ich stand dann jedes Mal völlig hilflos und wütend da. Hilflos, weil ich so sehr nach einer Erklärung für die Probleme von Benjamin suchte und seine Sprachprobleme dabei momentan in unseren Fokus gerückt waren. Und wütend, weil sich diese Frauen anmaßten, mir zu unterstellen, ich würde nicht mein Möglichstes tun und weil sie glaubten, alles besser zu wissen. Konnten sie sich denn nicht vorstellen, dass es auch Dinge gab, von denen sie keine Ahnung hatten? Ich möchte nicht überheblich wirken, aber ich kannte meinen Sohn besser und ich hatte einen zweiten Sohn, der sich prächtig entwickelte.

Auch beim Windelkauf mit Benjamin bekam ich ungefragt Tipps zur Sauberkeitserziehung. Ich erinnere mich an eine Szene, wo eine Frau mittleren Alters nicht mich, sondern Benjamin just in dem Moment ansprach, als ich mich bückte, um aus dem untersten Regalfach die Maxiwindeln hervorzuziehen. Diese Frau kreischte ihn mit schriller Stimme an: „So ein großer Junge und braucht noch Windeln. Du solltest dich aber schämen, in deinem Alter!“ Es kam, was kommen musste: Benjamin schrie verzweifelt auf, fing an, mit Händen und Füßen um sich zu schlagen, und wurde völlig hysterisch. Ich verließ sofort mit Benjamin den Supermarkt, wobei die Frau mir noch hinterherrief, dass „dieses Gör“ ja völlig verzogen sei. Wie kommt es nur, dass ein bestimmter Typ von Frauen glaubt, alles über Kindererziehung zu wissen und alles richtig zu machen oder richtig gemacht zu haben? Wie vermochte ich mich solchen Personen zu entziehen, die einem doch überall begegnen konnten? Sollte ich mich mit Benjamin zurückziehen, nur weil solche Leute versuchten, die zarten Pflänzchen unserer kleinen Erfolge zu zertreten? Wie gerne hätte ich mit jemandem geredet, der mir wirklich sagen konnte, welcher Natur all die Ungereimtheiten in Benjamins Entwicklung waren.

Als wir wieder einmal meine Freundin Victoria und ihre Tochter Lisa besuchten, bescherte mir Benjamin abermals eins von den verblüffenden Erlebnissen, die mich schon öfter in Staunen versetzt hatten. Lisa und Benjamin saßen auf einer Decke und hatten Lisas gesamten Buchbestand um sich geschart. Das ging so weit auch gut, weil Lisa inzwischen eingesehen hatte, dass Benjamin „sauer“ wird, wenn sie ihn stört, also beschäftigte sie sich lieber mit Conrad, dem die Rolle als Großer sichtlich gefiel. Benjamin blätterte wie immer ein Buch nach dem anderen mit rasender Geschwindigkeit durch. Lisa zeigte geduldig auf Dinge, nach denen Conrad sie fragte oder beantwortete auch Fragen wie: „Und was ist das hier?“ Conrad nahm ein Gummibuch und breitete es vor Lisa aus. Gerade holte er Luft, um seine nächste Frage zu formulieren, da sprang Benjamin, der vorher etwas abseits und halb abgewendet dagesessen hatte, herbei und zeigte auf ein Haus mit dem Kommentar: „Haus“. Und dann gleich noch einmal: „Eimer“, und er wies auf einen Eimer. Ich war völlig sprachlos und überrumpelt und auch Victoria schaute mich ungläubig an. Benjamin beachtete uns nicht weiter und nahm seine vorherige Tätigkeit wieder auf. Wir dagegen diskutierten nun, was das bedeuten könnte. Unterschätzte ich vielleicht völlig seine Fähigkeiten? Fand es Benjamin langweilig, wenn ich ihn dazu bewegen wollte, über seine Bilderbücher mit mir zu kommunizieren? Jedenfalls hatte ich jetzt die Gewissheit, dass er zumindest teilweise mitbekam, was er sich in seinen Büchern anschaute. Leider war dieses Zeigen und Benennen eine Eintagsfliege. Und wieder stand die Frage im Raum, warum Benjamin weder Lob noch Beachtung für seine Leistung erwartete. Und warum hatte er sich in diesem Moment zu dieser Leistung hinreißen lassen, wo er doch sonst derartige Aktivitäten verweigerte. Äußerte ich vielleicht eine Bemerkung über Benjamin zu Victoria, die meinen Sohn zu dieser spontanen Idee veranlasste? Meine Gedanken kreisten wieder einmal immer schneller und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen türmten sich auf. Ich wusste auch nicht, wie ich jetzt verfahren sollte. War es richtig, weiter zu versuchen, mit Benjamin gemeinsam Bücher anzuschauen oder war es überflüssig, weil Benjamin kein Interesse daran zeigte und offensichtlich auch so genug lernte? Aber Lernen war nicht alleine entscheidend. Was nutzte es ihm, wenn er lernte, aber nicht mit anderen kommunizieren konnte? Wenn bei den meisten kleinen Kindern Lernen ein Ergebnis von Kommunikation war, so war es bei Benjamin offenbar umgekehrt. Bei ihm musste ich Gelerntes nutzen, um ihm Kommunikation und Interaktion beizubringen. Für uns war das eine wichtige Erkenntnis, für die Personen in unserer Umgebung war es unverständlicher Quatsch.

 

Da Benjamin vorerst als Hauskind aufwuchs, beschloss ich, mit ihm eine Kleinkindgruppe der evangelischen Kirche aufzusuchen, um ihm die Möglichkeit zu geben, soziale Kontakte zu gleichaltrigen Kindern zu knüpfen. Bis jetzt hatte das nicht geklappt und ich glaubte damals, dass nur die Personen oder die Umstände daran schuld wären. Waren die Kinder meiner Freundinnen nicht nach seinem Geschmack? Vielleicht fand er Lisa zu schüchtern und Kilian zu draufgängerisch … Oder er konnte in einer unstrukturierten Umgebung, wie es der Spielplatz war, keine Kontakte knüpfen. Deshalb schien mir die kleine Mutter-Kind-Gruppe im Gemeinderaum des Pfarrhauses eine ideale Umgebung zu sein. Aber unser erster Besuch dort sollte auch unser letzter sein. Da ich den Buggy im Flur abstellen musste, hatte ich große Mühe, Benjamin mit Drängeln und Schieben in den Raum zu bekommen. Wenigstens weinte er nicht. Er versteckte sich hinter meinem Rücken, als die Leiterin der Gruppe, eine Nonne, ihn begrüßen wollte. „Na, da haben wir aber "nen ganz Schüchternen“, sagte sie und ließ ihn nach dieser Bemerkung zu meiner Erleichterung in Ruhe. Durch weiteres Drängeln und Schieben schafften wir es bis zu einem Stuhl. Benjamin kletterte auf meinen Schoß und klammerte sich wie ein kleines Äffchen an mir fest. Wahrscheinlich wollte er in dieser Haltung einfach diese neuerliche Tortur, die ich mir für ihn ausgedacht hatte, überstehen. Zu seinem Leidwesen kamen aber jetzt einige Kinder der Spielgruppe, die an dem Neuzugang interessiert waren, auf uns zu und stellten Fragen wie: „Wie heißt der denn?“ oder „Warum kommt der denn nicht spielen“. Benjamin vergrub sich immer tiefer in meinem Schulterblatt und fing an zu zittern. Währenddessen hatte Conrad die mitgebrachten Kekse auf den Imbisstisch gelegt und war in der Spielecke verschwunden. Das Rascheln der Kekspackung weckte schlagartig Benjamins Aufmerksamkeit. Essbares, was frei herumlag, konnte er nicht ertragen. Er kletterte herunter und rannte an den Kindern vorbei zu dem Tisch mit den Köstlichkeiten. Noch ehe er dort angekommen war, stellte sich die Leiterin in den Weg und Benjamin erschrak zutiefst. Weinend kehrte er zu mir zurück, worauf die Nonne mir streng erklärte: „Wir verzehren die Gaben Gottes erst nach der Spielstunde, und zwar gemeinsam.“ Irgendwie musste ich Benjamin beruhigen, also gab ich ihm einen Keks aus meiner Tasche. Wie sollte ich ihm erklären, dass er das Essen noch nicht anrühren darf, wo er mir doch scheinbar nicht zuhörte? Zu Hause lag kein Essen offen herum, weil Benjamin sonst nur am Futtern gewesen wäre. Er hatte offensichtlich immer Hunger oder Appetit. Jetzt wurde die Nonne sehr ärgerlich und warf mir vor, ich würde die Regeln des Zusammenseins nicht befolgen und ich solle nicht die Erziehung der anderen Mütter untergraben, indem ich meinem Kind freien Lauf ließe. Ein bisschen Strenge habe noch keinem Kind geschadet. Auch einige der anwesenden Mütter fingen an, über mich und mein ungezogenes Kind zu tuscheln. Es ist immer schwer, in eine bestehende Gruppe neu dazuzukommen, aber mit Benjamin schien es unmöglich. Ich hatte nur mit diesem Kind zu tun und konnte nicht einmal ein Gespräch beginnen. Was wollte ich eigentlich hier? Kaum war der Keks verschwunden, forderte Benjamin den nächsten. Als ich ihm den verweigerte, lief er weinend zur Tür. Da er aufgrund seiner Körpergröße die Türklinke erreichte, musste ich hinterherlaufen, sonst wäre er weggelaufen. Nachdem wir das mehrmals durchhatten – weglaufen, einfangen, zurückbringen, weglaufen … – war ich am Ende meiner Kräfte, zumal mein nunmehr kugelrunder Babybauch meine Bewegungsfreiheit erheblich einschränkte. Ich gab auf und verabschiedete mich mit der Ausrede, noch einen Arzttermin zu haben. Die Nonne fragte mich in einem zuckersüßen Ton: „Werden wir Sie nächste Woche wieder in unserer Runde begrüßen dürfen?“ Ich sagte ja, falls mir nicht mein Baby einen Strich durch die Rechnung macht. Das war gelogen, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass ich da nicht wieder hingehen würde, war aber zu feige, es zuzugeben. Hinterher fragte ich mich, was eigentlich wichtiger war: Benjamins Wohlergehen oder Regeln durchzusetzen, die mein Kind nicht begreifen würde, um in der Gruppe nicht aufzufallen? Tat ich wirklich das Richtige für Benjamin, wenn ich immer nur so viel bunte, grelle Welt an ihn heranließ, wie er bereit war zu ertragen? Jedes Mal, wenn ich seine Angst und Panik wieder hautnah spürte, so wie in der Nacht, die diesem Besuch der Spielgruppe folgte, war ich überzeugt, das Richtige zu tun. Sah ich dann wieder Mütter, die mit gleichaltrigen Kindern gelassen die Kinderarztpraxis, den Spielplatz oder einen Laden betraten, dann keimten Zweifel an meiner Fähigkeit als Mutter in mir. Hätte ich doch wenigstens unsere Probleme in überzeugende Worte fassen können, aber es gab keine Bezeichnung oder Erklärung für das, was ich Tag für Tag mit Benjamin erlebte, jedenfalls noch nicht.

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