Friedens- und Konfliktforschung

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Part II: Weltpolitische Konflikte – Begriff, Formationen und Austragungsformen

4 Konflikt – Konzeptionelle Vorüberlegungen

Konflikt zählt zu den zentralen Grundbegriffen – nicht nur der Friedens- und Konfliktforschung, sondern der gesamten Sozialwissenschaften. Konflikte sind allgegenwärtig: Sie sind auf weltpolitischer Ebene, zwischenstaatlich, innergesellschaftlich sowie zwischenmenschlich und sogar intrapersonal anzutreffen. Zugleich gehört der Konfliktbegriff zu den umstrittensten seines Fachs. Er kann auf verschiedenste Weise verstanden und unterschiedlich eng und weit gefasst werden. Diese Debatten hat der Konfliktbegriff mit dem des Friedens gemeinsam. In der normativen Bewertung zeigen sich jedoch fundamentale Unterschiede: Zählt der Frieden als höchstes und anzustrebendes Gut, verbindet sich mit dem Terminus des Konflikts – insbesondere in seinem Alltagsverständnis – eine in der Regel negative Konnotation. Konflikte gelten gemeinhin als gewaltsame Erscheinungen, die einem friedlichen Miteinander abträglich und zu vermeiden beziehungsweise, sofern ausgebrochen, zu beenden sind. Ist ein solches Konfliktverständnis aber auch wissenschaftlich zu rechtfertigen und zu stützen? Dafür ist zunächst der Terminus selbst in den Blick zu nehmen.

4.1 Zum Konfliktbegriff

Konflikt ist dem lateinischen Ausdruck conflictus entlehnt und steht für Widerstreit und Zwiespalt. Etymologisch geht er auf confligere zurück, zusammengesetzt aus dem Präfix con (lateinisch für mit, zusammen) und dem Verb fligere (lateinisch für prallen). In dieser Ableitung stellen Konflikte – zunächst völlig wertneutral und unvoreingenommen – soziale Interaktionen beziehungsweise „soziale Tatbestände“ (Bonacker und Imbusch 2006, S.68) dar, an denen mindestens zwei Akteure1 (Individuen, Gruppen, Organisationen, Staaten etc.) beteiligt sind, charakterisiert durch unvereinbare Positionsdifferenzen.

Johan Galtung (2007, S.135f.) betrachtet Konflikte als „triadisches Konstrukt“ (vgl. Schaubild 5), bestehend aus:

 dem Verhalten der Konfliktakteure, die den Konflikt anzeigen und bewusst werden lassen,

 den Einstellungen und Annahmen der Konfliktakteure in Bezug auf die angenommenen Konfliktursachen, die Wahrnehmung der eigenen Position und die Bewertung der anderen Partei sowie

 dem Widerspruch, ausgedrückt in inkompatiblen Zielzuständen.

Schaubild 5:

Das Konfliktdreieck nach Johan Galtung (2007, S.136)

„Konflikt = Annahmen/Einstellungen + Verhalten + Widerspruch/Inhalt“ – so die Galtungsche Kurzformel (2007, S.135). Zwischen allen drei Komponenten besteht ein enger Zusammenhang; sie sind stets im Kontext zu betrachten. Dabei könne ein Konflikt von jedem Punkt aus beginnen: Beispielsweise könne ein Widerspruch, der ein gewünschtes Ziel versperrt, als Frustration erlebt werden und zu einer aggressiven Einstellung und einem aggressiven Verhalten führen. Aber auch negative Einstellungen oder Verhaltensdispositionen können – sofern „etwas ‚auftaucht’, das nach einem Problem aussieht“ (Galtung 2007, S.137) – aktiviert werden und zu einem manifesten Konflikt führen. Diese Mechanismen bergen das Potenzial, Gewaltspiralen auszulösen. Zugleich lassen sich aber auch negative Einstellungen und negatives Verhalten zügeln und Widersprüche überwinden.

Galtung unterscheidet zudem zwischen der manifesten (sichtbaren) und latenten (unsichtbaren) Ebene eines Konflikts. Das Konfliktverhalten bildet die manifeste Ebene. Dagegen bleiben die Einstellungen der Akteure sowie ihre verfolgten Absichten und Ziele häufig im Verborgenen. Sie bilden die latente, unterbewusste Ebene des Konflikts. Dabei gebe es zwar Konflikte, die sich ausschließlich auf der latenten Ebene befinden, nicht dagegen Konflikte, die allein auf manifester Ebene verortet werden können.

Soll aus einem Konflikt ein manifester werden, müssen die widerstreitenden, unvereinbaren Positionsdifferenzen auch offen kommuniziert werden. Das heißt: Die Positionsdifferenzen müssen den Akteuren bewusst sein und für sie handlungsbestimmend werden. Zudem müssen sie – so Werner Link (1994, S.100) – „eine kritische Spannung im Beziehungszusammenhang bilden“. Letzteres stellt eine notwendige Bedingung dafür dar, dass „aus in sich selbst ruhenden Individuen Konfliktparteien werden“ (Meyer 2011, S.29).

4.2 Konflikte – unerwünschte Erscheinungen?

Wie ein Konflikt bewertet und ob er als destruktive oder konstruktive Kraft wahrgenommen wird, hängt wesentlich von den jeweiligen theoretischen Vorannahmen ab. Idealtypisch lassen sich vier konflikttheoretische Positionen ausmachen (vgl. Bonacker und Imbusch 2006, S.76f.):

 Aus der Sicht konservativer Gesellschaftstheorien gilt Konflikt als pathologische Erscheinung, der die soziale Ordnung bedrohe und zu bekämpfen sei. Dem Konflikt kommt hier eine ausschließlich negative Funktion zu; die gesellschaftliche Konfliktrealität wird dabei weitgehend geleugnet.

 In einer abgeschwächten Variante wird Konflikt als Dysfunktion betrachtet. Hier wird die gesellschaftliche Konfliktrealität zwar nicht negiert, der Konflikt aber doch weitgehend negativ bewertet, sei er ein Anzeichen für die mangelnde Effizienz beziehungsweise das Nicht-Funktionieren gesellschaftlicher Strukturen.

 Andere betonen dagegen die integrative Funktion von Konflikten. Aus dieser Perspektive sei der Konflikt ein normales Phänomen von Gesellschaften. Hier erfährt der Konflikt eine positive Bewertung, insbesondere infolge seiner angenommenen systemintegrativen Funktionen.

 Darüber hinaus gibt es Vertreterinnen und Vertreter, die Konflikt als Katalysator sozialen Wandels betrachten. Aus dieser Perspektive werden soziale Konflikte als für die gesellschaftliche Entwicklung notwendiges Moment und Fortschritt der Geschichte verstanden.

Was bedeutet nun aber die sozialwissenschaftliche Anerkennung der Rolle von Konflikten für den sozialen Wandel für die Friedens- und Konfliktforschung? Wie passt diese positive Funktionszuschreibung zu dem auch in der Friedens- und Konfliktforschung vorherrschenden negativen Bild von Konflikten? Hier gilt es zunächst, zwischen dem Konflikt und Formen seines Austrags zu unterscheiden (vgl. Wasmuht 1992, S.7; Bonacker und Imbusch 2006, S.68f.). Denn erfahren Konflikte – entgegen ihrer wertneutralen Beschreibung als soziale Tatbestände und ungeachtet ihrer auch positiven Funktionen – eine vorrangig negative Zuschreibung, ist dies häufig dem Umstand geschuldet, vorrangig Konflikte mit einem hohen Gewaltpotenzial im Blick zu haben. Diese Perspektive ist der Friedens- und Konfliktforschung auch eingeschrieben, befasst sie sich – wie im Kapitel 3 ausgeführt – mit der Frage, „welche Faktoren dazu beitragen, dass aus Konflikten gefährliche Konflikte werden und welche Möglichkeiten zu ihrer Einhegung bestehen“ (Struktur- und Findungskommission der Friedensforschung 2000, S.259). Ungeachtet dessen – und das ist stets mit im Blick zu behalten – werden die meisten der zwischen- wie auch innerstaatlichen Konflikte friedlich ausgetragen; nur wenige von ihnen entwickeln sich zu ernsten Krisen und von diesen wiederum enden etwa zehn Prozent im Krieg (vgl. Ruloff 2004, S.14; Bonacker und Imbusch 2006, S.75).

Das erkenntnistheoretische Interesse der Friedens- und Konfliktforschung ist es also nicht, Konflikte per se zu vermeiden. Vielmehr geht es um einen gewaltfreien Austrag von Konflikten, das heißt um eine geregelte, zivile Konfliktbearbeitung. Das folgende Zitat illustriert diesen Sachverhalt in einem sehr anschaulichen Bild:

„Konflikte sind […] das Salz in der Suppe sozialen Lebens. Weder versalzene Suppen – gewaltsam ausgetragene Konflikte – noch salzlose Suppen – völlig konfliktfreie Welten – sind wünschenswert.“ (List 2006, S.54)

4.3 Konflikte – komplexe Phänomene

Ausgehend von dem skizzierten Konfliktbegriff und -verständnis lassen sich weitere Bestimmungen vornehmen, die den Terminus näher qualifizieren (vgl. hierzu auch Bonacker und Imbusch 2006, S.69ff.). Zentrale Differenzierungen sind die nach Konfliktebenen und -akteuren, Konfliktgegenständen sowie Austragungsformen von Konflikten.

Zu Konfliktebenen und -akteuren: Konflikte können auf verschiedenen Ebenen stattfinden: von intra- und interpersonalen über intergruppale und innerstaatliche bis hin zu zwischenstaatlichen sowie transnationalen und globalen Konflikten. Angesichts von Globalisierung und Global Governance gewinnen insbesondere Letztere zunehmend an Bedeutung. Ebenso vielfältig sind die Konfliktakteure: Bei ihnen kann es sich um Individuen, Gruppen, Netzwerke und Bewegungen, Organisationen und Regime sowie Staaten handeln. Das Verhältnis zwischen den Konfliktparteien wird häufig mit dem Begriffspaar „symmetrische“ versus „asymmetrische“ Konflikte näher bestimmt. Diese Differenzierung lässt Aussagen zur Vergleichbarkeit der beteiligten Konfliktparteien hinsichtlich ihrer Größe und Stärke zu. Ein klassisches Beispiel für einen symmetrischen Konflikt stellt der im 20.Jahrhundert dominierende Ost-West-Konflikt dar, bei dem die beteiligten Akteure über annähernd gleiche Voraussetzungen, Fähigkeiten und Mittel verfügten. Dagegen verweisen asymmetrische Konflikte auf heterogene Strukturen, Fähigkeiten und Ressourcen der Konfliktparteien, die dann auch die Austragungsformen von Konflikten determinieren. Ein klassisches Beispiel stellt diesbezüglich der transnationale Terrorismus mit seinen Strategien dar.

 

Zu Konfliktgegenständen: Darunter werden „jene materiellen oder immateriellen Güter verstanden, die von den direkten Konfliktakteuren durch konstitutive Konfliktmaßnahmen angestrebt werden“ (HIIK 2020b). Diesbezüglich existieren verschiedene Typologien: Es kann sich beispielsweise um „objektive Konflikte“ handeln, bei denen es um die Verteilung knapper Werte und Güter geht (zum Beispiel Macht, Herrschaft, Ressourcen), oder um „subjektive Konflikte“, bei denen bestimmte Prädispositionen und sich daraus ergebene Einstellungen wie Ressentiments, Feindschaft, Aggressivität und Hass den Ausschlag geben (vgl. Meyers 1994, S.31; Bonacker und Imbusch 2006, S.73). Konfliktgegenstände lassen sich aber auch nach teilbaren und unteilbaren Konflikten differenzieren. Bei Erstgenannten handelt es sich um Konflikte, deren Ziel es ist, von einem Gut mehr als die andere Partei zu besitzen (beispielsweise Macht, Ressourcen, Territorium). Sie entsprechen der Logik des „Mehr-oder-Weniger“. Die Güter unteilbarer Konflikte wie Konflikte um Anerkennung, Werte und Normen oder Wahrheit können dagegen nur einer Partei zukommen. Sie folgen der Logik des „Entweder-Oder“. Hier schließt die Systematik verschiedener Konflikttypen von Volker Rittberger und Michael Zürn (1991, S.420) an. Sie unterscheiden zwischen:

 Wertekonflikten, bei denen zwischen den Akteuren unvereinbare Positionsdifferenzen über das anzustrebende Ziel bestehen;

 Mittelkonflikten, bei denen zwischen den Akteuren ein Dissens über den einzuschlagenden Weg, ein gemeinsames Ziel zu erreichen, besteht sowie

 Interessenkonflikten, bei denen die Akteure um ein knappes Gut konkurrieren. Dabei ist zwischen Interessenkonflikten über absolut und relativ bewertete Güter zu differenzieren: „Charakteristisch für ein absolut bewertetes Gut ist, daß der Wert, den es für die Partei besitzt, nicht davon beeinflußt wird, über wieviel die jeweils andere Partei davon verfügt. Demgegenüber bezieht ein relativ bewertetes Gut seinen Wert erst daraus, daß man mehr davon besitzt als andere“ (Rittberger und Zürn 1991, S.420; Hervorh. im Original).

Diese Konflikttypen bieten zugleich Anhaltspunkte für Konfliktbearbeitungsmöglichkeiten. Danach seien die Chancen einer Verregelung von Interessenkonflikten über absolut bewertete Güter relativ hoch, während Wertekonflikte und Interessenkonflikte über relativ bewertete Güter weitaus schwieriger zu bearbeiten seien (vgl. Schaubild 6).


Konflikttypen Beispiel Verregelungsfähigkeit
Wertekonflikt islamischer Fundamentalismus versus westliche Werte sehr gering
Interessenkonflikt über relativ bewertete Güter Rüstung und Rüstungskontrolle gering
Mittelkonflikt Klimaschutz mittel
Interessenkonflikt über absolut bewertete Güter Freihandel hoch

Schaubild 6:

Konflikttypen nach Volker Rittberger und Michael Zürn (1991, S.406) mit zum Teil veränderten Beispielen

Das Heidelberger Konfliktbarometer wiederum differenziert die Konfliktgegenstände danach, „welches Gut von den Konfliktakteuren angestrebt wird:

 Ideologie/System: Veränderung der ideologischen, religiösen, sozioökonomischen oder rechtlichen Ausrichtung des politischen Systems oder Änderung des Regimetyps.

 Nationale Macht: Herrschaftsgewalt in einem Staat.

 Autonomie: Erlangung oder Ausweitung der politischen Selbstbestimmung einer Bevölkerung in einem Staat oder eines abhängigen Gebiets ohne Unabhängigkeitsbestrebungen.

 Sezession: Trennung eines Teils eines Staatsgebiets mit dem Ziel der Errichtung eines neuen Staates oder des Anschlusses an einen bestehenden Staat.

 Dekolonialisierung: Unabhängigkeit eines abhängigen Gebiets.

 Subnationale Vorherrschaft: De-facto-Kontrolle einer Regierung, einer nicht-staatlichen Organisation oder einer Bevölkerung über ein Gebiet oder eine Bevölkerung.

 Ressourcen: Besitz natürlicher Ressourcen oder Rohstoffe beziehungsweise der hieraus erzielte Profit.

 Territorium: Veränderung des Verlaufs einer zwischenstaatlichen Grenze.

 Internationale Macht: Veränderung der Machtkonstellation im internationalen System oder in einem seiner Regionalsysteme.

 Anderes: Residualkategorie“ (HIIK 2020b).

Zu Austragungsformen von Konflikten: Konflikte können sich destruktiv entwickeln und zu einer Eskalation – bis hin zu ihrem gewaltsamen Austrag – führen. Sie können aber auch einen konstruktiven Verlauf nehmen, indem Unvereinbarkeiten transformiert werden. Die Bandbreite reicht damit von Kriegen und bewaffneten Konflikten bis hin zu gewaltfreien und integrativen Handlungen (vgl. Schaubild 7).


Ausrottungskrieg begrenzter Krieg punktueller Konfliktaustrag mit militärischen Mitteln Abschreckung einseitige Anpassung Schlichtung Verhandlung wechselseitige Anpassung Interessenausgleich im Kompromiss Zusammenarbeit Bündnis Konföderation Integration Vereinigung
Abnahme gewaltsamer
und
Zunahme gewaltfreier Modi des Konfliktaustrags

Schaubild 7:

Formen politischen Konfliktverhaltens nach Reinhard Meyers (1994, S.29)

Der Konfliktaustrag unterliegt auch Dynamiken. Gelingt es den Konfliktparteien nicht, rechtzeitig und mit einem angemessenen Verhalten auf Konflikte zu reagieren, kann eine Eskalationsspirale einsetzen, die sich verselbständigen kann:

„Wir geraten in den Strudel der Konfliktereignisse und merken plötzlich, wie uns eine Macht mitzureißen droht. Wir müssen all unsere Sinne wach halten und sehr überlegt handeln, damit wir uns nicht weiter in die Dynamik des Konflikts verstricken“ (Glasl 1997, S.34).

Der österreichische Trainer für Konfliktmanagement Friedrich Glasl entwickelte ein 9-stufiges Modell der Konflikteskalation (vgl. Schaubild 8). Danach verengen sich mit jeder neuen Eskalationsstufe die Handlungsmöglichkeiten der Konfliktakteure. Bei Konflikten, die sich auf den ersten Eskalationsstufen (Stufen 1-3) befinden, ist eine (begrenzte) Kooperation der beteiligten Parteien noch möglich. Das erlaubt inhaltliche und produktive Auseinandersetzungen sowie das Erreichen von win-win-Situationen. Bei weiterer Konflikteskalation (Stufen 4-6) schwinden die Chancen einer konstruktiven Konfliktbearbeitung. Der Konflikt wird zunehmend auf der Beziehungsebene ausgetragen:

„[D]er ursprüngliche Konfliktgegenstand verliert an Bedeutung, während das Verhältnis der Parteien zueinander selbst zum zentralen Gesichtspunkt ihrer Auseinandersetzung wird“ (Meyer 2011, S.37).

Kritisch erweist sich nach Glasl das Überschreiten der Stufe 5, die mit einem Gesichtsverlust bei zumindest einer Konfliktpartei einhergeht. Im letzten Stadium (Stufen 7-9) schließlich können alle beteiligten Konfliktparteien nur noch verlieren.

Schaubild 8:

Konflikteskalation in 9 Stufen nach Friedrich Glasl (1997, S.216, 218f.)

Die Konflikteskalation nach Glasl kann unmittelbar an die Galtungsche Konflikttheorie anschließen. Das Modell stützt seinen triadischen Ansatz; insbesondere betont es die Bedeutung der Beziehungsebene der Konfliktakteure und hebt damit auf die Einstellungen und Wahrnehmungen der Akteure im Konfliktgeschehen ab.

4.4 Kriegsdefinitionen

Kriege stellen eine bestimmte Form gewaltsamer Konflikte dar, gekennzeichnet durch „großräumig organisierte Gewalt“ (Münkler 2002, S.11). Die wohl bekannteste Definition stammt vom preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz: Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – beziehungsweise in der Originalfassung:

„So sehen wir also, daß der Krieg nicht bloß als politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln“ (Clausewitz 2000 [1832], S.44).

Des Weiteren bestimmt Clausewitz (2000 [1832], S.27) Krieg als einen „Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“. Damit sind Mittel (Gewalt) und Zweck („dem Feinde unseren Willen aufzudringen“) des Krieges benannt. Diese funktionalistische Kriegsdefinition kann an Thomas Hobbes anschließen, hat dieser „das Konfliktpotenzial aus dem Inneren der Gesellschaft in das äußere verlagert“ und Krieg „als Motor dieser Transformation“ (Bonacker und Imbusch 2006, S.108) angesehen. Mit der Aufklärung hat sich ein rationalistischer Kriegsbegriff herausgebildet (vgl. Bonacker und Imbusch 2006, S.108). Danach sei Krieg irrational und eine Folge absolutistischer Herrschaftsstrukturen. Ein wesentlicher Vertreter dieses Ansatzes ist Immanuel Kant. Ihm zufolge sei der Mensch – ist er einmal durch eine republikanische Ordnung von seiner Unmündigkeit befreit – aufgrund seiner Vernunft in der Lage, Konflikte mit nicht-kriegerischen Mitteln zu lösen:

„Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten […], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“ (Kant 1968 [1795], S.351).

Seit den Weltkriegen dominiert die völkerrechtliche Definition. Danach stellen Kriege mit Waffengewalt und über einen längeren Zeitraum ausgetragene Konflikte zwischen zwei oder mehreren organisierten und zentral gelenkten Gruppen dar, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte eines Staates handeln muss. Im Völkerrecht kommt der Kriegsbegriff allerdings immer seltener zum Tragen. Stattdessen wird von „internationalen bewaffneten Konflikten“ (Formen zwischenstaatlicher Anwendung von Waffengewalt) beziehungsweise von „nicht-internationalen bewaffneten Konflikten“ (Formen innerstaatlicher Anwendung von Waffengewalt) gesprochen.

Die empirische Kriegsforschung versucht, sich dem Phänomen des Krieges durch quantitative beziehungsweise qualitative Operationalisierungen anzunähern. Im Fokus quantitativer Definitionen steht die Anzahl der Kriegsopfer. Sie bezeichnen einen sozialen Tatbestand als Krieg, wenn die Zahl der (direkten oder indirekten) Todesopfer einer gewaltsamen Auseinandersetzung einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Hier dominiert der Ansatz von David Singer und Melvin Small, der in das Projekt Correlates of War der Universität Michigan eingegangen ist. Sie bezeichnen jeden bewaffneten Konflikt mit mindestens 1.000 getöteten Kombattanten (battle deaths) pro Jahr als Krieg. Quantitative Definitionen sind nicht unumstritten; auch differieren sie stark. Das beinhaltet zum einen den Schwellenwert selbst, ist dieser immer auch zu einem gewissen Grade willkürlich. Auch gibt es Konfliktdatenbanken wie die der Universität Uppsala in Schweden, die nicht nur getötete Kombattanten, sondern auch zivile Todesopfer (battle-related deaths) mit in ihre Analysen einbeziehen. Wieder andere mahnen an, gleichfalls die Größe der betroffenen Populationen mit zu berücksichtigen. Insbesondere würden quantitative Zugänge – so die Hauptkritik – keine Aussagen über zentrale Charakteristika des Krieges zulassen (vgl. Boemcken und Krieger 2006, S.12f.).

 

Qualitative Definitionen stützen sich stärker auf die Beschaffenheit des Konfliktaustrags. In dieser Tradition sieht sich beispielsweise das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK), auch wenn es an die eben beschriebenen quantitativen Ansätze anknüpfen kann. Das HIIK beschränkt sich in seiner Analyse nicht nur auf Kriege, sondern nimmt alle Konflikte in den Blick, die die „staatliche Kernfunktion oder die völkerrechtliche Ordnung bedrohen oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellen“ (HIIK 2020b). Im Fokus steht die Konfliktintensität. In die Operationalisierung einbezogen werden Mittel (Waffen- und Personaleinsatz) sowie Folgen des Gewalteinsatzes (Todesopfer, Flüchtlinge und Ausmaß der Zerstörung). Dabei werden fünf Intensitätsstufen von Konflikten unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg (vgl. Schaubild 9). Ein politischer Konflikt wird als Krieg eingestuft, wenn physische Gewalt „in massivem Ausmaß angewandt wird“ und die eingesetzten Mittel und Folgen „in ihrem Zusammenspiel als umfassend bezeichnet werden“ (HIIK 2020b).

Schaubild 9:

Stufen der Konfliktintensität nach dem HIIK (2020b)

Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg (AKUF) orientiert sich an der oben erwähnten völkerrechtlichen Definition. In Anlehnung an den ungarischen Friedensforscher István Kende (1917-1988) gilt ein gewaltsam ausgetragener Konflikt als Krieg, wenn er alle der folgenden Merkmale aufweist:

 (a) „an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt;

 (b) auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Kriegsführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkriege usw.);

 (c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, das heißt beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet einer oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern“ (AKUF 2020).

Zudem differenziert die AKUF zwischen Kriegen und bewaffneten Konflikten. Letzteres bezeichnet militärische Auseinandersetzungen, die die Kriterien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllen, beispielsweise wenn die Kontinuität der Kampfhandlungen (noch) nicht gegeben ist.

Auch qualitative Ansätze unterliegen der Kritik. Zum einen bleiben diese in der Regel einer staatszentrierten Perspektive verhaftet (vgl. beispielsweise Punkt a der AKUF-Definition), die der zunehmenden Entgrenzung des Krieges nicht gerecht werden. Zum anderen werden Kriege und bewaffnete Konflikte als klar abgrenzbare Tatbestände begriffen. In der empirischen Wirklichkeit sind die Grenzen – zwischen Kriegs- und Friedenszuständen, zwischen militärischer und ziviler Sphäre sowie zwischen innen und außen – dagegen fließend. So lassen sich auch Entwicklungen und Phänomene wie die sogenannten neuen Kriege nur begrenzt in die klassischen Kategorien einordnen. Bis heute besteht eine offene Debatte darüber, wo der transnationale Terrorismus zu verorten sei: als Krieg oder krimineller Akt, verbunden mit differenten Strategien der Konfliktbearbeitung (ausführlicher dazu Kapitel 5.4).

Was macht nun aber das Wesen des Krieges aus? Hier lassen sich drei zentrale Merkmale ausmachen (vgl. Jahn 2012, S.33): Erstens stellen Kriege – in Anlehnung an Carl von Clausewitz – eine Form der Politik dar. Damit bleiben andere gewaltsame Formen individueller oder gesellschaftlicher Konflikte wie Privatfehden oder kriminelle Bandenkriege außen vor (auch unabhängig von der Zahl der Opfer). Zweitens erfordern Kriege mindestens zwei kriegsbereite Akteure oder provokant formuliert: Krieg beginnt mit der Verteidigung. Und drittens unterscheiden sich die normativen Prämissen der Gewaltanwendung: Das Töten im Krieg ist – selbst heutzutage bei Einhaltung des humanitären Völkerrechts – rechtlich und häufig auch ethisch erlaubt. Dabei verlangen auch Demokratien ihren Soldaten und Soldatinnen im Krieg ab, entgegen gesellschaftlich etablierter Normen und Werte zu handeln, indem sie töten und zugleich die Bereitschaft eingehen, getötet zu werden.