Friedens- und Konfliktforschung

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

2.2 Friedens- versus Sicherheitslogik

Die Begriffe Frieden und Sicherheit lassen Parallelen, aber auch Divergenzen erkennen. Einerseits zeigt der erweiterte Sicherheitsbegriff – wie am Beispiel menschlicher Sicherheit – „eine große Nähe zu den von Picht eingeführten Konstitutionsbedingungen des Friedens“ (Nielebock 2016, S.9) auf. Die Kriterien menschlicher Sicherheit nach dem Bericht der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNDP 1994, S.3) als freedom from fear (Freiheit von Furcht) und freedom from want (Freiheit von Not) korrespondieren offensichtlich mit den Picht’schen Parametern des Friedens (Schutz gegen Gewalt, Schutz vor Not und Schutz der Freiheit). Andererseits erweisen sich Frieden und Sicherheit aber auch als „differente Kategorien“ (Jaberg 2017a, S.43) und „nicht […] auf gleicher Ebene verrechenbare Größen“ (Daase und Moltmann 1991, S.45). Beide Begriffe implizieren unterschiedliche Logiken. Dahinter stehen eigene Formen beziehungsweise Grammatiken, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben und das Denken und Handeln innerhalb der jeweiligen Kategorien prägen (vgl. Jaberg 2017b, S.170).

Nach der Friedensforscherin Sabine Jaberg (2017a, S.46) zeigen sich in der Auseinandersetzung mit den Begriffen Frieden und Sicherheit zwei kategoriale Differenzen: Während erstens Frieden nur gemeinsam mit anderen Akteuren verwirklicht werden könne und in diesem Sinne einen sozialen Begriff darstelle, müsse Sicherheit – insbesondere in ihrem traditionellen Verständnis als Sicherheit vor oder gegen andere – als „asozialer Begriff“ gefasst werden, der vom einzelnen Akteur her denke. So komme im Kontext von Sicherheit dem Anderen keine eigene Wertigkeit zu, diese ergebe sich vielmehr aus der Relevanz für das eigene Sicherheitsstreben. Zweitens setze Frieden – zielt dieser Begriff auf Gewaltfreiheit – den Akteuren Grenzen. Das „wechselseitige Anerkennungsverhältnis“ fordere von ihnen als innere Haltung „Liebe“, „Güte“ und die „Einsicht in die prinzipielle Untauglichkeit gewaltsamer Mittel“ sowie im konkreten Handeln „den Abbau gewaltgenerierender Strukturen und den Aufbau friedlicher Bearbeitungskapazitäten“. Eine Sicherheitslogik weise „diesbezüglich keine immanenten Schranken“ auf. Im Gegenteil, sie tendiere zur Grenzenlosigkeit bezüglich (a) der Wahl der Mittel, denn auch Krieg werde unter Umständen als legitim erachtet; (b) des Zeitrahmens, der gegebenenfalls ein präemptives oder gar präventives Agieren gerechtfertigt erscheinen lasse; (c) der Reichweite, wonach prinzipiell jedes Politikfeld als sicherheitsrelevant betrachtet werden könne (Versicherheitlichung) sowie (d) der Reaktion der Exekutive, von der Dramatisierung der Lage bis hin zu einer Eskalation im Handeln (vgl. Jaberg 2014).

Auch die Friedensforscherin Hanne-Margret Birckenbach (2014) differenziert zwischen einer Friedens- und Sicherheitslogik. In ihren Ausführungen fokussiert sie auf fünf zentrale Prinzipien friedenslogischen Denkens und Handelns:

 das Prinzip der Gewaltprävention (mit der Zielsetzung, „vorausschauend deeskalierend tätig“ zu sein);

 das Prinzip der Konflikttransformation (basierend auf dem Verständnis, dass Gewalt nicht außerhalb, sondern zwischen Konfliktparteien entsteht, und auch der eigene Anteil an Gewalt reflektiert werden muss);

 das Prinzip der Dialog- und Prozessorientierung (mit dem Ziel, in einer zunehmend interdependenten Welt „Gelegenheiten für einen verstärkten Austausch von und mit möglichst vielen politischen und gesellschaftlichen Kräften [zu suchen]“);

 das Prinzip der Einhaltung universaler Normen (um „an ihnen die Legitimität der eigenen Interessen und Handlungsweisen sowie die zur Problembearbeitung eingesetzten ideologischen, militärischen, ökonomischen und politischen Machtquellen [zu prüfen]“) sowie

 das Prinzip der Reflexivität (wonach das Eingestehen des eigenen Scheiterns nicht wie beim sicherheitslogischen Denken als Schwäche gilt, sondern als „eine Fähigkeit, die zu verbesserten Resultaten führen kann“).

2.3 Fazit

Bei Frieden und Sicherheit handelt es sich – das haben die obigen Ausführungen aufzeigen können – um durchaus differente Begriffe. Insbesondere verweisen sie auf unterschiedlich eingenommene Perspektiven. Dabei lässt sich die Debatte um eine Friedens- und Sicherheitslogik auf einen zentralen Punkt bringen:

„[D]ie Sicherheitslogik mit ihrer auf Abgrenzung zielenden Orientierung befördert Sicherheit gegen einen anderen, die Friedenslogik weist dem Gegenüber dagegen eine zentrale Rolle als mitverantwortlichem Partner für die Qualität der Beziehung zu“ (Nielebock 2016, S.10).

Was folgt nun aber aus dieser begrifflichen Differenz von Frieden und Sicherheit? Hanne-Margret Birckenbach (2012, S.42; Hervorh. d. Verf.) spricht von einer „Friedenslogik statt Sicherheitslogik“ und räumt damit dem Frieden den sachlichen Vorrang ein. Und auch für Sabine Jaberg (2017a, S.43) „gebührt aus ethischer Perspektive dem Frieden der Vorzug“. Beide Friedensforscherinnen setzen auf einen Perspektivenwechsel und die konsequente Einlösung einer Friedenspolitik. Dagegen plädieren Christopher Daase und Bernhard Moltmann (1991, S.35) für ein „integriertes Verständnis von Friedens- und Sicherheitspolitik“:

„Auch wenn dem Frieden der sachliche Vorrang einzuräumen ist, muß die Sicherheitspolitik auf ihrem temporären Vorrang bestehen, denn Friedenspolitik ohne den realistischen Blick auf die internationale Lage wird am nationalen und innergesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnis scheitern. Sicherheitspolitik aber ohne das Korrektiv des Friedens ist nicht friedensfähig.“

Beide Auffassungen müssen nicht in Widerspruch zueinander treten, lässt sich ein integratives Verständnis von Frieden und Sicherheit durch eine Konvergenz beider Begriffe erreichen (vgl. Jaberg 2017a, S.47ff.), auch wenn diese nicht völlig zur Deckung gebracht werden können. Konzepte wie beispielsweise die auf die Palme-Kommission von 1982 zurückgehende Gemeinsame Sicherheit verweisen – und das zeigt sich bereits am Begriff der Gemeinsamen Sicherheit selbst – auf Möglichkeiten einer friedensfähigen Sicherheitspolitik. Ein solches Konzept ist voraussetzungsreich und zielt, verbunden mit der Annahme, dass Sicherheit nicht voreinander, nur miteinander zu suchen ist, auf eine konsequente Abkehr jeglicher Abschreckungspolitik (vgl. Kapitel 11.4; auch Werkner 2019a).

Weiterführende Literatur:

Gießmann, Hans J. 2011. Frieden und Sicherheit. In Handbuch Frieden, hrsg. von Hans J. Gießmann und Bernhard Rinke, 541-556. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dieser Beitrag gibt einen guten Überblick über die begrifflichen Parallelen und Divergenzen der beiden Begriffe Frieden und Sicherheit.

Jaberg, Sabine. 2017. Frieden und Sicherheit. In Handbuch Friedensethik, hrsg. von Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling, 43-53. Wiesbaden: Springer VS. Ausgehend von der Definition von Frieden und Sicherheit verhandelt die Autorin beide Begriffe als differente Kategorien und diskutiert Möglichkeiten einer kategorialen Konvergenz.

Nielebock, Thomas. 2016. Frieden und Sicherheit – Ziele und Mittel der Politikgestaltung. Deutschland & Europa: Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft (71): 6-17. Hierbei handelt es sich um einen gut zugänglichen Beitrag zur friedenswissenschaftlichen Debatte beider Begriffe.

3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis

Der Diskussion um den Begriff des Friedens und der ihm eingeschriebenen Logiken schließt sich eine weitere Frage im Rahmen dieses Lehrbuchs unmittelbar an: Was heißt Friedensforschung? – oder anders gefragt: Was tun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wenn sie sich dem Untersuchungsgegenstand Frieden zuwenden?

Diese Frage wird in gleicher Weise divers diskutiert wie der Friedensbegriff selbst. In den Anfangsjahren der Institutionalisierung wurde der Friedensforschung teilweise sogar ihr Status als Wissenschaft abgesprochen. Diesem Einwand lag „ein positivistisches Verständnis von objektiver Wissenschaft“ zugrunde, „vor dem sich Friedensforschung in der Tat nicht rechtfertigen“ ließ. So stellt der Frieden „kein gegebenes Objekt“, sondern „eine konkrete Utopie“ dar. Friedensforschung heißt demnach, über „Bedingungen dieser Utopie“, das heißt über ein „noch nicht realisierte[s] Ziel“ zu forschen (Huber 1971, S.45).

Folgend soll exemplarisch auf drei Definitionen verwiesen werden, die – zu sehr unterschiedlichen Zeiten entstanden – eine relative Stabilität dessen anzeigen, was unter Friedensforschung zu verstehen ist (vgl. Bonacker 2011, S.68):

In den Empfehlungen der Struktur- und Findungskommission zur Friedensforschung vom Januar 2000, einer interdisziplinär und breit aufgestellten Arbeitsgruppe von Friedensforscherinnen und -forschern, eingesetzt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Vorbereitung zur Gründung der Deutschen Stiftung Friedensforschung, heißt es dazu:

„[Die Friedens- und Konfliktforschung] befasst sich erstens mit der Frage, welche Faktoren dazu beitragen, dass aus Konflikten gefährliche Konflikte werden und welche Möglichkeit zu ihrer Einhegung bestehen. […] Die Friedens- und Konfliktforschung richtet zweitens ihre Aufmerksamkeit auf die Voraussetzungen und Bedingungen eines andauernden – aus Sicht der Beteiligten: gelungenen – Friedens“ (Struktur- und Findungskommission zur Friedensforschung 2000, S.259).

In den jüngsten Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung vom Juli 2019 findet sich folgende Definition:

 

„Die Friedens- und Konfliktforschung befasst sich insbesondere mit Ursachen, Formen, Dynamiken und Folgen von Konflikten und Gewalt sowie mit Möglichkeiten der Prävention, Einhegung oder Beilegung von Konflikten und der dauerhaften Stabilisierung von Frieden.“ (Wissenschaftsrat 2019, S.13)

Ähnlich formulierte er es bereits fünfzig Jahre zuvor. Friedensforschung soll – so der Wissenschaftsrat der Bundesregierung im Mai 1970 – „die Probleme erforschen, die den Frieden in der Welt bedrohen, und die Bedingungen für die Erhaltung bzw. Schaffung des Friedens ermitteln“ (zit. nach DGFK 1983, S.14).

Damit kristallisieren sich für Friedensforscher und -forscherinnen zwei zentrale Tätigkeitsbereiche heraus: die Analyse von Konflikten und deren Ursachen (vgl. Part II dieses Lehrbuchs) sowie die Erarbeitung von Friedensstrategien zu ihrer Einhegung (vgl. Part III dieses Lehrbuchs). Diese beiden hier exemplarisch aufgeführten Definitionen zeigen den engen Zusammenhang von Frieden und Konflikt auf. Nach Harald Müller (2012, S.158, 155) sind sie „ein siamesischer Zwilling“, bei dem man „über den einen nicht sprechen [kann], ohne den anderen mitzuführen“. Das erklärt zugleich die in der Literatur häufig synonyme Verwendung der Termini „Friedensforschung“ und „Friedens- und Konfliktforschung“.

Weitaus kontroverser als die Beschreibung dessen, was Friedensforschung inhaltlich umfasst, ist ihr Selbstverständnis (vgl. Bonacker 2011, S.68). Das beinhaltet vor allem drei Aspekte: Fragen der Normativität, der Praxisorientierung und der disziplinären Verortung der Friedensforschung.

3.1 Zur Normativität der Friedensforschung

Debatten um die Normativität der Friedensforschung stehen symptomatisch für die Auseinandersetzung mit der sogenannten „kritischen Friedensforschung“. Diese Strömung ist in den 1970er Jahren in Abgrenzung zur traditionellen Friedensforschung entstanden und steht in einem engen Zusammenhang mit Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt und des positiven Friedens (vgl. u.a. Senghaas 1971a). Während Vertreterinnen und Vertreter der traditionellen Friedensforschung ausgehend von einem negativen Friedensbegriff und einem realistischen Paradigma wesentlich auf Konfliktmanagement setzten (um Gefahren – beispielsweise des Abschreckungssystems – zu reduzieren), ging es den Protagonistinnen und Protagonisten der kritischen Friedensforschung um dahinterliegende strukturelle Ursachen und damit um eine umfassendere, vor allem auch herrschaftskritische Perspektive. Sie sahen vor allem in der Herrschaftsform eine zentrale Konfliktursache und ein Instrument zur Unterdrückung von Konflikten. So warfen sie der traditionellen Friedensforschung auch vor, Friedensforschung lediglich als „Befriedungsforschung“ zu verstehen.1

Mit dieser Phase verbindet sich eine stark normativ geprägte Friedensforschung, die ihren Ausdruck im „Engagement zum Frieden“ (Kaiser 1970, S.58) findet. In diesem Kontext zieht Karlheinz Koppe (2006, S.60) wie zuvor auch schon Johan Galtung eine Parallele zu den ethischen Standards in der Medizin: Wie jeder Arzt durch den Eid des Hippokrates der Erhaltung des Lebens verpflichtet sei, habe auch der Friedensforscher der Maxime si vis pacem para pacem2 zu folgen. Auch für Harald Müller (2012, S.160f.) stellt Normativität ein konstitutives Merkmal der Friedensforschung dar. Ihm zufolge gebe es drei Pfeiler, die als normative Richtschnur friedenswissenschaftlichen Arbeitens dienen können: erstens das Ziel der Minderung physischer Gewalt, zweitens – ausgehend vom Verständnis des Friedens als soziale Beziehung – die Befriedung eines Handlungssystems sowie drittens die Einnahme der Opferperspektive (im Sinne ziviler Opfer).

Was heißt Normativität?

Der Begriff der Normativität beinhaltet in seinem Wortstamm die „Norm“. In diesem Sinne stellen normative Äußerungen Äußerungen über Normen dar. Norm wiederum bedeutet etymologisch, Richtschnur, Regel und Maßstab zu sein. Im hier verhandelten Kontext erweisen sich zwei Begriffsdeutungen als zentral: Zum einen zeigt sich Norm „als Idee, als ideativer Begriff, als Grenzbegriff einer Eigenschaft im Status unüberschreitbarer Vollkommenheit, im Blick auf den empirische Gegenstände bzw. Handlungen als mehr oder weniger gelungene Annäherungen realisiert und beurteilt werden“ (Forschner 2002, S.191). Diese Perspektive umfasst ihre direktive Seite als inhaltliche Richtschnur. Zum anderen versteht sich Norm „im rechtlichen oder moralischen Sinn als genereller Imperativ, der rechtliches und sittliches Handeln von Einzelnen und Gruppen orientiert“ (Forschner 2002, S.192), womit ihre imperative Seite angesprochen wird (vgl. Jaberg 2009, S.9ff.).

Dieses stark normative Verständnis von Friedensforschung wird seit den 1990er Jahren zunehmend infrage gestellt. Insbesondere von der jüngeren und mittleren Generation wird ihr nur noch eine „partielle Funktion“ (Brühl 2012, S.176) zuerkannt. Mittlerweile beantwortet ein Großteil von ihnen die Frage, ob Friedensforschung als „Forschung für oder Forschung über den Frieden“ (Bonacker 2011, S.46) zu verstehen sei, mit der letzteren Option (vgl. u.a. Daase 1996; Weller 2003; Bonacker 2011; Schlichte 2012; Brühl 2012). Dementsprechend konstatiert Sabine Jaberg (2009, S.5): „Aus dem ursprünglichen Unbehagen am Normverlust ist mittlerweile ein Unbehagen mit der Norm geworden.“

Gegen das Prinzip der Normativität lassen sich vor allem zwei, auf frühere Debatten zurückgehende Argumente in Anschlag bringen: die Tyrannei der Werte sowie die Zerstörung der Wissenschaft durch das Werturteil (ausführlich hierzu Jaberg 2009). Die erste Debatte geht wesentlich auf Carl Schmitt (1979 [1959]) zurück.3 Danach existiere eine innere Logik: Mit dem Setzen von Werten grenze sich das Individuum zugleich gegen andere Werte beziehungsweise „Unwerte“ ab. Diese Über- und Unterordnung von Werten führe zu einer potenziellen Aggressivität: So tendiere der „höhere Wert“ dazu, „den niederen Wert sich zu unterwerfen, und der Wert als solcher vernichtet mit Recht den Unwert als solchen“ (Schmitt 1979 [1959], S.36). Eine Alternative zu dieser Tyrannei der Werte sieht Schmitt in der Wertfreiheit. In Anlehnung an diese Argumentation wird in aktuellen Debatten – beispielsweise von Gertrud Brücher oder Christoph Weller – „der Friedensnorm ein unvermeidbares Potenzial zur Legitimierung jener Gewalt unterstellt, die das Friedensideal verwirklichen soll“ (Jaberg 2011, S.62, vgl. auch 2009, S.19f., 23ff.).

Die zweite, gegen die Normativität der Friedensforschung in Anschlag gebrachte Argumentation weist enge Bezüge zum Werturteilsstreit auf (vgl. Jaberg 2009, S.21f., 25ff.). Dieser wurde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik geführt. Im Zentrum stand die Frage, ob (objektive) Wissenschaft normative Aussagen für politisches Handeln treffen könne beziehungsweise solle. Während für Protagonisten wie Gustav Schmoller Wissenschaft auch Stellungnahmen zu konkreten politischen und gesellschaftlichen Problemen umfassen sollte, plädierten Vertreter wie Max Weber (1985 [1904], S.149f.) für eine Trennung von Forschung und Werturteil, berge Letzteres die Gefahr, die Wissenschaft als solche zu zerstören. So könne es „niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein […], bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“. Sie könne nur „die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke“ beantworten:

„Jene Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen ist freilich nicht mehr eine mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen“ (Weber 1985 [1904], S.150).

Parallelitäten zu aktuellen Debatten sind unverkennbar. So argumentiert beispielsweise Christopher Daase (1996, S.482):

„Mit der politisierten Begrifflichkeit grenzt die Friedensforschung […] nicht nur politische Positionen aus, die ihrem Verständnis von ‚Progressivität’ nicht entsprechen, sondern sie schaltet auch einen wichtigen wissenschaftlichen Regulierungsmechanismus aus: die Selbstkritik. […] Indem die Verfahren zur Selbstkritik, die jeder Wissenschaft eingebaut sind, aufgegeben werden, verändert die Friedensforschung ihren Charakter von einem offenen Vernunftunternehmen zu einem geschlossenen Aussagesystem. […] Friedensforschung ist im Grunde eine situative Wissenschaft geworden, ihre Progressivität beschränkt sich auf das politische Engagement ihrer Mitglieder.“

Mit dieser „Entnormativierung“ (Jaberg 2009, S.39) und „Entpolitisierung“ (Ruf 2009, S.46) sehen Vertreterinnen und Vertreter der kritischen Friedensforschung die Friedensforschung in ihren Grundfesten erschüttert. Nach Werner Ruf (2009, S.49) zeichne sie sich „durch die freiwillige Einordnung in den herrschenden Wissenschaftsbetrieb [aus], den zu bekämpfen sie einst angetreten war“.

Für diese Entwicklung lassen sich nach Thorsten Bonacker (2011, S.69f.) verschiedene Gründe anführen: Erstens habe sich das Feld der Friedensforschung mit dem Ende des Kalten Krieges ausdifferenziert. Mit neuen beziehungsweise bis dahin wenig beachteten theoretischen und empirischen Phänomenen sei auch der Friedensbegriff nicht mehr nur „Ausweis für eine normative Selbstverpflichtung der eigenen Forschung“, sondern selbst zum Untersuchungsgegenstand empirischer Forschung geworden. Zweitens lasse sich angesichts der gestiegenen Komplexität ein verstärktes politisches Interesse an Expertise identifizieren, die die Friedensforschung in eine größere Nähe zur Politik gebracht habe. Drittens sei eine zunehmende Professionalisierung der Friedensforschung erkennbar, womit nicht mehr nur ihr normativer Status, sondern zunehmend auch Theorie- und Methodendebatten in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt seien. Schließlich wirken sich viertens auch der Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften und die Zunahme konstruktivistischer und poststrukturalistischer Zugänge auf das Selbstverständnis der Friedensforschung aus, gewinnen damit Ansätze an Bedeutung, die stärker auf die Beobachtung von Diskursen setzen.

Letztlich kommen aber auch psychologische Komponenten zum Tragen, die sich mit normativen Debatten inhaltlich überschneiden. In gewisser Weise sei Berufswahl auch Symptomwahl. So könne die Arbeit am Frieden dazu verleiten, entweder „die eigenen destruktiven Impulse anzuregen“, beispielsweise in Form „einer heimlichen Affinität zu Militär und Krieg“, oder aber „von der eigenen Destruktivität abzulenken“, das sich dann „in einer besonders heftigen Distanz zu den Institutionen, die angeblich allein für Krieg und Gewalt verantwortlich sind“, äußert (Krell 2017, S.957).