Friedens- und Konfliktforschung

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

1.3 Frieden – eine Utopie?

Zeichnet der Frieden – und das ist die zweite Frage, die sich an den Friedensbegriff stellt – politische und soziale Vorstellungen einer idealen Ordnung, die auf die Zukunft gerichtet sind, in der Realität aber nicht ihren Ort haben? Die chronischen, aber auch aktuellen Kriege und gewaltsam ausgetragenen Konflikte, nicht zuletzt das Ausbleiben des prognostizierten „Endes der Geschichte“ (Fukuyama 1992) scheinen diese Annahme zu stützen. Aber auch die These vom Krieg als eine Konstante der conditio humana lässt sich, und dafür spricht die europäische Geschichte, empirisch widerlegen.

Wie verhält es sich nun mit dem „unausweichlich Utopische[n] im Reden über den Frieden“ (Brock 2002, S.110)? Betrachten wir den positiven Frieden, lässt dieser eine gewisse Nähe zum eschatologischen Friedensbegriff1 erkennen: Frieden als das Werk der Gerechtigkeit (opus iustitiae pax).2 Das eschatologische Moment ist der Galtung’schen Definition eingeschrieben: Wenn strukturelle Gewalt zur „Standardbeschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Müller 2003, S.212) wird, fällt ihr Abbau – und als Pendant dazu die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit – in den Bereich dessen, was als „handlungsleitende Utopie“ beschrieben werden kann (Czempiel 1971, S.126; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S.128).

Aber auch der enge Friedensbegriff kann diese Spannung nicht völlig auflösen. Selbst Frieden im Sinne einer (dauerhaften) Abwesenheit von Krieg scheint unmöglich, solange Gewaltakteure vom Krieg profitieren. Das sind heute nicht in erster Linie Staaten, sondern Akteure unterhalb dieser Ebene (die sogenannten „neuen Kriege“). Das Problem dahinter scheint von grundsätzlicher Natur: Wenn Krieg – so Herfried Münkler (2009, S.367f.) – zu einer Lebensform werde, weil diejenigen, die Gewalt anwenden, davon leben, gerate die historisch gewachsene Trennung von Krieg und Frieden in Gefahr.

Einen Ausweg aus dem „unausweichlich Utopischen“ bietet Czempiels Formel vom Frieden als dynamischer Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit (vgl. Schaubild 3). Czempiel nimmt die zeitliche Dimension des Friedens in den Begriff mit hinein. Frieden gilt nicht als (Ideal-)Ziel oder Zustand gesellschaftlichen und politischen Handelns, sondern wird als ein historischer Prozess der Zivilisierung von Konflikten, d.h. der Institutionalisierung dauerhafter und gewaltfreier Formen der Konfliktbearbeitung begriffen. Damit lässt sich die Realität im historischen Prozess verorten und in Relation zu diesem messen (u.a. Meyers 2011, S.41; Müller 2003, S.217).

Schaubild 3:

Phasenmodell des Friedens nach Ernst-Otto Czempiel (1998, S.65)

1.4 Friede als Weltfriede?

Zunehmende Interdependenz und Globalisierung, unter anderem bedingt durch technische Innovationen, politische Entscheidungsprozesse und Maßnahmen zur Liberalisierung des Welthandels, prägen das internationale System. Auch die äußeren Beziehungen von Staaten werden immer enger miteinander verknüpft; ebenso steigt die Zahl der weltpolitischen Akteure dramatisch an. Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich eine dritte Frage an den Friedensbegriff, die der räumlichen Dimension und geografischen Reichweite, oder anders formuliert: Ist Frieden teilbar oder nur als Weltfriede vorstellbar?

Prominent für die Sichtweisen zu Zeiten des Ost-West-Konflikts ist die Rede von Carl Friedrich von Weizsäcker anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1963. Seine dort formulierte erste These lautet:

„Der Weltfriede ist notwendig. Man darf fast sagen: der Weltfriede ist unvermeidlich. Er ist Lebensbedingung des technischen Zeitalters. Soweit unsere menschliche Voraussicht reicht, werden wir sagen müssen: Wir werden in einem Zustand leben, der den Namen Weltfriede verdient, oder wir werden nicht leben.“

Zentraler Bezugspunkt dieser These ist der wissenschaftlich-technische Fortschritt und die stetige Entwicklung der Waffentechnik, insbesondere die Existenz von Atomwaffen einschließlich ihres möglichen Gebrauchs. Angesichts dieser Gefahr werde der Frieden zwingend und der Weltfriede zur „Lebensbedingung des technischen Zeitalters“; denn die Alternative zum Frieden sei im Atomzeitalter nicht mehr der Krieg, sondern der „biologische Untergang der Menschheit“ (Picht 1971, S.24). Trifft diese Situationsbeschreibung aber auch auf die heutige weltpolitische Lage zu? Zwei Grundkonstanten haben sich radikal verändert: Zum einen gehört die „organisierte Friedlosigkeit“ des Ost-West-Konflikts mit der nuklearen Abschreckungspolitik der Vergangenheit an.1 Zum anderen sind mit dem Ende des Kalten Krieges aber auch neue Konflikte aufgebrochen, insbesondere sind Kriege – auch in Europa – wieder führbar geworden. Ist damit der Weltfriede noch zwingend?

Die Friedensforschung ist in dieser Frage gespalten. Für viele Vertreterinnen und Vertreter des weiten beziehungsweise positiven Friedensbegriffs ist Frieden unteilbar. Interdependenz und Globalisierung machen es unmöglich, Frieden räumlich zu begrenzen. So sei ein regionaler Friede ein Widerspruch in sich und nur der Weltfriede ein stabiler Frieden (Schwerdtfeger 2001, S.204; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S.131). Dieser Aspekt schwingt auch bei Weizsäckers Rede mit, wenn er von einer „allmählichen Verwandlung der bisherigen Außenpolitik in Welt-Innenpolitik“ spricht und damit den Übergang zu einer Weltgesellschaft im Blick hat.

Dagegen halten Friedensforscher wie Harald Müller (2003, S.216) einen regionalen Frieden für durchaus möglich. Müller bedient sich zum einen des semantischen Arguments: Wenn Frieden nur als Weltfrieden denkbar sei, warum unterscheide man dann beide Begriffe? Zum anderen sei es trotz globaler Interdependenzen nicht zwingend, dass beispielsweise Gewaltkonflikte in Sierra Leone Einfluss auf den Frieden in Skandinavien haben. Ebenso könne man einen Frieden zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union konstatieren, auch wenn bestimmte Regionen wie Nordirland oder das Baskenland davon ausgenommen seien oder in vielen EU-Ländern auch innergesellschaftliche Gewalt (zum Beispiel gegenüber Immigrantinnen und Immigranten) existiere. Notwendig sei es aber, die Akteure präzise zu benennen, denn Friede herrsche immer „zwischen bestimmten sozialen und politischen Kollektiven“ (Müller 2003, S.216). Mit Rückgriff auf Lothar Brock (2002, S.106) schlägt Müller vor, als Weltfriede „die Gesamtzahl der Räume, in denen Menschen friedlich zusammenleben“ zu bezeichnen. Damit verbleibe der Weltfriede nicht nur auf der internationalen Ebene, sondern schließe auch die innergesellschaftliche Dimension mit ein.

1.5 Fazit

Was kann nun als angemessener Friedensbegriff in der Friedensforschung gelten? Einfache Antworten auf diese Frage wird es angesichts der bestehenden Kontroversen nicht geben können. Der enge Friedensbegriff scheint durch seine inhaltliche Fokussierung auf die Eliminierung des Krieges und seine klare Abgrenzung zu Bereichen wie Entwicklung und Gerechtigkeit, die als Friedensbedingungen fungieren, methodisch-theoretisch wie handlungspolitisch praktikabel. Diese Stärke ist zugleich aber auch seine Schwäche, steht der enge Friedensbegriff doch in der Gefahr, das Wesen des Friedens zu verkürzen. Dagegen ermöglicht der positive Friedensbegriff ein umfassendes Verständnis von Frieden einschließlich einer Friedenspolitik, die auf die Überwindung struktureller Gewalt abzielt, steht aber in der Kritik, so umfassend zu sein, dass er sich einer Operationalisierung entziehe. Statt einer Dichotomisierung sollten die verschiedenen Begriffe und Friedensansätze stärker zueinander in Beziehung gesetzt werden. Hierbei kann sich das Verständnis von Frieden als Prozess, insbesondere das Phasenmodell des Friedens von Ernst-Otto Czempiel mit seinen Abstufungen als hilfreich erweisen. Aber auch das Bild eines Friedens in konzentrischen Kreisen kann die verschiedenen Erwartungen an den Friedensbegriff miteinander verbinden: mit der Abwesenheit direkter Gewalt beziehungsweise der Eliminierung des Krieges als innersten Kreis und Kern des Friedensbegriffs und der Abwesenheit struktureller sowie kultureller Gewalt als weitere, nicht zu vernachlässigende, wenn auch fernerstehende Friedensinhalte.

Weiterführende Literatur:

Czempiel, Ernst-Otto. 1998. Friedensstrategien. Eine systematische Darstellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga. 2. akt. u. überarb. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag. Der Autor diskutiert sehr facettenreich den Friedensbegriff und Friedensstrategien. Zentral ist seine Darstellung des Friedens als Prozess.

Galtung, Johan. 1975. Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Dieses Buch gilt als ein Klassiker der Friedensforschung, in dem Johan Galtung seinen zentralen Ansatz der strukturellen Gewalt darstellt.

Sahm, Astrid, Manfred Sapper und Volker Weichsel (Hrsg.). 2002. Die Zukunft des Friedens. Eine Bilanz der Friedens- und Konfliktforschung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Ein Sammelband, der prominente Autorinnen und Autoren versammelt und die neueren Debatten in der Friedensforschung (zum Begriff, aber auch zu seinen Akteuren und Strategien) aufgreift und bilanziert.

2 Frieden und Sicherheit

„Frieden ist gut – Sicherheit ist besser?“ – Mit dieser rhetorischen Frage macht der Friedensforscher Johannes Schwerdtfeger (1991, S.21) auf die Verdrängung des Friedensbegriffs durch den Sicherheitsbegriff aufmerksam und unterstreicht mit Dietrich Bonhoeffer: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit!“. Diese Entwicklung beklagt auch der Politikwissenschaftler Christopher Daase (2010b, S.9):

 

„Sicherheit ist der zentrale Wertbegriff unserer Gesellschaft. Das war nicht immer so. Noch vor wenigen Jahren konkurrierten die Begriffe ‚Sicherheit‘ und ‚Frieden‘ um den Vorrang in Strategiedebatten und Parteiprogrammen. Heute ist ‚Sicherheit‘ der Goldstandard nationaler und internationaler Politik, und vom Frieden wird fast nur noch in politischen Sonntagsreden gesprochen.“

Was steht hinter diesem Wechsel der Termini? Lassen sich Frieden und Sicherheit synonym verwenden? Sind sie wechselseitig aufeinander bezogen im Sinne von „ohne Frieden keine Sicherheit und ohne Sicherheit kein Frieden“? Oder macht es einen erkennbaren Unterschied, von Frieden beziehungsweise von Sicherheit zu sprechen und können Frieden und Sicherheit vielleicht sogar in Widerspruch zueinander geraten?

2.1 Was heißt Sicherheit?

Die etymologische Wurzel des Wortes Sicherheit (se cura, lateinisch) steht für „ohne Sorge sein“. In diesem Sinne lässt sich Sicherheit als die Abwesenheit von Bedrohungen definieren. Diese Bestimmung verweist auf die subjektive Dimension des Begriffs, abhängig von persönlichem Empfinden, historischen Erfahrungen oder Einflüssen der Umwelt (vgl. auch im Folgenden Gießmann 2011; Nielebock 2016; Jaberg 2017a).

Später kommt mit dem lateinischen tutus im Sinne von Sicherheit als Schutz eine objektive Dimension hinzu. Diese inhaltliche Erweiterung ist untrennbar mit der Entstehung der Nationalstaaten (mit dem Westfälischen Frieden von 1648) verbunden. Wirkmächtig wurden in diesem Kontext insbesondere die Ausführungen von Thomas Hobbes im Leviathan (1651). In seinem dort entwickelten Gesellschaftsvertrag wurde Sicherheit zum „Zentralbegriff des Staatszwecks“ (Conze 1984, S.845). Danach unterwerfen sich die Bürger und Bürgerinnen freiwillig dem Staat; im Gegenzug dafür garantiert er ihnen Sicherheit.

Mit der Westfälischen Ordnung und der Konstituierung der modernen Nationalstaaten kommt es zugleich zu einer Ausdifferenzierung der Staatsaufgabe Sicherheit, die auch schon in Hobbes’ Leviathan angelegt ist: Zum einen hat der Staat seine Bürgerinnen und Bürger vor Angriffen Dritter zu schützen (äußere Sicherheit, vorrangig verstanden als militärische Sicherheit); zum anderen hat er Gefahren für die öffentliche Sicherheit und innerstaatliche Ordnung abzuwehren (innere Sicherheit).

Sicherheit als Staatszweck in Thomas Hobbes’ Leviathan (1651):

„Der alleinige Weg zur Errichtung einer […] allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, daß sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können“ (Hobbes 1984 [1651], S.134).

„Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes. […] Mit ‚Sicherheit’ ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt“ (Hobbes 1984 [1651], S.255).

Mit den Globalisierungsdebatten der 1970er Jahre und verstärkt mit dem Ende des Kalten Krieges sowie den jüngsten Entwicklungen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind Diskurse um Erweiterungen eines Sicherheitsbegriffs erkennbar, der sich nicht mehr nur auf die staatliche Sphäre und „die äußere und innere Funktionsfähigkeit von Staaten“ (Gießmann 2011, S.548) beschränkt, sondern zunehmend auch die gesellschaftliche und individuelle Ebene einbezieht. Als ein Meilenstein dieser Entwicklung kann dabei – ausgehend von dem Reaktorunglück in Tschernobyl – der Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, der sogenannte Brundtland-Bericht, gelten.

Aus dem Bericht der Brundtland-Kommission (1987):

„Konflikte können nicht nur aus politischen und militärischen Bedrohungen der nationalen Souveränität entstehen, sie können ebenso gut ausbrechen infolge von Umweltzerstörungen und des Verspielens von Entwicklungsmöglichkeiten.“ (Kap. 11.37)

„Eine solche Neubestimmung könnte erreicht werden, wenn man sich generell auf eine umfassendere Definition von Sicherheit verständigen könnte und wenn militärische, politische, umweltbedingte und andere Konfliktquellen einbezogen würden.“ (Kap. 11.44)

Daase (2010a, b) unterscheidet vier Dimensionen der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs (vgl. Schaubild 4):

 inhaltlich: von der militärischen zur wirtschaftlichen und ökologischen, mittlerweile auch zur humanitären Sicherheit;

 von seinem Referenzrahmen her: von der nationalen zur menschlichen Sicherheit;

 geografisch: von der territorialen zur globalen Sicherheit sowie

 bezüglich der Gefahrendimension: von der Bedrohungsabwehr zur Risikovorsorge.

Schaubild 4:

Dimensionen des erweiterten Sicherheitsbegriffs nach Christopher Daase (2010a, S.3)

Die inhaltliche beziehungsweise Sachdimension definiert die Problembereiche, in denen Sicherheitsgefahren festgestellt werden. Dabei wird Sicherheit traditionell militärisch verstanden. Das traf insbesondere für die ersten Jahrzehnte der bipolaren Konstellation des Kalten Krieges zu, verbunden mit einem riesigen Nuklearwaffenpotenzial sich gegenüberstehender Großmächte. Erst mit der Entspannungspolitik der 1970er Jahre wurden auch Herausforderungen neuer Art wahrgenommen. Dazu zählten insbesondere die Ölkrisen 1973 und 1979. Seit dieser Zeit gilt Sicherheit nicht mehr nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich als Zugang zu wichtigen strategischen Ressourcen. In den 1980er Jahren, ausgelöst durch das Reaktorunglück in Tschernobyl, erweiterte sich der Sicherheitsbegriff erneut. Bedrohungen werden nunmehr auch ökologisch gefasst. So wird auch der Klimawandel zunehmend unter dem Sicherheitsaspekt verhandelt. Mit den jüngsten Debatten um den Menschenrechtsschutz und die Responsibility to Protect erfährt der Sicherheitsbegriff eine weitere inhaltliche Ausdehnung um den Faktor der humanitären Sicherheit.

Die zweite Dimension bezieht sich auf das Referenzobjekt und damit auf die Frage, wessen Sicherheit gewährleistet werden soll. Aus der Perspektive des politischen (Neo-)Realismus, wie sie dem Leviathan zugrunde liegt, bedeutet Sicherheit die Sicherheit des Staates vor äußeren Feinden (nationale Sicherheit). Im Fokus steht hier die Aufrechterhaltung der staatlichen Souveränität. Liberale Vertreterinnen und Vertreter betonen zudem die Gesellschaft als Referenzobjekt. So heißt es bei Wilhelm von Humboldt: „Diejenigen, deren Sicherheit erhalten werden muss, sind auf der einen Seite alle Bürger in völliger Gleichheit, auf der anderen Seite der Staat selbst“ (zit. nach Daase 2010a, S.10). Zu einem Perspektivenwechsel kommt es mit dem Konzept der menschlichen Sicherheit (human security). Hier steht nicht mehr der Staat oder die Gesellschaft als Gesamtheit, sondern das Individuum im Fokus der Betrachtung. Dieser Ansatz steht im Kontext kosmopolitischer Einflüsse, die dem Individuum und seinen Rechten Vorrang vor Gruppen- und Staatenrechten einräumen. Dabei verfolgt menschliche Sicherheit das Ziel, die Menschen vor direkten und gravierenden Bedrohungen zu schützen und sie zu befähigen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen (vgl. Commission on Human Security 2003). Das umfasst dann auch „neue Gefahren für die Sicherheit“ wie „Kriminalität, soziale Not, Krankheit, Armut, Arbeitslosigkeit, Migration, illegaler Drogen- und Waffenhandel“ (Daase 2010b, S.10). Der Bericht der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen spricht von sieben Dimensionen menschlicher Sicherheit: von der wirtschaftlichen Sicherheit, der Ernährungssicherheit, der gesundheitlichen Sicherheit, der Umweltsicherheit, der persönlichen Sicherheit, der Sicherheit der Gemeinschaft sowie der politischen Sicherheit (vgl. UNDP 1994, S.24f.).

Die dritte Dimension beinhaltet die Raumdimension und die Frage, für welches geografische Gebiet Sicherheit angestrebt wird. Im traditionellen Verständnis wird mit Sicherheit die Sicherheit des nationalen Territoriums eines Staates gefasst. Dieser staatszentrierte Zugang steht in einem engen Kontext mit realistischen und neorealistischen Theorieansätzen der Internationalen Beziehungen (vgl. Waltz 1979). Regionale Sicherheitsgemeinschaften wie beispielsweise die NATO beziehen Verbündete in das Sicherheitsstreben mit ein; das Territorialprinzip wird regional, in der Regel auf der Basis eines gemeinsamen Wertefundaments, ausgedehnt – am Beispiel der NATO auf den euro-atlantischen Raum. Eine nochmalige Erweiterung erfolgt mit der internationalen Sicherheit. Dieser sicherheitspolitische Ansatz zielt auf staatliche Koexistenz und zwischenstaatliche Stabilität. Dahinter steht eine institutionalistische Perspektive (vgl. Keohane 1989), verbunden mit der Annahme, dass auch unter Bedingungen der Anarchie des internationalen Staatensystems Kooperationen im gegenseitigen Interesse möglich sind. Ein klassisches Beispiel stellen hier Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen dar. Noch weitreichender greift das Konzept der globalen Sicherheit. Es basiert auf kosmopolitischen Ansätzen und steht in einem engen Kontext mit der menschlichen Sicherheit. Globale Sicherheit geht von einer poststaatlichen Konstellation aus mit der „Menschheit als Ganzes und [der] Aussicht auf eine globale Weltgesellschaft freier Individuen“ (Daase 2010b, S.13).

Die vierte Dimension schließlich erfasst die Gefahrendimension. Mit ihr verbindet sich die Art und Weise, wie Gefahren verstanden und Unsicherheiten konzeptualisiert werden: Das kann auf verschiedenen Wegen erfolgen: „als Abwehr von Bedrohungen, als Verringerung von Verwundbarkeit und als Reduzierung von Risiken“ (Daase 2010a, S.15). Traditionell (wie beispielsweise zu Zeiten des Ost-West-Konflikts) steht Sicherheit für die Abwehr von Bedrohungen. Diese beziehen sich auf territorial begrenzte Räume und setzen „die Existenz eines gegnerischen Akteurs, eine feindliche Intention und ein militärisches Potenzial“ (Daase 2010a, S.15) voraus. In Zeiten wachsender ökonomischer und ökologischer Interdependenzen innerhalb der internationalen Staatenwelt lassen sich Gefahren nicht mehr allein durch feindliche Akteure und ihre militärischen Potenziale ausmachen, sondern auch durch „Verwundbarkeiten“ durch externe Effekte im Sinne von Abhängigkeitsverhältnissen, die eigene Handlungsoptionen einschränken. Seit dem Ende des Kalten Krieges wird zunehmend von Risiken gesprochen. Dazu zählen in erster Linie der transnationale Terrorismus, aber auch die nukleare Proliferation, organisierte Kriminalität oder Migration. Diese Verschiebung von der Bedrohungsabwehr zur Risikovorsorge bedeutet zugleich, Unsicherheiten auf Ungewissheiten auszuweiten. Eine Sicherheitspolitik, die durch Risiken bestimmt wird, „kann nicht länger reaktiv sein, wie im Falle von Bedrohungen, sondern sie muss proaktiv werden und den Risiken ‚begegnen‘“ (Daase 2010a, S.17).

Mit diesen Erweiterungen des Sicherheitsbegriffs gehen zugleich Gefahren einher. Das Streben nach Sicherheit gilt neben Herrschaft und wirtschaftlicher Wohlfahrt als elementare Staatsaufgabe (vgl. Czempiel 2004, S.8), begründet es nach Thomas Hobbes überhaupt erst die Existenz des Staates. Wenn aber Sicherheit „zum Maßstab politischen und gesellschaftlichen Handelns“ erhoben wird, liegt in der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs die Gefahr, „sämtliche sozialen und politischen Beziehungen als Abwehr von mutmaßlichen Bedrohungen zu verstehen“ (Gießmann 2011, S.543). Dieses Phänomen wird unter dem Schlagwort der „Versicherheitlichung“ (securitization) verhandelt. Dafür steht die in den 1990er Jahren von Barry Buzan, Ole Waever und Jaap de Wilde entwickelte und stark im Konstruktivismus verankerte Kopenhagener Schule (vgl. Buzan et al. 1998). Sie setzt bei der subjektiven Dimension von Sicherheit an. Danach konstruieren Sprechakte, konkret die Benennung von Problemen als Sicherheitsprobleme, einen Ausnahmezustand, der außerordentliche Maßnahmen rechtfertigt und bestehende Entscheidungswege außer Kraft setzen kann.1