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Bobbie oder die Liebe eines Knaben

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Herr Matthias winkte ihn heran, stellte vor, bestellte drei mächtige Gläser Bier – Bob hätte niemals gedacht, daß ein Mensch aus derartig großen Krügen trinken könnte – und die schicksalsschwere Unterredung begann.

Herr Matthias sagte: »Peter, du weißt, daß ich kein Freund von verrückten Geschichten bin und mein ganzes Leben lang ein ordentlicher Mensch war. Wenn wir dir jetzt also eine Geschichte erzählen werden, die wie ein Märchen klingt, so darfst du nicht glauben, daß wir nur in die Vorstadt und hieher ›Zum lustigen Zecher‹ gekommen sind, um dir einen Bären aufzubinden, sondern du mußt, bevor du zu fluchen anfängst, immer mich anschauen und dir sagen: Da sitzt mein Onkel Jochen Matthias, und der ist kein Lügner und kein Aufschneider. Und jetzt stelle ich dir nochmals diesen jungen Herrn da vor, Bob Holgerman, den Sohn des Fabrikbesitzers Holgerman, bei dem du vielleicht schon die Essen gekehrt hast.«

Peter Möller nickte selbstbewußt und spie kunstgerecht an der Schulter des Onkels vorbei in einen Spucknapf.

»Dieser junge Herr, der mein Freund ist, ist ein wundervoller, kleiner Kerl, doppelt so klug als lang, und er hat einen großen Schmerz und dann ein paar wunderbare Sachen erlebt und wird dir jetzt selbst alles erzählen.«

Bob, der in verschiedenen Geschichten gelesen hatte, daß man sich vor Beginn einer längeren Rede zu räuspern pflegt, tat desgleichen und erzählte dem biederen Schornsteinfeger, der so aufmerksam zuhörte, daß sein Bier warm wurde, alles vom Anfang bis zum Ende. Und er schloß mit den Worten: »Lieber Herr Möller, Sie sind der Mann, der mir helfen kann, wenn er will! Ich weiß, daß das viel verlangt ist, und Sie hätten ein gutes Recht, mit mir grob zu werden, aber bedenken Sie, daß es sich um ein liebes, kleines Mädchen und um einen gräßlichen Schurken handelt, und daß eine arme Frau sich zu Tode grämen wird, wenn ihr Kind nicht wiederkommt. Und noch eines, Herr Möller: Die Polizei hat eine hohe Belohnung ausgesetzt und mein Vater ebenfalls. Wenn Sie mir helfen wollen und wir Gertie finden, so gehört die halbe Summe Ihnen, ich sage die halbe und nicht die ganze, denn auch ich brauche dann Geld, einerseits, um Gertie etwas sehr Schönes, eine Puppenküche mit Nickelgeschirr oder gar ein ledernes Lamm zu kaufen, und anderseits möchte ich der guten Frau Krikl das geborgte Geld zurückgeben. Und dann ißt auch Gertie sehr gerne mit Schokolade überzogene Mandeln, die sehr teuer sind.«

Peter Möller trank jetzt sein Glas auf einen Zug aus, setzte es dann schwer und wuchtig nieder, schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte:

»Gott verdamm‘ mich und lass‘ mich niemals mehr in einen Schornstein kriechen, wenn ich Ihnen nicht helfen will, junger Herr! Nicht der Belohnung wegen, obwohl ich gegen Geld niemals einen Haß gehabt habe, sondern wegen des kleinen Mädchens! Himmel noch einmal, meine Mary ist jetzt vier Jahre alt und hat auch blonde Locken, und wenn ich denke, daß ihr einmal so etwas zustoßen könnte, dann möchte ich gleich aus der Haut und dem Schurken an die Gurgel fahren! Junger Herr, wir machen die Sache! Was kann uns geschehen? Ihnen gar nichts, weil Sie noch zu jung sind, und auch mir nicht viel. Wir dringen ja nicht gewaltsam ein, also ist von Hausfriedensbruch keine Rede. Höchstens, daß ich wegen groben Unfugs auf ein paar Tage ins Loch komme! Na, läßt sich auch ertragen!«

Und nun wurde der Feldzugsplan in allen Einzelheiten besprochen.

Um vier Uhr nachmittags hatte Bob bei Meister Möller anzutreten, wo er als Schornsteinfegerlehrling angekleidet werden sollte. Und dann würde es zu Fuß nach der Blumenstraße gehen, wo man nach fünf Uhr, wenn Doktor Morton mit dem Mulatten fortgefahren wäre, nach bestimmtem Plane das geheimnisvolle Haus betreten wollte.

Es war inzwischen halb zwölf geworden. Bob hatte zum erstenmal einen kleinen Schwips, da er Bier nicht gewohnt war, und er beeilte sich, mit Hilfe einer Autodroschke rasch nach Hause zu kommen, bevor die Eltern da wären.

Alles ging gut, und ungesehen und ungehört kam er in sein Zimmer, vor dem ihn Troll schweifwedelnd und mit allen Zeichen namenloser Hundefreude erwartete. Bob schlief in dieser Nacht sehr unruhig, die fieberhafte Erwartung der kommenden Abenteuer ließ ihn immer wieder auffahren, und einmal träumte er, daß er und Gertie, beide weiß gekleidet, auf einer riesigen Leiter durch einen Schornstein geradeswegs in den Himmel kletterten.

Am nächsten Vormittag stattete Bob der kranken Frau Sehring einen Besuch ab. Er setzte sich an ihr Lager, streichelte die weiße, kraftlose Frauenhand, beugte sich über die unglückliche Mutter und sagte leise: »Frau Sehring, ich kann Ihnen noch nichts Näheres sagen, aber ich glaube, wir werden Gertie bald wiederhaben! Halten Sie mir Nachmittag die Daumen, Frau Sehring, es ist ein wichtiger Tag; ich hoffe, daß wir heute noch alles wissen werden. Der Arzt würde sicher meinen, ich hätte Ihnen das nicht sagen sollen, weil es Sie aufregt, aber ich denke, daß ein wenig Hoffnung nicht schaden kann.«

Jäh richtete sich Frau Sehring in ihrem Bette auf und beschwor den Knaben, ihr alles zu sagen. Aber Bob blieb fest.

»Es geht nicht, Frau Sehring, weil sonst alles fehlschlagen könnte. Ich weiß ja auch gar nicht, ob unsere Gertie noch am Leben ist. Aber ich meine, wir alle müssen endlich Gewißheit haben, weil wir es sonst nicht mehr ertragen könnten.«

Da sah Frau Sehring dem Knaben in die großen, dunklen, umschatteten Augen, sie sah, wie eingefallen die sonst so runden Kinderwangen waren, sie sah, wie es schmerzlich um seinen Mund zuckte, und sie zog seinen Lockenkopf an ihr dumpf und unregelmäßig klopfendes Herz, um die Stirne des Knaben zu küssen.

»Was immer du auch vorhast, Bobbie, Gott sei mit dir und helfe dir auf allen Wegen.«

Weinend brach Frau Sehring in ihrem Bette zusammen, und schluchzend entfernte sich Bob, um den Wächter Matthias aufzusuchen und noch eine kurze Besprechung mit Frau Krikl zu pflegen.

XXI. Kapitel. Die beiden Schornsteinfeger

Aus einem schmucken Jungen mit schneeweißer Haut wurde innerhalb weniger Minuten ein regelrechter schwarzer Schornsteinfeger mit völlig verrußtem Gesicht, Kapuze, Strickbündel um die Hüften, Steigeisen im Gürtel und Leiter über der Schulter. Peter Möller betrachtete wohlgefällig sein Werk, erklärte, daß keiner seiner Kollegen auch nur einen Augenblick zweifeln würde, einen ordentlichen Kaminfeger vor sich zu haben, unterwies den Knaben nochmals im Gebrauch der verschiedenen Instrumente, steckte ihm vorsichtshalber auch noch ein mächtiges Taschenmesser zu und dann gingen sie los.

Auf der Straße erregte immerhin der kleine, schlanke Schornsteinfegerlehrling neben seinem Meister einiges Aufsehen, wenigstens unter den weiblichen Dienstboten, die, abergläubisch wie sie sind, gerne mit Schornsteinfegern in Berührung kommen. Hie und da streifte ihn auch eine Frauensperson absichtlich mit der Hand, weil solche Rußflecken Glück bringen, und ein hübsches, junges Ding bat ihn sogar um einen Kuß, für den sie ihm Geld anbot. Bob wies solche Ansuchen verachtungsvoll zurück, indem er ihr die Zunge herausstreckte.

Einige Minuten vor fünf Uhr waren sie in der Blumenstraße angelangt. Es hatte zu regnen aufgehört, vom blauen Himmel strahlte die Sonne unbarmherzig nieder und die Straße war menschenleer. Um die Ecke herum lugten die beiden unauffällig nach dem Hause Doktor Mortons. Richtig, gerade in diesem Augenblick wurde das Gartenportal geöffnet und gleich darauf rollte das große, blaue, geschlossene Automobil davon. Nun hielten sie sich noch etliche Minuten auf der Straße auf, flüsterten einander rasch noch einige Bemerkungen zu und gingen dann auf das Haus zu, um gemächlich die Gartenglocke zu ziehen.

Die Mulattin kam aus dem Hause heraus und näherte sich dem Gartenportal. So wie sie aber der beiden schwarzen Männer ansichtig wurde, rief sie unwirsch:

»Nix, Nix. Schornstein ist erst vor vierzehn Tagen gekehrt worden,« drehte sich um und ging zurück.

Aber Peter Möller rief ihr nach: »Nutzt nichts, Madame, wir müssen doch herein. Die Polizei hat gemeldet, daß Funken aus dem Schornstein fliegen! Das kann ein kleines Dippelbaumfeuerchen sein, und wenn das nicht in Ordnung kommt, brennt Ihnen das Haus über dem Kopf zusammen.«

Im Nu war Sara beim Gartengitter.

»Oh, du meine Güte! Ja, was soll ich denn da machen? Niemand ist zu Hause als ich, es wird doch nicht gleich brennen.«

Möller lachte scheinbar vergnügt, während Bob vor Aufregung innerlich zu zappeln begann. »Sie haben da gar nichts zu machen, schöne Frau, als uns nachsehen zu lassen. Na, und brennen wird es nicht gleich, aber in ein paar Stunden, wenn alles schläft, kann es den schönsten Brand geben, den die Blumenstraße erlebt hat.«

Nunmehr schloß die Mulattin die Gartentür auf und ließ die beiden eintreten. Sie war sehr erschreckt und kreischte ein über das andere Mal »Himmel!« und »Du meine Güte!«, und jammerte: »Wenn der Herr nur da wäre, oder wenigstens Sam!«

Sie betraten nun durch das Haustor die Halle der Villa Morton und Bob klopfte das Herz bis zum Halse hinauf. Aber er nahm sich zusammen, straffte die Muskeln und sah rasch und flink wie ein Wiesel in dem schönen großen Raum umher. Unheimlich sah es hier durchaus nicht aus, im Gegenteil, sehr anheimelnd sogar. Kostbare altenglische Möbel, prachtvolle orientalische Teppiche, Jagdtrophäen an den Wänden, mächtige Stoßzähne von Elefanten, silbernes Gerät. In einer Nische ein Telephonapparat, auf den Frau Sara eben aufgeregt und noch immer jammernd zuschritt. Ein furchtbarer Gedanke durchflog Bobbies Schädel. Die Mulattin würde jetzt sicher nach dem Lunaklub telephonieren, um ihren Herrn oder Bruder herbeizuholen.

Bob packte Möller am Arm und flüsterte ihm zu: »Rasch, die Frau aufhalten!«

 

Und Möller verstand zwar nicht den Zweck dieser Aufforderung, aber er gehorchte und rief der Mulattin zu: »Madame, sind hier im Hause Füllöfen oder Kamine oder eine Zentralheizung?«

Richtig wandte sich Sara ihm zu und sagte: »In einigen Zimmern haben wir Füllöfen, in den meisten aber Kamine für Holzfeuerung.«

Diesen Augenblick hatte Bob benützt, um blitzschnell mit dem geöffneten Taschenmesser an das Telephon heranzuspringen und die beiden Drähte, die sich oberhalb des Apparates entlang zogen, knapp am Holze des Apparates durchzuschneiden.

Wirklich stand nun Frau Sara schon am Telephon, kurbelte wie besessen und schimpfte, weil sich das Amt nicht meldete. Bob aber hatte die Kühnheit, in aller Ruhe zu sagen:

»Es wird kaputt sein. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, daß dort irgendwo in der Mauer die Leitung geht, wo das Feuer frißt.«

Peter Möller biß sich auf die Lippen, um nicht herauszuplatzen, aber die Mulattin erschrak, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und rief: »Also bitte, schauen Sie nur nach und löschen Sie, so rasch es geht.«

»Dazu sind wir ja da,« brummte Möller, »und nun führen Sie uns zunächst überallhin, wo es Öfen und Kamine gibt.«

Sara nahm einen Schlüsselbund, schrie, die beiden mögen nur ja nichts rußig machen, und begann, sie von einem Zimmer in das andere zu führen. Die Räume lagen im Halbkreis um die Halle herum, so daß jeder von hier aus seinen Eingang hatte, alle aber auch untereinander durch mächtige Schiebetüren verbunden waren. Bob war durch die prachtvolle Einrichtung der Zimmer überrascht. Man sah, daß alle diese Teppiche, Dekorationsstücke und Möbel nicht bei Möbelhändlern zusammengekauft oder auf Bestellung gearbeitet waren, sondern Sammelobjekte langer Reisen und wunderbare Erzeugnisse chinesischen, indischen, birmanischen Kunsthandwerkes oder alte Stücke aus der Renaissance- oder der Empirezeit oder der Epoche der Königin Anna waren. Nirgends fand Bob, der sich gut umsah, während sein Meister die Kamine untersuchte, irgendwelche verdächtige Spuren. Nein, das waren nicht die Verbrecherhöhlen eines Kindesräubers oder Mörders, sondern die mit raffiniertem Luxus ausgestatteten Räume eines kunstsinnigen Weltenbummlers.

Die Öfen und Kamine in allen Räumen waren nun untersucht worden, und der Schornsteinfeger sagte zu Sara, die immer hinter ihnen hergegangen war und jede schwarze Spur sorgfältig mit dem Staubtuch entfernt hatte: »Nun, Madameken, gehen wir oben hinauf.«

Brummend und unwillig schritt Sara voran die mit Teppichen belegte Treppe hinauf, und die drei betraten zuerst einen köstlich ausgestatteten, ganz in weißem Marmor gehaltenen Baderaum, an den sich der Reihe nach ein Garderobezimmer, das Schlafzimmer des Doktor Morton und ein Frühstückszimmer in schottischer Einrichtung anschlossen. Dieses letztere Zimmer wurde nach der anderen Seite durch eine Türe abgeschlossen, die gepolstert und mit grünem Billardtuch überzogen war. Die Polstertüre hatte keine Klinke, sondern nur ein schmales, für einen flachen Schlüssel berechnetes Schlüsselloch.

»Machen Sie mal hier auf, Madame,« sagte Möller.

Aber die Mulattin drängte ihn weg. »Hier gibt‘s kein Aufmachen, das ist das Laboratorium des Herrn Doktor, da kann niemand ‚rein.«

Möller und Bob sahen einander rasch an, und Bob fühlte, wie er unter der Rußschicht im Gesicht erbleichte. Er hatte das Empfinden, daß sein Blut in rasender Eile vom Herzen in den Kopf und von dort wieder zurückströmte. Lauerte hinter dieser Tür nicht das Schicksal, begann hier nicht die Lösung des Geheimnisses, war er etwa nur ein paar Schritte von Gertie entfernt?

Schweigend verließen sie das Zimmer und betraten den Vorraum, der hier im ersten Stockwerk im Vergleich zu dem unteren auffallend klein war. Peter Möller, der Übung und Erfahrung hatte, wurde sofort stutzig und flüsterte, während Sara die enge Treppe zum Dachstuhl voranschritt, Bob zu:

»Außer dem einen verschlossenen Zimmer gibt es, an dieses anschließend, mindestens noch einen Raum, sonst müßte der Vorraum größer sein.« Laut aber sagte er, als sie auf dem Dachboden angekommen waren:

»So, jetzt werden wir die Geschichte gleich haben,« und begann die eisernen Türen, die nebeneinander in die Mauer eingefügt waren, zu öffnen. Sie führten in die verschiedenen Kamine des Hauses.

Möller beugte sich scheinbar sehr eifrig in die Löcher, hantierte in ihnen mit dem Besen, klopfte und rüttelte umher und sagte dann, über und über mit frischem Ruß bedeckt, zu Sara:

»Ich glaube, in dem einen Kamine da, der zum Küchenherde führt, glimmt die Mauer. Bitte, bringen Sie einen Kübel Wasser, damit ich den Besen mit einem nassen Lappen umwickeln kann!«

Sara ging, und Möller flüsterte, das Alleinsein benützend, dem Knaben zu: »Junger Herr, nun müssen Sie zeigen, ob Sie ein Kerl sind! Der Kamin da führt nicht in die Küche, sondern nach meiner Berechnung und wenn mich nicht der Teufel narrt, in das Zimmer mit der gepolsterten Türe. Kriecht einer durch den Schlot hier herunter, so kommt er durch den Kamin in das Zimmer hinein, denn daß dort ein Kamin und nicht ein Füllofen ist, erkenne ich an dem starken Luftzug. Ich kann aber nicht durch, ich bin zu stark! Wenn es einer kann, so sind Sie es junger Herr! Also aufgepaßt: Der Haken wird am Strick befestigt, den Sie um den Leib haben, dann kommt der Haken hier um das Mauerstück, Sie binden das andere Ende des Strickes fest um die Hüften und kriechen hinunter. Wenn Sie wieder herauf wollen, so benützen Sie den Strick als Leiter und ziehen sich nach oben. Übrigens warte ich ja hier, so daß nichts geschehen kann. Droht eine Gefahr, so rufen Sie zu mir herauf um Hilfe, dann wird mein Browning gute Arbeit tun.«

Bob zitterte am ganzen Körper vor Aufregung. »Alles will ich tun, lieber Herr Möller, und wenn es das Leben kostet.«

Schon war aber die Mulattin erbost mit einem Kübel voll Wasser angekeucht gekommen. Möller manipulierte mit Hilfe eines nassen Fetzens im Schlot herum und meinte dann achselzuckend:

»Es ist so, wie ich es mir gedacht habe, da glimmt es irgendwo, aber es sitzt tief, ich komme mit dem Besen nicht hin.«

Grob und herrisch schrie er den Knaben an:

»Los, Bob, statt hier Maulaffen feilzuhalten, wirst du jetzt ‚runterkriechen! Und wenn du zur Brandstelle kommst und dir die Pfoten verbrennst, so heule nicht, sondern kratze die Stelle ordentlich aus, wenn du nicht willst, daß ich dir dein Leder versohle!«

Ohne mit der Wimper zu zucken, sachgemäß wie ein echter Schornsteinfegerlehrling, machte sich Bob bereit, wickelte den Strick auf, flocht ihn durch die breite Öse des Einhakens, ließ das andere Ende durch den Meister sich um den Leib binden, der Haken wurde an der Öffnung der eisernen Kamintüre eingehakt, und eins, zwei, drei, schlüpfte Bob, sich mit den Füßen über den Türrand schwingend, in das finstere, etwa anderthalb Fuß im Durchmesser breite Loch hinab.

Bob war immer der beste Turner in seiner Klasse gewesen, und das kam ihm nun zustatten. Behend wie eine Eidechse, preßte er die schräg nach auswärts gedrehten Fußsohlen an die Ziegelsteine, während er mit den Ellbogen, die er ebenfalls an die Wand des Zylinders preßte, dem Körper Halt gab. Ließ er die Füße los, so hielt er sich mit den Ellbogen, hatte er mit den Sohlen an den Ritzen zwischen den Ziegeln Halt gefunden, so schob er wieder die Ellbogen nach, und so kam er langsam, aber sicher, mit schmerzenden, wundgeriebenen Gliedern hinunter, Schritt auf Schritt, Spanne auf Spanne. Nun verengte sich der Zylinder, und Bob mußte mit aller Kraft seinen schlanken Körper dehnen und strecken, um weiterrutschen zu können. Plötzlich stießen seine Füße auf Widerstand, er war auf dem Boden des Kamins in dem geheimnisvollen Zimmer angelangt.

Aber wie weiter? Sein Oberkörper steckte in dem engen Zylinder, die Beine hatten Bewegungsfreiheit in dem breiten Kamin. Mit gewaltiger Anstrengung grätschte er die Beine, beugte sich nieder, stieß mit den Füßen vorwärts, es klirrte und klapperte von brechendem Steinzeug, er rutschte aus, die Beine sausten durch eine Öffnung irgendwohin, und er saß nun auf dem Boden des Kamins, der Oberkörper in Dunkelheit, die Beine im Heizraum, die Füße schon im Zimmer. Eine letzte, verzweifelte Anstrengung, ein Vorwärtsschieben der Beine, und Bob lag auf dem Rücken, sprang auf und befand sich in dem Saale, der nach der einen Seite in das Frühstückszimmer führte.

XXII. Kapitel. Eine Korrespondenz durch die Türspalte

Verwirrt, betäubt, die schmerzenden Augen mit Staub und Ruß gefüllt, blieb Bob stehen und brauchte Minuten, bevor er seine Umgebung sehen konnte. Der Saal war in Weiß gehalten und lag im Halbdunkel. Es befand sich in ihm kein regelrechtes Fenster, sondern nur eine kleine Milchglasscheibe ganz oben, die durch ein Eisengitter geschützt war. Kurz entschlossen drehte Bob den Schalter an der Wand, und nun war der Saal von den in die Decke eingefügten elektrischen Lampen in schneeweißes Licht getaucht.

In der Mitte des Zimmers stand ein großes Streckbett, wie es Bob schon in den Zimmern von Ärzten gesehen hatte, ringsumher an den Wänden aus weißen Kacheln standen Retorten, große Glaskübel, Apparate, untereinander mit Gummischläuchen verbunden, Regale mit Tuben und Instrumente aus Nickel, Medizinschränkchen, kurzum, es sah wie der Operationssaal eines Krankenhauses aus. Alles peinlich sauber, wie ungebraucht. Nur neben dem Streckbett auf dem weißen Linoleum, mit dem der Boden bespannt war, einige rostbraune Spritzer, und mit Schaudern erinnerte er sich, gelesen zu haben, daß Blut solche rostbraune Färbung annehme.

Bob versuchte sich zu orientieren, indem er die Richtung vom ersten Stock zum Dachboden festhielt. Diese Tür mußte wohl zu dem Frühstückszimmer in schottischer Einrichtung führen, das sie zuletzt betreten hatten. Aber an der gegenüberliegenden Wand war wieder eine Tür. Auch sie gepolstert, diesmal aber mit weißem Leder überzogen, auch sie ohne Klinke, sondern nur mit einem schmalen Schlüsselloch. Was und wer mochte sich hinter dieser Tür befinden? Der Boden brannte dem Knaben unter den Füßen. Er durfte nicht länger zögern, mußte wieder zurück durch den Kamin, ohne etwas erreicht zu haben. Wirr zogen die Gedanken durch sein Hirn. Nichts Verdächtiges hatte er gesehen; nichts, was der Polizei eine Handhabe bieten konnte. Aber was war dort in dem Zimmer nebenan? Führte etwa auch dorthin ein Weg durch den Kamin? Bob fühlte, daß er nicht mehr die Kraft aufbringen würde, jetzt zurückzukriechen und dann neuerdings durch einen anderen Schlot abwärts zu steigen. Abgesehen davon: Es bestand die Gefahr, daß die Mulattin Verdacht faßte, Lärm schlug und nach einem Polizisten rief.

Bob versuchte durch das Schlüsselloch zu blicken. Es ging nicht, der Blick drang nicht durch. Er warf sich nun flach auf den Boden und preßte die Augen an die Ritze zwischen Polstertüre und Fußboden. Immerhin – er erhaschte einen Lichtschimmer. Und jetzt war es ihm, als bewegte sich ein Schatten durch dieses Licht. Aber das konnte auch Täuschung sein. Vielleicht, wenn er aus voller Lungenkraft hätte in die Ritze hineinbrüllen können! Vielleicht, daß – vorausgesetzt, daß sich dort ein Wesen befand – dieses ihn hören würde. Aber er durfte ja nicht schreien, durfte kein Aufsehen erregen!

Bob sprang, während ihm die Schläfen hämmerten, auf und sah verzweifelt um sich. Auf einem weißen Tische lag ein Block Papier und in einem Glase standen nebeneinander viele gespitzte Bleistifte. Ein Gedanke kam ihm. Durch diese Ritze mußte sich doch wohl ein Bogen Papier schieben lassen! Er riß ein Blatt vom Block herunter und schrieb auf dieses mit zitternden Fingern: »Ist dort jemand?«

Er warf sich wieder auf den Boden und schob den Bogen langsam, vorsichtig durch die Ritze, so weit, daß er gerade noch den Rand des Papieres diesseits sah.

Keuchend, mit schmerzendem Schädel und wildklopfendem Herzen blieb Bob liegen. Von oben durch den Kamin hörte er Meister Möller rufen:

»Na, wird‘s, Junge, was machst du denn so lange?«

In diesem Augenblick aber bewegte sich der Rand des Papieres und verschwand! Also lebte jemand in dem Zimmer nebenan, hatte das Papier gesehen und zu sich hereingezogen!

Bob sprang auf, rannte zum Kamin, brüllte hinauf:

»Hab‘ die Stelle schon; gleich, in drei, vier Minuten bin ich fertig« und wartete, mit geballten Fäusten regungslos dastehend. Wartete eine Minute, zählte bis hundert, bis zweihundert und dreihundert, und zwischen dem Zählen stöhnte er immer wieder: »Lieber Gott, sei gut und hilf uns!«

Und da – da an der Türritze regte es sich, der weiße Bogen kam mit einem winzigen Rande zum Vorschein! Mit dem Fingernagel krallte sich Bob in das Papier und kratzte es in das Zimmer hinein, bis er es aufheben konnte. Und auf der anderen Seite stand mit großen, verschmierten, ungelenken, braunen Buchstaben geschrieben:

 

»Ich, Gertie Sehring, bin gefangen und muß sterben!«

Da schüttelte ein Krampf den Körper des Knaben, sein Rücken steifte sich vor Grausen und Schmerz, und eine Sekunde war es ihm, als würde er alle Kraft verlieren und niederstürzen. Aber eiserner Wille bäumte sich in ihm auf. Mit einem Sprunge war er beim Kamin, schlang sich das frei baumelnde Ende des Strickes um die Hüften, kroch in das Loch, rief: »Meister, fertig! Bitte anziehen!« und stand wenige Minuten später wieder auf dem Dachboden, um mit einer tonlosen Stimme, die ihm selbst fremd klang, zu sagen:

»Es ist jetzt alles in Ordnung, wir können gehen!«

Kaum waren sie von Sara hinausgelassen worden, als Bob seine Nägel in die Hand des Schornsteinfegers grub, so daß dieser aufschrie.

»Gertie ist im Hause gefangen, ich habe den Beweis dafür. Herr Möller, rasch, wir müssen sie retten, bevor sie stirbt!«

Meister Möller, der nun hinter dem Knaben einherlief, wurde aus dessen Worten zwar nicht klug, aber er glaubte ihm unbedingt. »Also, was ist jetzt zu tun?« keuchte er. »Am besten, wir gehen zurück, bringen die schwarze Canaille um und holen deine Gertie!«

»Nein,« sagte Bob, stehenbleibend, »nein, Herr Möller, so geht es nicht. Bitte, laufen Sie in die Konditorei zu Ihrem Onkel und Frau Krikl und warten Sie alle drei dann ruhig in der Nähe des Hauses Morton, bis ich mit der Polizei komme.« Er reichte dem Schornsteinfeger die Hand und rannte, was ihn die kleinen Beine tragen wollten, der großen Verkehrsstraße zu, bis ihm endlich eine leere Autodroschke entgegenkam. Er rief dem Chauffeur sein »Halt!« zu. Als der aber den kleinen Schornsteinfeger vor sich sah, begann er zu fluchen, schrie: »Halt‘ deine Urgroßmutter zum Narren!« und wollte davonfahren. Aber mit einem gebieterischen abermaligen »Halt!« sprang Bob zum Wagenschlag, schwang sich über diesen hinweg in das Innere der Droschke und rief:

»Machen Sie keine Scherze mit mir, ich bin Detektiv! Und fahren Sie, so rasch Sie können, zum Polizeipräsidium.«

Auf den Chauffeur wirkten die Worte »Detektiv« und »Polizeipräsidium« geradezu elektrisierend; mit aufgerissenem Munde stierte er den kleinen schwarzen Kerl mit der Leiter und dem Besen an und fuhr mit dem seltsamen Passagier in höchster und vorschriftswidrigster Geschwindigkeit davon, so daß das Ziel in wenigen Minuten erreicht war. Bob war außer Rand und Band, hatte sich in Feuer und Flamme, in Dynamit und Nitroglyzerin verwandelt, schrie dem Chauffeur ein »Hier warten!« zu, brüllte den Polizisten, der ihm in den Weg trat, mit den Worten »Zur Kriminalpolizei muß ich!« so an, daß der Mann entsetzt zur Seite sprang, flog die Stufen hinauf, raste durch die zwei oder drei Zimmer, die ihn von Herrn Crispin trennten, ohne jemandem Rede und Antwort zu stehen, und schon hatte er, ohne zu klopfen, die Türe zum Allgewaltigen aufgerissen und stand keuchend, mit fliegendem Atem, kaum fähig, ein Wort hervorzubringen, vor ihm.

Herr Crispin, der eben in das Studium dickleibiger Akten vertieft gewesen, war ordentlich zusammengefahren und sah mit weit aufgerissenen Augen den kleinen Schornsteinfeger vor sich.

»Wie wagen Sie es, hier unangemeldet hereinzukommen, und was wollen Sie von mir?« herrschte er den Knaben an.

In diesem Augenblick erst entsann sich Bob der Tatsache, daß er noch immer die Kleidung eines Schornsteinfegers trug, was ihn aber nicht sonderlich anfocht. Er sagte sich, jetzt heißt es, klug und vernünftig reden, lehnte den krummen Besen mitsamt der kurzen Leiter an den Schreibtisch des Herrn Crispin und erwiderte so ruhig und wohlgesetzt er konnte:

»Ich bin Bob Holgerman, Herr Crispin, und komme, um Ihnen mitzuteilen, daß ich endlich Gertie Sehring gefunden habe!«

Herr Crispin war fassungslos, was sich eigentlich für einen höheren Beamten der Kriminalpolizei einer Millionenstadt nicht gehört. Wohl erkannte er nun Bob, aber er war fest davon überzeugt, daß es sich wieder um einen Dummenjungenstreich handle, und so sagte er streng:

»Junger Mann, ich habe Ihnen bereits einmal durch Ihren von mir sehr geschätzten Vater mitteilen lassen, Sie möchten der Polizei Ruhe geben und uns mit Ihren Dummheiten nicht belästigen. Zu meinem Bedauern sehe ich, daß Sie diese Dummheiten in Verkleidung fortsetzen wollen und – – –«

So artig aber Bob auch sonst war, diesmal ließ er den Herrn Crispin nicht ausreden. »Herr Crispin,« sagte er, während ein Lächeln über sein geschwärztes Gesicht huschte, »ich muß Sie bitten, mir die Strafpredigt später zu halten, wenn Gertie in Sicherheit ist. Ich habe nämlich von Gertie eben diese Zeilen bekommen.«

Sprach‘s, zog aus dem Brustlatz den Bogen Papier, der nun schon reichliche Spuren von Ruß aufwies, und hielt ihn dem Polizeichef unter die Nase. Zögernd las dieser, dann blickte er Bob groß an, und nun war er es, der ihn ruhig ausreden ließ.

Hastig, aber in wohlgeordneten Sätzen erzählte Bob von dem Ankauf des Polizeihundes Troll, von der Spur, die der Hund hinter dem Mulatten her aufgenommen hatte, von dem Hause des Doktor Morton, von dem Besuch des Lunaklubs, von dem Komplott mit dem Schornsteinfegermeister Peter Möller und dem Ergebnis des Eindringens in das Haus Nr. 12 der Blumenstraße.

In Herrn Crispin stieg es heiß auf. Einerseits erfaßte er die ungeheure Blamage der Polizei in ihrer ganzen Bedeutung, andererseits überwältigte ihn die Bewunderung vor dem Mut und der Energie des kleinen Jungen, und da er ein wackerer, braver Mann war, so hielt er nicht länger an sich, packte den rußigen Kopf Bobs zwischen beide Hände, beugte sich zu ihm nieder, küßte ihn auf die Stirn, bekam einen schwarzen Mund und sagte: »Bob Holgerman, wenn nicht alles trügt, so haben Sie Wunderbares getan! Und nun wollen wir an die Arbeit gehen!«

Eine Minute später war das Zimmer des Inspektors mit Polizei- und Kriminalbeamten gefüllt. Mit wenigen, aber klaren Worten erörterte Herr Crispin die Sachlage und traf seine Anordnungen.

»Sie, Lorensen, nehmen vier Ihrer zuverlässigsten Leute, ferner einen Polizeischlosser und den Polizeiarzt Doktor Wolters in Automobilen mit sich und lassen sich von dem jungen Mann da nach dem Hause in der Blumenstraße bringen. Sie läuten die Mulattin heraus, überwältigen sie sofort, dringen in das Haus ein und lassen, falls das Weib die Schlüssel nicht herausgibt, durch den Schlosser die betreffenden Türen sprengen. Bestellen Sie vorsichtshalber ein Sanitätsauto nach dem Hause, da das Mädchen vielleicht nur liegend fortgeschafft werden kann.

Sie, Perkins, nehmen sechs Mann mit zum Lunaklub, überwältigen ohne Umstände den Chauffeur Sam, der ja wahrscheinlich vor dem Klubgebäude mit dem Auto des Doktor Morton wartet, und verhaften dann den Doktor Morton. Aber mit aller Vorsicht, wenn ich bitten darf! Der Mann ist gefährlich, er muß überrascht werden, damit er weder Gelegenheit hat, zu entkommen, noch sich selbst zu richten. Und nun nur noch einen Augenblick, bis ich die Haftbefehle unterschrieben habe, und dann los! Jede Sekunde Verzögerung kann verhängnisvoll werden!«

Bevor fünf Minuten um waren, saß Bob mit dem Kriminalbeamten Lorensen und dem Arzt Doktor Wolters in einem Auto, dem Auto, das ihn hergebracht hatte, während hinter ihnen ein zweites, vollbepackt mit vier weiteren Kriminalbeamten und dem Schlosser, und hinter diesem der Krankenwagen fuhr. Zwei andere geschlossene Automobile sausten in entgegengesetzter Richtung zum Lunaklub.