Zerbrechliche Ichbrücken

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Zerbrechliche Ichbrücken
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Zerbrechliche Ichbrücken

Therapie-Studie

Hilde Sturm

Zerbrechliche Ichbrücken

Hilde Sturm

Copyright: © 2013 Hilde Sturm

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5943-8

Das Leben ist kurz,

die Kunst ist lang;

der rechte Augenblick ist bald enteilt;

das Urteil ist schwierig,

der Versuch trügerisch

Hippokrates von Kos (zugeschrieben)

Der höchste Grund der Arznei ist die Liebe.

Paracelsus

Ich denke manchmal, es fehlt uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie. Wissenschaftliche Theorien haben einen eigentümlichen Weltstimmungsgehalt, den sie selbst ... nicht formulieren, vielleicht nicht einmal wahrnehmen können. Die so unzulänglichen Versuche einer politischen Interpretation der „eigentlichen“ Aussage von Theorien zeigen diesen Bedarf nach einer Zweitfassung an ... Vielleicht sollte es stattdessen für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt ...

Niklas Luhmann

Inhalt

1. Sucherin, zwiespältig. 5

2. Am Hades lungern. 9

3. Dämon Angst 14

4. Ich-Dissoziationen als archaische Abwehr 21

5. Ein Panzer aus Giften oder Ich möchte mein Leben ändern. 29

6. Traummorde. 34

7. Phallisches Dumdum.. 46

8. Unmutterkaskade. 48

9. Zerrbilder und negative therapeutische Reaktion. 51

10. Zurückgeworfen in Angst und Chaos. 67

11. Was soll ich mit Freiheit?. 82

14. Therapie-Abbruch. 110

15. Exitus socialis –Refugium.. 114

1. Sucherin, zwiespältig

23.2.93 Simone Maurer geht die Greifswalder Straße Richtung Nordost. Sie ist verzweifelt. Aus den Urenergien Angst und Abwehr beschleunigte Denkfetzen jagen als Wut durch ihr Gehirn. Panne, Scheißpanne! ....dann eben laufen. Doofes Krankenhaus! Blöd! .... Muss hin....Muss! In die Klapsmühle....! Blöde Klapse! Birnenpresse.... Scheißangst!!.... Angst macht klein, mauseklein.... Kotzübel wird mir! Das frisst mich auf. Kann mich nicht wehren.... Will nicht zu denen, die haben mich doch schon mal angeschnallt in der Klapper. Die haben mich dort erst verrückt gemacht, traue denen allen nicht.... Die dürfen doch alles! .... Laufen, immer weiter.... Nur nach unten sehen, auf das Pflaster. Da! Kommt einer auf mich zu…. Ist der groß! Gefährlich, die Augen.... sehe weg, mach einen Bogen …. Die Menschen sind schlecht. So hämisch die Fratzen .... stürzen auf mich zu! Verdammte Panne, im Auto bin ich sicher.... Hinter den Glasscheiben.... Tarnkasten. Die Menschen sehen mich da nicht... können mir nichts tun. Bin so schutzlos auf der Straße.... wie nackt. Die sehen einen immer so an …. Immer länger die Straße, die Füße brennen, bin sowieso zu feige.... Das Kino da.... kenn ich. Plastelappen hängen runter, klatschen im Wind. Überall müssen sie bauen.…. Mir doch egal, gehe da sowieso nicht rein. Bauschutt, alles Staub, vorsichtig drum herum. Die Häuser so traurig eingezwängt.... Wie ich, die Häuser. …. Landkarten an den Fassaden, offene Steinwunden, so kaputt wie ich. Weiter, immer weiter, schneller, hier die Bahnbrücke, rostende Säulen, .... die sind stark, schnell durch. …. Gleich wieder laut, ein Dröhnen! Wo kommt das her? …. Komme zu spät, egal, will doch gar nicht! Muss aber, sagt die Scheißärztin, sonst schickt sie mich auf Arbeit. Scheiße, dort habe ich noch mehr Angst.... Bei den Kindern, da bin ich sicher, da ist alles gut. …. Können mir sowieso nicht helfen und bin zu feige.... Ist was los hier, Lastwagen, Autos hupen, huch der Schreck! Schon wieder ein Fahrrad…. dicht vorbei, …. gemein .... Gleich rechts in die nächste Straße rein, dreckiger Schlauch. Die Häuser erdrücken mich. Zucke zusammen, das gellt, die Straßenbahn klingelt, sie hält, steigen viele Leute aus.... unheimlich. Einfach runterschlucken, nach unten sehen, immer auf das Pflaster. Fürchte ihre Fratzen, die sehen mich, verdammte Scheiße! Hier die enge Straße, die Häuser kippen auf mich drauf, ganz schief sind die. Plötzlich n freier Platz, der ist aber groß. Windig hier, dort das alte Backsteinhaus! Muss das Krankenhaus sein! So drohend! Nein! .... Langsam ran. Groß und dunkel! Soll hier rein! Will nach Hause! …. Geht nicht! Mach schon, geh rein....! Alles ne böse Macht, Arbeit, Ärzte, Schwestern, Kollegen .... Da, die große braune Tür muss es sein! Geht schwer, knarrt mich an.... wie so n Wachhund. Zieht das hier! ….Tür zu, plötzlich Stille. Drängende Stille. Dunkel hier, dort links die Treppe rauf. Sie hat gesagt, ich muss nach links. Wird noch dunkler, dann ein langer Gang, dämmrig, gruselig. Pochen im Hals, halte das nicht aus! Weg hier! .... Die Hände nass, bleibe stehen. Schwestern sind böse.... nicht dran denken .... jetzt langsam .... Da! Da ist schon eine. Weißer Kittel. Was? Ohne Haube? Die sind immer böse mit mir. Bin da, eine Stimme weit weg, kann die Schwester nicht ansehen, sehe nach unten, sie spricht leise.... hm, fast sanft.... das glaube ich nicht.... Doch.... bleibt leise. Sie fragt, ob ich alles mitmachen kann. Will sie mich zu nichts zwingen? Das wäre ne neue Sorte Schwester! …. Muss sie mir ansehen! Bin so aufgeregt, ihr Gesicht verschwimmt. Sommersprossen, blonde Haare.... lächelt. Bringe kein Wort raus. Das würgt so im Hals, zittere. Klar, Angst vor den Ärzten, will die nicht sehn! …. Will Ruhe haben, tot sein! Großmutter, will lieber zu Dir.... Oda heißt die Schwester. Für mich zuständig ist Frau Dr. Leider.... wenigstens ne Frau .... Ich soll mit in die Gruppenvisite.... lieber nicht, was machen die da? Gleich rein.... sitzen viele Menschen im Kreis. Auch welche mit weißen und blauen Kitteln. Jemand redet, bin aufgeregt, verstehe nichts. Verstecke mich hinter Schwester Oda. Herzklopfen. Mir wird heiß. Plötzlich Stille. .... Ich schaue hoch.... Die Ärztin hat sich zu mir umgedreht und was gefragt.... Ich schlucke, sehe kurz zu ihr hin. Große dunkle Augen. Sehe schnell wieder weg. Sie macht mir nicht mehr Angst als alles andere. Ich bin dran und kriege kein Wort heraus. „Sie müssen sich erst eingewöhnen, wir unterhalten uns gleich in meinem Zimmer“. Die Visite ist zu ende. Schwester Oda nimmt mich mit in einen schummrigen Aufenthaltsraum zu einem großen tiefen Sessel. Ich sinke rein, mache mich ganz klein. ....Am liebsten weglaufen. Muss dann bloß woanders hin, in eine andere Klinik oder auf Arbeit, wo ich mich nicht mehr zurechtfinde. Komisch, meine Wut ist weg. Nur noch Angst, nasse Hände. …. Alles anders hier. …. Sie kommt. Bohnenstange mit langem Wuschelhaar. Sieht jünger aus als ich.... eigentlich nicht streng. Wenn ich sie ansehen muss, schnürt es mich ein. Sie geht in ein Zimmer, dort klingelt ein Telefon. Hoffentlich fragt sie nicht so viel. …. Worte klemmen, würgen.... Würgengel .... Großmutter .... mein schlechtes Gewissen, hab versagt! .... Oau, die Tür geht auf.

„Kommen Sie herein, Frau Maurer“. Ich gehe gegen zähen Wind, die Füße bleischwer. Muss ihr die Hand geben. Sie drückt kräftig zu. Bloß keine Berührung! Sie sieht mich genau an.... ich sehe zur Seite. Ich schäme mich, möchte mich unter ein Bett verkriechen. …. Jetzt fragt sie was. Was war es gleich, weshalb ich in die Klinik komme? …. Blöde Frage! …. Frau Dr. Hille schickt mich her, weil ich so nicht arbeiten kann. Nehme Zettel und Kuli und schreibe. Sie wartet bis ich fertig bin. So, das stimmt:

‚Ich möchte keine Angst mehr haben!

Mit anderen reden können!’

Ich versuche zu sprechen. Ihr Interesse zwingt mich irgendwie, ich will reden: „I..I..Ich möchte sprechen“. Stottere und krächze. Sie will alles von mir wissen, sonst kann sie mir nicht helfen. Bin 35, jetziger Beruf Kindergärtnerin. Soll Lebenslauf schreiben. Habe sie gleich geärgert, in die Gruppe gehe ich nicht, habe den Kopf geschüttelt. Dann will sie mich mit einem Psychologen üben lassen, nee mach ich nicht. …. Wenn da was passiert .... so was, womit ich nicht klar komme.... Trotzdem .... sie blieb sachte, hat mich dazu gekriegt, dass ich doch versprochen habe, in die Gruppe zu gehen. Brauche auch nichts zu sagen. Ich habe mich glatt untersuchen lassen! Unheimlich blöd, so, fremde Hände auf der Haut.... Warme Hände hat sie, weiche Hände, tun nicht weh. Komme mir wieder so albern vor. Und dann das Allerblödeste. Sie fragt nach Medikamenten. Ohne Tabletten kann ich nicht leben, die Angst bringt mich um. Sie fragt, was ich nehme und wie viel. Schreibe: ’Immer unterschiedlich, mal mehr, mal weniger Oxzapzetan, Protazin, Insidon’

Fragt, ob ich alle verringern könnte. Schreibe ‚nicht’ neben Oxza, ‚ja’ neben Prota und Insidon. Wo ich die vielen Tabletten her habe? Zeige ihr drei Rezepte über 100 Tabletten von jeder Sorte. Sie hat gar nicht darauf reagiert, dass ich sie verschiedenen Ärzten abgeluchst habe. Aber dann sagte sie, jetzt dürfte ich nur die Medikamente von der Tagesstation einnehmen. Ich habe ihr die Rezepte gegeben. Bin ich blöd!

 

Mi 24.2.1993

Schon wieder ein Gespräch. Gebe den Lebenslauf ab, habe schnell geschrieben, was mir einfiel, nur Schlechtes. Sie hat alles gleich durchgelesen. Sich Notizen gemacht. Sie nimmt mich ernst! Wirklich. Zu meinen Eltern quetsche ich heraus, dass ich sie hasse. Dann kann ich nicht mehr sprechen, wieder Zettel. Sie wollte wissen, wie der erste Tag auf Station verlaufen ist. Es war schwer, mit den anderen in einem Raum zusammen zu sein. In der Gruppe war ich 15 Minuten, dann musste ich raus. Sie erklärt mir den Sinn von Stationsausflügen. Klingt mir ein bisschen zu schön. Diese Woche gehen alle zum Kegeln. Find ich blöd. Ich traue mich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Habe Angst vor Kellern, das Kegeln soll aber oben sein, im Hellen.

Fr 26.2.1993

Zettel an Schwester Oda: ‚Ich kann nicht zu der Ärztin, ich habe Angst!’

Habe ein schlechtes Gewissen, das schreibe ich nicht. Schon bin ich im Arztzimmer. Gebe ihr gleich einen Zettel von heute früh, musste das schreiben.... Bin so durcheinander ....

‚Ich war gestern bei meiner Psychologin in der Friesenstraße. Ich glaube ich habe mich total übernommen hierher zu kommen. Eine Ewigkeit brauche ich, ehe ich durch den langen Gang komme. Die Angst ist einfach zu groß, kann nicht dagegen ankämpfen. Zu lange lebe ich schon isoliert, ich habe vor allem Neuen Angst. Ständig habe ich Selbstmordgedanken, weil ich mein Leben nicht packe. Für mich ist es schon ein Fortschritt, ganz allein hierher zu kommen, ohne dass mich jemand zwingt Dinge zu tun, die ich nicht möchte. Seit 3 Monaten kann ich kaum was essen, vor jedem Essen bin ich schon satt, mit Müh und Not zwinge ich mir was rein. Mir geht es zwar weitaus schlechter, aber wie Sie sehen, habe ich die Woche doch ganz gut über die Runden bekommen. Vor dem Wochenende habe ich Angst. Meine Tochter ist ab heute Abend nicht da, ich habe Angst, dass ich wieder was anstelle’.

„Dann bleiben Sie am Wochenende am besten hier mit Übernachten in einem Urlauberbett!“

„Muss ich dann auf eine andere Station?“

„Das ist leider nicht zu vermeiden. Die Tagesstation ist am Wochenende nicht offen.“

„Nein, auf eine andere Station gehe ich nicht.“

„Sie müssen ja nicht, das war nur ein Angebot. Haben Sie auch zu Hause Angst, wenn Sie allein sind?“

„Mmh, ja.“

„Aber Sie wollen lieber die Angst zu Hause ertragen als auf eine neue Station?“

„Ja“.

„Wie lange sind Sie jetzt schon krankgeschrieben?“

„Seit 8 oder 9 Monaten“.

„Sie arbeiten als Kindergärtnerin?“

„Ja.... im ‚Pittiplatsch‘, so hieß er früher .... jetzt ‚Sesamstraße‘.

„Wie ging es denn so mit der Arbeit?“

„Ich musste in einen anderen Kindergarten wechseln. Meine Chefin krittelte dauernd an mir rum, was ich alles anders zu machen habe nach der Wende. Irgendwann wurde ich wütend und habe ihr an den Kopf geknallt, dass sie für die SED und die Stasi gearbeitet hat. An die neuen Kollegen kann ich mich nicht gewöhnen. Die können mich nicht leiden. Die lassen mich nicht so arbeiten wie ich kann.“

„Wie meinen Sie das?“

„Mit den Kindern kann ich gut umgehen. Da kann ich reden und Spaß machen. Die haben mich auch lieb. Aber mit den Eltern kann ich nicht reden. Da haben mir früher die Kollegen geholfen. Die neuen interessiert das nicht. Wenn ich das nicht packe, dann wollen die mich weg haben.“ „Wenn Ihnen die Arbeit mit den Kindern solchen Spaß macht und die Kinder Sie brauchen, meinen Sie nicht, dass Sie es dann mit den Eltern wenigstens versuchen sollten?“

„Wenn ich wieder zu dieser Arbeit muss, nehme ich mir den Strick!“

„Sie wissen vermutlich selbst, dass Sie jetzt überzogen reagieren.“

„…. “

„Sie haben Probleme bei der Arbeit und mit Ihren Eltern.“

„Ja.“

Langsam spricht die Therapeutin weiter.

„Ich muss Sie und die Entwicklung Ihrer Störung gründlicher kennen lernen. Erst nach und nach werden wir beide Ihre Symptome ausreichend erfasst haben. Wenn die Diagnose einigermaßen sicher ist, kommt eine analytisch orientierte Psychotherapie in Frage.“

„Was ist das?“

„Eine auf dem Wissen über unsere innerseelische Struktur basierende Gesprächstherapie. Über die einzelnen Hypothesen, also wissenschaftliche Annahmen, gebe ich Ihnen in den jeweiligen Gesprächen Auskunft. Wären Sie unter dieser Bedingung einverstanden?“

„Ja.“

„Wenn in einigen Wochen das Wichtigste geklärt ist, werden wir über die Fortführung oder eine zusätzliche Behandlung sprechen.“

„Ich hab nicht gedacht, dass das so kompliziert ist.“

„Was wissen Sie über Ihre Diagnose?“

„Hm .... eigentlich nichts.“

„Zunächst kann ich nur die Vermutung Ihrer Ärztin für ziemlich wahrscheinlich halten, nämlich, dass Sie an einer Persönlichkeitsstörung mit der Bezeichnung Borderline leiden. Deutsch heißt das einfach Grenzfall, im Grenzbereich.“

„Grenze?“

„Gemeint ist, im Grenzbereich zwischen mehreren Krankheiten.“

„....?“ Simone seufzt beeindruckt.

„Am besten, wir klären die Zusammenhänge dann, wenn Störungen, Probleme oder Symptome auftauchen.“

„....“ Zweifelnder Blick.

„Nun muss ich Sie noch über die Folgen aufklären. Erst der zu erwartende Nutzen: die Beseitigung oder Minderung von Angst, von Unsicherheit, aber auch von eigenen Fehlhaltungen.“

„Wie soll das gehen....?“

„Indem Sie mit ganzer Kraft mitarbeiten. Es gibt aber auch ein Risiko: Ihr Zustand kann sich verschlechtern: wenn Sie etwas falsch verstehen und nicht darüber sprechen oder etwas Wesentliches verbergen. Wichtig ist also, alle Angaben wahrheitsgemäß zu machen und nichts Wesentliches zu verschweigen.“

„.... “

„Ich denke, wir sollten drei, höchstens vier Mal in der Woche jeweils eine Stunde miteinander sprechen.“

„So viel?“

„Sie werden bald merken, wie schnell eine Stunde vergeht.“

„Was soll ich da machen?“

„Zum Beispiel frei und offen reden über alles, was Ihnen wichtig ist. Und über alles, was Ihnen in den Sinn kommt und was Sie zu Hause, unterwegs oder auf Arbeit beschäftigt. Es kommt darauf an, dass Sie offen und ohne Rückhalt reden. Nichts verschweigen. Auch wenn es Ihnen peinlich ist oder nebensächlich vorkommt.“

„Hm ....“

„Ich denke, Sie werden zurechtkommen. Mit dem sozialen Training fangen Sie sofort an. So gut Sie können, nehmen Sie an allen Gruppentherapien teil. Es fällt Ihnen noch ein wenig schwer, nicht wahr? Aber das geht am Anfang der Behandlung allen so.“

„ .... “

„Für heute ist es genug. Sie werden das alles erst verarbeiten müssen. Dann sehen wir uns am Montag nach der Visite wieder. Auf Wiedersehen.“

Händedruck. Und draußen bin ich.... Konnte nicht mal widersprechen.... Bestimmen immer alles, die Ärzte.... Auf die Tagesstation wollte ich nur, weil man nachmittags nach Hause kann.... Dass die am Wochenende geschlossen haben.... blöd!

2. Am Hades lungern

Mo 1.3. 93 Gespräch mit Dr. Hanna Leider

Hannas Arztzimmer geht nach Norden, Kammer nennt sie den knappen Raum oder auch Stall. Neben einem schmalen Schrank, einem Holzregal voller Bücher und einem winzigen Tisch, der mit Stößen von Krankenblättern, Zeitschriften und unregelmäßig gestapelten Arbeitsblättern bedeckt ist, bleibt kaum Platz für Schreibtisch, Sessel und zwei Besucherstühle. Die grün-gelb züngelnde Maranthe auf dem Fensterbrett und eine verblichene Bleistiftzeichnung an der Wand über dem Schreibtisch mildern die Krankenhausatmosphäre. Hanna sitzt am Schreibtisch, die Unterlagen der neuen Patientin Simone Maurer in der Hand. Sie konzentriert sich auf ihren ersten Eindruck von der Patientin. Äußerlich unauffällig, schüchtern, verängstigt wie ein Kind in fremder Umgebung. Allerdings kann sie auch ein werbendes Lächeln aufsetzen. Hat schon einige Therapien hinter sich. Vermutlich eine harte Nuss. Die Diagnose der einweisenden Kollegin scheint fundiert: Frühe Störung, Borderline-Syndrom. Um sicher zu sein, muss ich noch mindestens drei Eigenschaften erfahren.

Simone Maurer ist inzwischen hereingekommen und hat im Besucherstuhl rechts gegenüber von Hanna Platz genommen.

„Ihre behandelnde Ärztin, Frau Dr. Hille, hat Sie wegen Medikamentenabhängigkeit und wegen Ihrer immer wieder geäußerten Selbstmordgedanken stationär eingewiesen. Weshalb wollten Sie einer vollstationären Behandlung nicht zustimmen?“

„Angst.“

„Wovor Angst?“

„Dass die mich zwingen... “

„Besser wäre schon die vollstationäre Behandlung in einer Klinik für Psychotherapie. Für eine Korrektur Ihrer Symptome brauchten Sie Schutz und Betreuung rund um die Uhr. (Pause) Ich will versuchen, teilstationär mit Ihnen zu arbeiten. Wenn in absehbarer Zeit ein Erfolg ausgeblieben ist, muss ich Sie an eine Psychotherapieklinik mit einem Spezialprogramm überweisen. Sind Sie damit einverstanden?“

„Nein.“

„Was hätten wir dann für eine Alternative?“

„Weiß nicht.“

„Die habe ich leider auch nicht.“

„Kommt dann Entlassung?“

„Es sieht so aus.“

„....“ Pause.

„Sind Sie böse?“

„Bin ich böse?“

„.... “

„Wann sind Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben auf die Idee gekommen, sich das Leben zu nehmen?“

„Ungefähr mit 16 .... da merkte ich, dass ich nicht mehr zurecht kam... da hatte ich oft keine Hoffnung mehr.... Da war alles grau und mies. Und mit 17 .... da habe ich den Gashahn in der Küche aufgedreht.... Schon lange habe ich nichts so sehr gehasst wie meine Eltern.... Mich wollte ich auch gleich umbringen.... Meine Mutter hat das Gas entdeckt.... Mein Vater war um die Zeit schwer betrunken.... Er glaubt bis heute, dass er es war.“

„Das ist alles sehr traurig. Aber es klingt auch ein bisschen so, als würden Sie sich freuen, Ihren Vater ausgetrickst zu haben.“

Ein Grinsen huscht über Simones Gesicht: „Vielleicht.“

„Ein versuchter erweiterter Selbstmord. Ungewöhnlich in diesem Alter. Was hat sich in Ihrem Leben damals so Schwerwiegendes zugetragen, dass Sie außer sich gewesen waren und zu einem so extremen Mittel greifen mussten?“

„Hass.“

„Hass ist die Folge von etwas. Hass auf wen?“

„Meine Eltern.“

„Was hatten Sie denn Ihren Eltern damals vorzuwerfen?”

„Mein Vater hat getrunken und meine Mutter und mich oft geschlagen, wenn er betrunken nach Hause kam.... Meine Mutter hat mich immer nur bestraft.... , auch wenn ich keine Schuld hatte.... oder wenn ich Hilfe brauchte.“

„Haben Sie noch öfter versucht, sich das Leben zu nehmen?“

„Ja .... Ich hatte mal einen Wellensittich. Er war wie ein vertrauter Freund. Dem habe ich alles erzählen können. Tiere sind nicht so gemein wie Menschen. Als er gestorben war.... ganz plötzlich .... ich fand ihn frühmorgens tot im Käfig liegen.... Da habe ich auch nicht mehr leben wollen. Da habe ich alle Tabletten geschluckt, die ich finden konnte. Meine Mutter hat aber was gemerkt und eine Ärztin geholt.... Das gab ein langes, echt langes Gespräch alleine mit der Ärztin.... Da habe ich mich leichter reden können. Vielleicht hätte ich alles sagen sollen. Aber .... danach ging es wieder.“

„War es das erste Mal in Ihrem Leben, dass Sie eine echte und intensive Zuwendung erfahren haben?“

„Ich glaube, ja.... Aber irgendwann, da war wieder alles aus.... Da bin ich von einer Eisenbahnbrücke gesprungen.... auf einen fahrenden Zug.... Der war mit Getreide beladen und offen.... “ und schief grinsend, ironisch singend fährt sie fort: „Da bin ich ganz .... weich gefallen.... Habe mir nur die Beine verstaucht.“

„Wie Sie das so leichthin sagen. Als wäre es ein Spiel mit dem Tod gewesen.“

„Ich weiß nicht.“

„Wie war es in den Jahren danach bis jetzt?“

„Später hatte ich eine Ärztin, zu der ich jahrelang gegangen bin, Frau Dr. Bornemann. Sie war für mich wie eine Mutter. Solange sie für mich da war, ging es mir gut. Ich war auch privat bei ihr zu Hause. Ich glaube, für sie war ich wie eine Tochter. Vor 2 Jahren ist sie fortgezogen. Ein halbes Jahr habe ich durchgehalten. Dann war alles wieder so durcheinander wie früher.“

„Sie brauchen eine Ersatzmutter wie ein Kind?“

„Mmh .... ja .... Ich glaube.... “

„Und wie war es in den letzten Monaten?“

„Wenn ich allein bin, treibt mich die Angst, besonders nachts. Ich steige ins Auto und fahre mit 150 Sachen die Autobahn Richtung Rostock.... Oder ich klettere auf einen hohen Turm und stelle mir vor hinunter zu springen.... Aber ich bin zu feige.“

„Seitdem Sie tagsüber bei uns sind, lenkt Sie das ab?“

„Am Tage ja .... aber .... zum Beispiel gestern Abend war die Angst so groß, dass ich meine

Tochter allein gelassen habe.... Bin bis heute Morgen um vier durch die Gegend gefahren. Habe ne ganze Tankfüllung leergefahren. An der Tankstelle in der Nähe von Frankfurt/O muss ich mit einem Messer in der Hand bezahlt haben. Bin weggefahren und bemerkte das Messer erst, als ich 130 Stundenkilometer draufhatte.... Das war die Angst, die ich vor allem habe, auch vor Frauen.... Beim Tanken habe ich gedacht.... Den Hahn laufen lassen, immer laufen .... alles daneben .... sinkt ein in die Erde .... dann gäbe es einen tollen Knall, und alles ist weg, ich auch .... Keine Verantwortung mehr, keine Angst .... das Dunkel erobern, das zu mir gehört.... Jetzt müssen Sie zu mir sagen, dass ich an mein Kind denken soll, dass es mich braucht.... Amen .... Schon hundertmal gehört!“ Während der letzten trotzigen Worte sieht Simone verachtungsvoll zur Seite. Hanna Leider beachtet weder Trotz noch Abwehr, sondern interessiert sich für die mystische Wortwahl: „Was meinen Sie mit ‚Dunkel erobern’?“

 

„Ich habe Sehnsucht nach der dunklen Tiefe... nach meiner Großmutter, die mich ruft.... Ich möchte beschützt werden, Ruhe haben.... Da wäre Frieden für mich.“

„Meinen Sie, wenn Sie das ‚Dunkle’ sagen, den Tod?“

„Ja.“

„Was verbinden Sie denn mit dem Tod?“

„Ruhe und Frieden.“

„Das klingt positiv. Aber bedenken Sie auch, dass der Tod irreversibel ist, dass mit dem Tod die Existenz ausgelöscht ist und Sie Ihre Jana dann nie wieder sehen, fühlen und trösten können.“

„Ich weiß nicht. Meine Großmutter lebt irgendwie. Ich höre sie oft rufen.“

„Wenn Ihre Großmutter gestorben ist, dann existiert sie nicht mehr.“

„Sie liegt im Grab und wartet auf mich.“

„Sie ist begraben worden, sie lebt nicht mehr. Sie haben früher recht gut verstanden, dass Ihr Wellensittich tot war. Warum können Sie das bei Ihrer Großmutter nicht anerkennen?“

„Sie gehörte zu den Zeugen Jehovas .... sie hat mir viel erzählt. Irgendwie denke ich, dass es sie noch gibt.“

„Hängt das mit dem Glauben Ihrer Großmutter zusammen?“

„Ja.“

„Hat sie Sie von ihrem Glauben überzeugt und heimlich taufen lassen?“

„Nein, ich gehöre nicht dazu. Aber ich denke immer, sie kann mich doch nicht angelogen haben.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie sprach von einer ‚neuen Welt‘. Ich weiß nicht so genau, was das ist.“

„Wegen einer Patientin, die durch ihren Glauben in eine schwere Krise geraten war, musste ich mich mit den religiösen Vorstellungen und der Organisation der Zeugen Jehovas befassen. Nachdem ich einiges gelesen hatte, konnte ich die Patientin besser verstehen. Die Zeugen Jehovas gehören zu den problematischen Sekten mit extremer Beeinflussung des Privatlebens ihrer Mitglieder. War das Leben Ihrer Großmutter gänzlich vom Glauben bestimmt?“

„Ja, vorwiegend.“

„Sie wissen, dass die Sekte in der DDR verboten war?“

„Natürlich, ja.“

„Das hat das Leben Ihrer Großmutter sicher nicht leichter gemacht. Die Zeugen haben hier in der Illegalität gelebt und Angst vor Entdeckung gehabt; denn sie wurden hart bestraft. Andrerseits - überall in der Welt müssen die Mitglieder für die Sekte große Opfer bringen, sonst werden sie vom Vorstand, der Wachtturmgesellschaft, ‚mangelnder Wertschätzung‘ bezichtigt. Opfer an Zeit, Arbeitskraft und Geld: ständiges Lernen der neusten Bibelauslegungen, ständiges Predigen an den Türen zum Werben neuer Mitglieder, ständige Versammlungen, viel Lesen von zahlreichen und immer neuen Traktaten, die sie auch noch kaufen und wieder verkaufen müssen. Gleicht einer Ganztagsbeschäftigung mit Überstunden.“

„Das stimmt, meine Großmutter hatte nicht viel Zeit, als ich ein kleines Kind war.“

„Hat Ihre Mutter Ihnen erzählt, ob sie als Kind immer mit in die Versammlungen musste oder viel allein war?“

„Ich glaube, sie war sehr viel allein.“

„Hat Ihre Großmutter versucht, Ihre Mutter taufen zu lassen und als aktives Mitglied zu

erziehen?“

„Meine Mutter hasste das alles und hat nicht mitgemacht. Sie war streng zu mir, aber sie hat viel Zeit mit mir verbracht.“

„Es wäre also möglich, dass Ihre Mutter Ihnen eine bessere Kindheit geben wollte als sie selbst eine hatte. Können Sie sich das vorstellen?“

„Eigentlich nicht.“

„Ist es ihr wenigstens gelungen, Ihnen das Alleinsein zu ersparen?“

„Das ja. Aber sie verstand mich nicht. Meine Mutter war immer hart und streng zu mir.“

„Ihre Mutter hat wohl nicht viel Zuneigung von ihrer Mutter erfahren, hat nicht gelernt, Gefühle aus sich herauszuholen und zuzulassen und schon gar nicht, sie auch zu zeigen.“

„Das könnte wahr sein.... Komisch .... da bin ich nicht drauf gekommen, dass das zusammenhängen könnte.“

„Die Sektenorganisation ist unmenschlich konsequent. Damit die ausgebeuteten Mitglieder bei der Stange bleiben, werden sie von den anderen Mitgliedern und den Vorgesetzten scharf kontrolliert. Bei Versäumnissen gibt es Mahnungen. Kritik am Vorstand ist verboten, kommt Gotteslästerung gleich und wird mit Ausschluss geahndet. Ausschluss ist die härteste Strafe, denn dann darf man am Tag des Weltuntergangs nicht in die ‚neue Welt‘ auferstehen, sondern muss sterben wie die Ungläubigen. Der Druck auf die Mitglieder ist so groß, dass alle ihre Familien, vor allem die Kinder vernachlässigen, weil sie die vielen Aufgaben nicht bewältigen können.“

„Das habe ich nicht gewusst.“

„Ich auch nicht. Aber dieses Wissen stammt von ehemaligen Mitgliedern, die es geschafft haben, die Organisation zu verlassen und darüber Bücher geschrieben haben. Ich weiß nicht, ob Sie erfahren haben, dass die Zeugen Jehovas Angst vor dem Tod hatten und auf die Endzeit mit Auferstehung warteten. Ich vermute, Sie haben den Eindruck bekommen, Ihre Großmutter sei in einem Paradies und winkt, kann das sein?“

„Irgendwie so ähnlich.“

„Das ist ein Missverständnis. Die Endzeit, der Weltuntergang, wurde immer wieder neu berechnet, zuletzt für 1914. Seitdem das nicht eintraf, ist der Vorstand vorsichtiger geworden und gibt kein Datum mehr an. Die Idee der Auferstehung sollte die Mitglieder fest an die Gesellschaft ketten.“

„Ach, irgendwie verrückt.“

„Mit dieser Verrücktheit macht die Sekte Geschäfte.“

„.... “

„Nun aber wieder zu Ihnen. Wenn Sie Ihre Probleme miteinander vergleichen, welches drückt Sie am häufigsten?“

„So schnell kann ich das nicht sagen.“

„Können Sie das Leben so akzeptieren wie es ist?“

„....?“

„Werden Sie auch mal enttäuscht?“

„Eigentlich immer.“

„Wie gehen Sie mit einer Enttäuschung um?“

„Verstehe ich nicht.“

„Was machen Sie, wenn Sie enttäuscht sind?“

„Ich bin wütend. Verkrieche mich.“

„Leider ist die Stunde heute um. Aber beim nächsten Termin wollen wir uns darüber unterhalten, wie man mit einer Enttäuschung fertig werden kann. Versuchen Sie, bis dahin darüber nachzudenken!“

Arbeitsnotizen in Hannas Kladde

Nachdem Simone Maurer aus der Tür ist, nimmt Hanna Leider ein abgenutztes Notizbuch aus der Kitteltasche. Muss mich beeilen, gleich Ärztekonferenz:

Mo 1.3.93 Bisher nur zwei Borderliner selbst behandelt. Das machten sonst Kollegen der Psychotherapie-Station, die wegen Stasi-Tätigkeit eines Therapeuten plötzlich aufgelöst wurde. Welche Intrige diente wessen Interessen?

Ohne Vorwissen wäre Simones Störung nicht zu verstehen. Vorwissen auch nur so hell wie eine Taschenlampe in einer riesigen Seelenhalle voller Psycho-Bruchstücke. Schwieriger Kontakt. Kein Mitschwingen. Sie ist einem nicht nahe, nicht fassbar. Da ist mir gegenüber etwas Wesenloses. Vermisse Festigkeit in der Meinung. Immer Ungewissheiten. Identität vermutlich nicht oder schattenhaft angelegt. Dazu Simone M. einiges fragen. Bei Otto F. Kernberg nachlesen. „Als-Ob“- Persönlichkeit (Helene Deutsch 1942). Borderline eben. Irrlichterei zwischen allen Diagnosen der Psychiatrie. Symptome flüchtig. Selbstzerstörerische Ich-Passion. Für Therapeuten immer schwierig. Simone hat uns durch ihre unverhüllte Suizidalität gezwungen, sie stationär aufzunehmen. Und auch noch zu ihren Bedingungen!

Muss es wagen, die Behandlung ohne Supervision zu machen. Verlasse mich auf die Schwestern unserer Tagesstation, seit langem die besten Kotherapeutinnen. Werde Simone M. teilweise den hospitierenden Psychologinnen anvertrauen. Waren bisher gut motiviert und brauchbar ausgebildet. Gemeinheit, sie ohne Bezahlung bei uns arbeiten zu lassen!

Basiswissen über Borderline bei Christa Rohde-Dachser, moderne mikroskopische Präzision bei O. Kernberg. Nur in dieser Reihenfolge! Kernberg, vielleicht ein „Preuße“ in New York, hat mir in seinen Schriften neue theoretische Bezüge klargemacht, brilliert mit Gründlichkeit. Wieder zu Rate ziehen. In diesem Haus kann mir bei Simone niemand helfen.

Mache mir Sorgen um Simone, um ihre Zukunft. Welche Chancen hat sie? Werde sie immer wieder motivieren müssen. Hat nicht viele Reserven. Scheint leicht frustriert. Verzerrtes Erleben. Muss ihr beistehen. Wenn nur keiner auf die Idee kommt, die Diagnose Schizophrenie zu stellen, unsere beliebteste Fehldiagnose!