Herzensöffnung (1)

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„Ja“, antwortete Andrea, „aber wenn er von deinen Kindern erfährt, dann wird dein Traum schnell zu Ende sein. Vielleicht hat man ihm das im Hotel schon erzählt.“

Maria lächelte. „Er weiß es. Ich habe es ihm vorhin gesagt.“

„Und?“

„Er will sie kennenlernen. Er will mit mir und den Kindern morgen den ganzen Tag verbringen. Ich wünschte, es wäre schon morgen.“ Dann sah sie ihre jüngere Schwester an, umarmte sie und Tränen liefen über ihre Wangen. „Ich habe Angst. Ich habe Angst, Andrea, dass das alles wieder so endet wie immer. Er ist doch auch nur ein Tourist.“

Andrea versuchte, ihre ältere Schwester zu trösten: „Wenn er so ist, wie du ihn beschrieben hast, dann ist er vielleicht doch ehrlich. Ich wünsche es dir von Herzen. Du hättest es verdient und dann würde dich vielleicht keiner mehr Touristen-Maria rufen.“

Nun berichtete Maria ihrer Schwester, was Wolfram ihr von dem Wiedergeborenwerden erzählt hatte. „Vielleicht gibt es das wirklich und wir kennen uns von so einem früheren Leben. Mir kommt er auch so vertraut vor. Er sagt das von sich und mir ebenso; und ich glaube ihm. Wolfram hat das nicht gesagt, um mir zu gefallen. Das war ehrlich und er versteht es auch nicht.“

„Ich kann mir so etwas nicht vorstellen“, meinte Andrea. „Aber wer weiß. Gehört habe ich davon auch schon mal. Und er heißt Wolfram?“

Maria nickte. Dann gingen beide zu Bett und Maria wollte heute die ganze Nacht nur von Wolfram träumen.

Am Tag darauf war Wolfram längst aufgestanden, als der Portier ihn wie gewünscht per Telefon wecken wollte. Trotzdem bedankte er sich. Die Gedanken um Maria ließen ihn schon zeitig munter werden. Er wollte auf keinen Fall nur eine Minute zu spät kommen, wenn sie sich heute um 10.00 Uhr treffen würden.

So war er schon kurz nach 9.00 Uhr mit dem Frühstück fertig und auch das Verhandeln mit Sven, dem Portier, dauerte nicht lange. Nun saß er in der Hotellobby und zählte die Minuten. Ja, Wolfram war aufgeregt wie schon lange nicht mehr, aber das wollte er sich selbst nicht so richtig eingestehen, hatte er sich doch in jeder Situation in der Gewalt. Die Uhr stand auf 9.25 Uhr und es war zu zeitig, um schon zum Treffen zu fahren. Das Auto hatte er auch schon in der Tiefgarage des Hotels inspiziert. Es war ein älterer Ford Fiesta. Wolfram war größere Autos gewöhnt, aber das war ihm heute egal. Hauptsache, es fuhr und heizte gut. Der Rest war sekundär.

Als die Uhr endlich auf 9.45 Uhr stand, ging er mit großen Schritten in die Tiefgarage, startete den Fiesta und fuhr nach draußen. Kurz vor der Fernstraße parkte Wolfram das Auto und ging die letzten Meter zu Fuß. Er wollte Maria und die Kinder mit dem Auto überraschen.

Inzwischen war es acht Minuten vor 10.00 Uhr. Wolfram stand mutterseelenallein an der Haltestelle. Marias Haus war von hier nicht deutlich zu erkennen. Er dachte so bei sich, dass sie ja schon zu sehen sein müssten, wenn sie pünktlich sein wollten.

Er wartete und wartete. Nun war es schon fünf Minuten über die Zeit und Maria war immer noch nicht in Sicht. Die Kälte kroch langsam unter seine Sachen und in die Schuhe. Da kamen Zweifel in ihm hoch. Aber nein, Maria war ehrlich. Als er das so dachte, löste sich eine Person vom Dorf und rannte in seine Richtung. Das konnte Maria sein; aber ohne Kinder. Nun, die paar Minuten konnte er jetzt auch noch warten und dann erfuhr er ja alles.

Beim Näherkommen erkannte Wolfram die Person zwar als eine Frau, aber irgendetwas war anders an ihr. Nun war die junge Frau auf der anderen Straßenseite angekommen. Nein, das war nicht Maria.

Die Frau kam über die Straße direkt auf ihn zu. „Sie Wolfram?“, stammelte sie noch völlig außer Atem. Er nickte. „Ich Andrea. Schwester Maria.“ Mit diesen Worten gab sie ihm einen Brief. „Ich keine Zeit. Ich schnell zurück. Pappa nicht wissen.“ Und schon rannte sie zum Dorf zurück. Wolfram öffnete den Brief und las:

Lieber Wolfram,

ich wäre so gern pünktlich an der Bushaltestelle gewesen, aber ich habe von meinem Pappa viel Arbeit hier im Haus bekommen. Er will nicht, dass wir uns treffen. Ich will bis Mittag fertig sein. Ich werde 14.00 Uhr am Bus stehen und warten. Wenn ich heimlich kommen muss, dann ohne Kinder. Aber ich werde da sein und warten, bis du kommst oder bis es Abend wird. Ich liebe dich.

Maria.

PS: Ich habe meine Schwester Andrea gefragt, ob sie dir diesen Brief geben kann. Auf sie passt Mamma nicht so genau auf.

Das also war der Grund. Na ja, ihren Vater hatte er ja gestern kennengelernt. Unter seinem Patriarchenregime hatte Maria sicher nichts zu lachen. Er verstand sie. Aber was machte er nun? Das Auto so einfach zurückgeben wollte er jetzt auch nicht. Außerdem brauchte er es ja am Nachmittag wieder. Nein, ins Hotel konnte er jetzt nicht zurück. Also lief Wolfram zum Auto, stieg ein und startete. Als er oben an der Fernstraße ankam, wusste er, wohin er nun fahren würde. Bergen war sein Ziel. Schließlich wollte er ja mit Maria und ihren Kinder dorthin. So konnte er gleich etwas von der Stadt sehen. Vielleicht kam ihm dann auch eine Idee, was er mit Maria und ihren Kindern bei dieser Kälte machen könnte.

In Bergen hatte Wolfram eine Weile suchen müssen, bis er einen sicheren Platz zum Parken fand. Er wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, dass der Fiesta wegen Falschparkens abgeschleppt wurde. Anschließend schrieb er sich die Straße auf, in der er das Auto abgestellt hatte, um im Zweifelsfall danach fragen zu können. Diesen Zettel konnte er jedem zeigen, wenn er das Auto suchen müsste. Schließlich konnte er nicht erwarten, dass alle Norweger Deutsch verstanden. Und Englisch wollte Wolfram nicht sprechen, auch wenn es in der Schule ein Pflichtfach gewesen war. Er hatte etwas gegen diese Sprache, weil alle Welt gezwungen wurde, Englisch zu sprechen – er nicht!

Wolfram schlenderte durch die Straßen und stellte mit Bedauern fest, dass es auch nur eine Stadt wie jede andere war. Es gab hier nichts Besonderes. Mittags suchte er sich eine kleine Gaststätte und aß dort. Das Aufwärmen in diesem Raum tat ihm gut. Er verweilte eine reichliche Stunde in der kleinen Gaststätte. Das Auto zu suchen und nach Håp Land zu fahren, dauerte etwa dreißig Minuten. Also musste er sich nicht beeilen. Als es Zeit war, verließ er die Gaststätte, fand sein Auto problemlos und fuhr zurück. Wolfram wollte es so einrichten, dass er kurz nach 14.00 Uhr an der Haltestelle in Håp Land ankam. Diesmal wollte er nicht so lange in der Kälte stehen müssen. Also fuhr er extra langsamer, damit er nicht zu zeitig ankam. Dieses Langsamfahren fiel ihm nicht leicht, war er doch von Haus aus eher ein schnelles Fahren gewöhnt.

Als die Haltestelle in Sicht kam, war es gerade 14.00 Uhr. Er sah schon von Weitem, dass da eine Person stand. Ob sich noch jemand in dem Wartehäuschen aufhielt, konnte Wolfram nicht erkennen. Als er näher herankam, erkannte er Maria. Sie sah ihn nicht, denn sie schaute nur in Richtung Hotel. Erst als er anhielt, drehte sie sich erschrocken um. Wolfram stieg sofort aus, denn sie konnte ja nicht wissen, dass er in dem Auto mit den angelaufenen Scheiben saß. Voller Freude und gleichzeitig verwundert schaute sie Wolfram an. Sie fielen sich in die Arme und Wolfram klärte sie auf, bevor sie fragen konnte.

„Das Auto habe ich mir geliehen. Ich wollte mit euch einen Ausflug nach Bergen machen. Du hast deine Kinder gar nicht mitgebracht. Schade!“

„Mein Pappa weiß nicht, dass ich hier bin. Ich musste heimlich aus dem Haus gehen. Mit den Kindern wäre das unmöglich gewesen. Kannst du das verstehen?“, fragte sie ihn ängstlich.

„Natürlich. Es ist nur schade. Ich hätte sie gern kennengelernt. Aber jetzt steigen wir erst mal ins Auto. Da ist es wärmer.“ Wolfram wendete und fuhr noch einmal nach Bergen.

„Wo fahren wir hin?“, wollte Maria wissen.

„Nach Bergen, wie versprochen.“

Da meinte sie: „Ich war schon lange nicht mehr in Bergen. Wie bist du so schnell zu einem Auto gekommen? Das Hotel vermietet doch keine.“

„Ich habe etwas mit dem Portier handeln müssen. Schließlich hatte er wegen gestern etwas gutzumachen. Aber bitte sprich mit niemand darüber. Ich möchte nicht, dass er Ärger bekommt. – Du hast mit deiner Schwester über mich gesprochen?“

„Oh, sollte ich das nicht? Das wusste ich nicht. Bitte verzeih mir.“

„Nein, nein. Damit habe ich kein Problem. Deine Eltern kennen mich ja auch. Bei ihnen will ich gar nicht wissen, was sie von mir halten. Aber was hält deine Schwester von mir?“

Maria entgegnete: „Meine Mutter war von dir sehr beeindruckt. Und Andrea meint, dass du wahrscheinlich ehrlicher bist als die anderen.“

„Hat sie das gesagt?“

„Hm!“ Maria nickte heftig. „Das hat sie. Du warst der Erste, der darauf bestand, meine Eltern kennenzulernen. Schade, dass du ein Deutscher bist.“

„Na, dafür kann ich ja nichts. Mir wäre es ja auch lieber, wenn du bei uns in Sonnenberg leben würdest.“

Wolfram trat auf die Bremse, fuhr rechts ran, nahm ihr fragendes Gesicht in beide Hände und küsste sie. Dann sagte er: „Maria, ich habe dich sehr gern. Bis jetzt waren Frauen für mich immer … na ja, das lief alles mehr so im kameradschaftlichen Bereich. Da fehlte immer das Herz in der Beziehung. Man vermisst das auch gar nicht, wenn man es nicht anders kennt.“

Wolfram fuhr wieder los und erzählte weiter.

„Aber wenn man in so einer Beziehung war, dann spürt man, dass irgendetwas fehlt, und dann hält sie nicht mehr lange. Was da fehlt, ist man sich dabei nicht bewusst. Bei dir aber kommt so viel Herzenswärme herüber, dass ich dich ständig umarmen und nicht wieder loslassen möchte. Ich wünschte, ich hätte dich viel eher kennengelernt.“

 

„Wegen meiner Kinder?“

Wolfram trat erneut voll auf die Bremse und das Auto stand. „Nein! Deshalb überhaupt nicht. So hätte ich mir aber viele Probleme mit anderen Frauen ersparen können.“ Er legte seinen rechten Arm um sie und zog sie zu sich heran. „Deine Kinder … Ich freue mich wirklich darauf, sie kennenzulernen. Sind sie auch so wie du? Ich habe die ganze Nacht nur an dich gedacht. Ich habe mir eine Zukunft mit dir vorgestellt. In dieser Zukunft waren wir eine Familie. Es war schön, so einfach vor sich hin zu träumen.“

„Du hast das geträumt?“

„Nein. Ich habe es mir vorgestellt. Dabei habe ich nicht geschlafen. Kannst du dir vorstellen, mit mir und den Mädchen zusammen eine Familie zu sein?“

„Wünschen tu ich mir das so sehr, aber vorstellen … Ich habe mir das schon so oft gewünscht und immer war es am Ende nur eine Luftburg.“

„Luftburg? Was ist das?“, fragte Wolfram. „Das kenne ich nicht.“

„Sagt man das nicht so bei euch, wenn etwas nur eine Illusion ist?“

„Nein, das ist höchstens … Du meinst ein Luftschloss. Ja, Luftschloss sagt man bei uns, nicht Luftburg.“

„Aha!“

Wolfram fuhr weiter.

„Da hast du es ja noch viel schwerer gehabt als ich. Und das in einem Dorf, wo jeder jeden kennt. Das kommt ja noch dazu.“

Maria legte ihren Kopf auf seine rechte Schulter und genoss den Augenblick. So hätte sie mit Wolfram bis ans Ende der Welt fahren können. Leider wurde ihr Wunsch jäh unterbrochen. Sie waren in Bergen angekommen und Wolfram fragte sie, ob sie hier einen guten Parkplatz kenne. Maria zuckte mit den Schultern. Also steuerte er den Parkplatz an, auf dem er schon vor zwei Stunden gestanden hatte. Dort stellte er den Ford erneut ab und sie stiegen aus.

„Kennst du dich hier aus?“, fragte er sie.

„Etwas“, war die Antwort.

„Wo ist hier ein schönes Restaurant, in dem man gut essen kann?“, fragte er wieder.

„Ich kenne da ein schönes Restaurant. Es heißt Vor Vikings. Aber dort ist es sehr teuer. Im Anchorage ist es billiger. Können wir auch mal zum Airport fahren? Ich habe noch nie einen Airport aus der Nähe gesehen.“

„Dann fahren wir zuerst zum Flughafen.“

„Was ist Flughafen?“, fragte sie.

„Airport heißt auf Deutsch Flughafen.“

„Das wusste ich nicht. Und da willst du jetzt mit mir hinfahren? Jetzt gleich?“

„Ja!“

Maria gab Wolfram spontan einen flüchtigen Kuss, sah ihn darauf verlegen an und zuckte mit den Schultern. Er umarmte sie und hielt sie eine kurze Weile fest. Dann stiegen sie wieder ins Auto und fuhren los.

Nach einigen Umwegen fanden sie den Flughafen, parkten dort und stiegen aus. Wolfram zeigte Maria die Empfangs- und Abflughalle, die Abfertigung und den Zoll, so weit man herandurfte. Dann gingen sie auch noch auf die Aussichtsplattform. Maria fand es herrlich, obwohl hier oben ein mächtig kalter Wind pfiff. Sie rief begeistert: „Einmal im Leben fliegen. Das muss schön sein. Bist du schon mal geflogen?“

„Ja, vorgestern das letzte Mal, als wir von Hamburg hierher nach Bergen geflogen sind.“

„Ach so, ja. Ich könnte dich beneiden.“

„Vielleicht klappt es auch bei dir einmal. Du bist doch noch jung.“

Maria antwortet mit einem sehnsüchtigen Blick in den Augen: „Nein, das glaube ich nicht. Weißt du nicht, wie teuer so ein Flug ist? Woher soll ich das viele Geld nehmen? Hier gibt es kaum Arbeit und so eine wie mich stellt hier gleich gar niemand ein. – Erzähl mir bitte, wie ist es, wenn man in einem Flugzeug fliegt.“

Wolfram erzählte ihr, wie es einem durch den Bauch geht, wenn das Flugzeug sehr steil in den Himmel steigt. Auch erzählte er ihr davon, dass über den Wolken immer die Sonne scheint und es ein wundervoller Anblick ist und auch ein herrliches Gefühl, über den Wolken zu fliegen.

Bald wurde es aber beiden auf der Aussichtsplattform zu kalt und sie gingen wieder zurück in die Abflugs- und Empfangshalle.

„Wenn du willst, können wir auch hier etwas essen. Dort drüben!“ Er zeigte nach vorn. „In dem Restaurant gibt es bestimmt etwas Ordentliches.“

„Wird das auch nicht zu teuer?“

„Nein, aber wir haben nur noch eine halbe Stunde Zeit. Ich muss das Auto bis 16.00 Uhr zurückgeben.“ Wolfram hoffte, dass der Portier Sven Verständnis für eine Verspätung hatte.

Nach einem Kaffee für Maria, einer Tasse Trinkschokolade für Wolfram und einem Stück Sahnetorte für jeden verließen sie den Flughafen wieder, nachdem Wolfram eine große Flasche guten Kognak gekauft hatte. Damit wollte er Sven versöhnen, weil dieser eine Stunde warten musste. Maria meinte, dass von dieser Sorte alle Männer begeistert seien. Als sie allerdings beim Bezahlen den Preis sah, erschrak sie mächtig.

Auf der Fahrt zurück nach Håp Land erzählte Wolfram ihr, wofür er diesen Kognak gekauft hatte.

„Aber dann hätten wir doch eher zurückfahren können. So hättest du viel Geld gespart.“

„Nein. Wären wir eher zurückgefahren, hättest du den Flughafen nicht sehen können. Wir hätten nur ganz kurz in Bergen verweilen können und gleich wieder zurückfahren müssen. Ich wollte dir eine Freude machen. Das mit dem Auto werde ich schon regeln können.“

Sie fuhren schon wieder eine Weile, da sagte Maria zu ihm: „Du hast mir heute eine größere Freude gemacht, als du dir vorstellen kannst. Ich hatte mir schon so lange mal gewünscht, den Airport … nein, wie sagst du, den Flugzeughafen zu sehen. Reinzugehen, hätte ich mich nie getraut. Danke!“

„Es macht mir Freude, wenn ich dir eine Freude machen kann. Übrigens: Es heißt Flughafen“, berichtigte er sie.

Nach einer Weile sagte Wolfram: „Wir sind gleich da. Soll ich dich vor eurem Haus absetzen oder wo willst du aussteigen?“

„Hast du keine Zeit mehr?“

„Doch, aber ich muss das Auto abgeben.“

„Dann warte ich so lange, bis du es abgegeben hast. Geht das?“

„Ja, sicher geht das, wenn du warten willst.“

Als sie angekommen waren, bog Wolfram gleich in Richtung Hotel ab und fuhr geradewegs in die Tiefgarage. Er stellte den Ford auf den gleichen Platz, wo er ihn am Morgen vorgefunden hatte. Das war auch gar nicht schwer. Die Tiefgarage war fast leer. Sie stiegen aus und Wolfram legte die eingewickelte Flasche Kognak auf den Fahrersitz. Er verschloss das Auto und sagte zu Maria: „Ich bin gleich wieder da.“

Als er mit großen Schritten in der Rezeption ankam, sah er schon von Weitem, wie ungeduldig Sven war. „Bitte verzeihen Sie die Verspätung. Es ging beim besten Willen nicht eher. Ich habe Ihnen dafür ein kleines Trostpflaster auf den Sitz gelegt.“

„Und da sagen alle, die Deutschen seien immer pünktlich.“ Sven sah Wolfram etwas abwertend hinterher, als er ging.

Wolfram holte Maria in der Tiefgarage ab und sie gingen Hand in Hand zur Brücke des Flüsschens, ohne die sie sich wahrscheinlich nie kennengelernt hätten. Es dämmerte schon wieder, sodass sie aufpassen mussten, um nicht auszurutschen. Auf der Brücke reichte das Tageslicht gerade noch aus, um zu sehen, wo Maria gestern gesessen hatte und in das Flüsschen gerutscht war.

Maria starrte eine ganz Weile in diese Richtung. „Ich war so verzweifelt, dass ich dich gar nicht bemerkt habe. – Wenn mich gestern an dieser Stelle der Blitz getroffen hätte, wäre ich sogar noch dankbar gewesen.“

„Maria! Und deine Kinder?“

„Ja, ich weiß. Warst du noch nie in deinem Leben so richtig verzweifelt? Mir war alles so egal. Aber zum Glück bist du da gewesen. Für dich würde ich auch noch einmal in den kalten Millstream springen.“

„Oh, bitte nicht. Trocken bist du mir viel lieber.“

Sie lachten beide.

„Was bedeutet der Name des Flüsschens?“

Millstream bedeutet so viel wie ‚Der Bach, der von der Mühle kommt‘. Weiter oben stand vor vielen Jahren eine Mühle.“

„Aha, das ist also der Mühlbach. Glaube mir, er ist jetzt im Winter zum Baden völlig ungeeignet. Du musst da wegen mir nicht reinspringen.“

Sie lachten wieder alle beide und hielten sich ganz fest. Maria drehte sich zu Wolfram um und stand nun direkt vor ihm. „Wolfram, ich liebe dich.“ Dabei umschlang sie ihn und drückte ihn ganz fest an sich.

„Ich liebe dich auch“, gestand Wolfram. „Ich weiß, dass das verrückt ist nach nicht einmal zwei Tagen. Meine Tante Elfriede hat mal gesagt, es gebe keine Zufälle. Damals wurde sie von allen ausgelacht. Heute hätte ich so viele Fragen an sie. Leider lebt sie nicht mehr. Ich muss seit gestern viel an sie denken. War das alles nur Zufall, dass wir uns hier getroffen haben?“

„Ja, was sonst?“, entgegnete Maria. Dann begann sie zu überlegen und erzählte Wolfram von dem Lied aus dem Radio, das sie kurz vor ihrer ersten Begegnung gehört hatte.

Da fragte Wolfram: „War das auch Zufall? Übrigens kenne ich dieses Lied. Es ist sehr schön und in Deutschland auch vielen bekannt; wenigstens den Älteren, denn es ist schon ungefähr dreißig Jahre alt.“

Dann erzählte Wolfram von den vielen Zufällen, die ihn zu ihr geführt hatten. „Du weißt ja noch nicht alles. Ich habe diesen Urlaub überhaupt nicht geplant. Ich bin spontan in ein Reisebüro gegangen, in welchem ich noch nie war, habe mir dort irgendeine preiswerte Reise heraussuchen lassen und gebucht. Als ich zu Hause war, hatte ich dann meinen Entschluss schon wieder bereut. Die vergangenen Jahre bin ich zum Wintersport immer in die Alpen gefahren. Und nun ins Ungewisse, in ein Land, von dem ich kaum etwas wusste. Im Flugzeug hatte ich das nächste Wunder.“ Und er erzählte ihr von dem runden Regenbogen um den Flugzeugschatten. Maria hörte ihm mit großen Augen zu. „Ich komme hier an und fahre gestern nicht mit der Reisegruppe und dem Bus zur Bergen-Rundfahrt, sondern gehe hier spazieren und ausgerechnet zu diesem … Wie hieß das Flüsschen hier?“

Millstream.“

„ … Mühlbach. Und ausgerechnet zu der Zeit, als du hier warst und in den Millstream gerutscht bist. Das alles zusammen gesehen sind schon sehr viele Zufälle. Aber es kommt noch etwas dazu. Wir lernen uns durch den Unfall kennen und …“ Wolfram machte eine kurze Pause. „ … und benehmen uns nach Stunden, als würden wir uns schon Monate kennen. Findest du das nicht alles etwas mehr als merkwürdig?“

Maria zuckte mit den Schultern. „Ich bin unendlich froh, dass alles so gekommen ist.“

„Hast du dich immer so schnell, in ein paar Stunden, verliebt?“, fragte Wolfram.

Nun schüttelte sie den Kopf.

„Siehst du, ich auch noch nie! Ich habe Bekannte, die haben mir mal erzählt, dass sie sich innerhalb von zehn Minuten verliebt hätten. Sie kannten sich zwar vorher schon etwas, aber an eine Partnerschaft war gar nicht zu denken. Und dann auf einmal, innerhalb von wenigen Minuten, waren sie ganz plötzlich verliebt. Ich habe das für maßlos übertrieben gehalten. Damals dachte ich, so etwas kann gar nicht halten.“

Maria blickte ihn wieder mit großen Augen gespannt an.

„Heute glaube ich ihnen, denn inzwischen haben sie schon Silberhochzeit gefeiert und lieben sich noch immer. Das heißt, obwohl ihre Kennlernphase nur Minuten gedauert hat, ist es wirkliche dauerhafte Liebe geblieben. Das war für mich völlig unvorstellbar. Und heute erlebe ich fast das Gleiche selbst. Glaubst du immer noch an Zufall?“

Sie zuckte wieder mit den Schultern.

„Es kommt mir so vor, als ob das alles keine Zufälle waren. Das sieht so aus, als ob da irgendwas oder irgendwer nachgeholfen hat.“ Maria fragte erstaunt: „Gott?“

„Ja, vielleicht oder irgendwas anderes. Ich weiß es nicht.“ Er blickte sinnend ins Leere. „Mir fällt dabei immer wieder meine verstorbene Tante ein, die meinte, dass alle Zufälle Botschaften aus der geistigen Welt seien. Und wenn ich an die Sache mit dem Regenbogen im Flugzeug denke … Vielleicht wusste meine Tante viel mehr, als wir alle damals glaubten.“

Maria hatte von all dem nicht viel verstanden. Aber sie fühlte, dass er recht hatte. Sie fühlte, dass diese tiefe Zuneigung, die sie schon nach einem Tag verband, einen tieferen Sinn haben musste. Sie schmiegte sich ganz fest an ihn und wünschte sich, dass dieser Zustand nie aufhören möge.

Langsam liefen sie wieder zurück zum Hotel.

„Soll ich dich wieder nach Hause bringen?“, fragte Wolfram.

„Ich weiß nicht. Man wird uns sehen und dann werden alle gleich wissen, dass du mich nach Hause gebracht hast.“

„Wäre das schlimm?“

„Na ja, du weißt doch, wie sie mich hier alle nennen. Man würde vielleicht über dich lachen.“ Sie sah ihn ängstlich an.

 

„Das interessiert mich am allerwenigsten. Hauptsache, du bekommst dadurch keine Probleme.“

„Ich? Nein.“ Und sie schüttelte wieder ihren Kopf. „Nun, dann gehen wir. So sind wir noch ein paar Minuten länger zusammen.“

Sie waren gerade auf der Höhe des Hotels, da fragte sie: „Du willst nicht, dass ich über Nacht bleibe?“ Ihr Herz pochte so laut, dass sie Angst hatte, Wolfram würde es hören.

„Ich verstehe dich. Ich verstehe dich wirklich! Willst du es denn?“ Maria sah ihn regungslos mit großen Augen an.

„Ich glaube, es ist besser, dass wir besonders den Leuten hier in euerm Dorf zeigen, dass das für uns nicht das Wichtigste ist. Vielleicht nennen sie dich dann irgendwann wieder nur noch Maria.“

Sie umarmte und küsste ihn, Tränen liefen ihr über die Wangen. Dieser Mann liebte sie wirklich. Noch nie war sie sich so sicher gewesen wie bei Wolfram.

Inzwischen waren sie fast an Marias Haus angekommen. „Sehen wir uns morgen?“, fragte Maria.

„Ja, aber erst nach 16.00 Uhr. Diesmal will ich die Busfahrt mit der Reisegruppe mitmachen. Inzwischen interessiert mich deine Heimat; sogar sehr.“

„Ich werde auf unserer Brücke am Millstream auf dich warten.“

„Sagen wir 17.00 Uhr. Ich weiß nicht, wann der Bus zurück sein wird.“ Maria nickte.

Jetzt standen sie vor ihrem Haus, verabschiedeten sich kurz und Wolfram ging schnell zurück zum Hotel.

Maria wurde im Haus schon von ihrem Vater erwartet: „War das wieder der Deutsche? Lernst du denn nie dazu? Und in neun Monaten hast du dann vier Kinder. Ich begreife dich nicht. Und dann noch ein Deutscher! Ein viertes Kind nehme ich hier nicht mehr mit auf. Dann musst du zusehen, wo du wohnst. Hier nicht mehr!“ Mit diesen Worten verließ er den Hausflur und verschwand im Wohnzimmer.

Maria ging die Treppe nach oben zu ihren Kindern und Andrea. „Mamma!“, hörte sie aus drei Kindermündern. Maria nahm ihre Kleinen in die Arme und drückte sie ganz lange.

Ihre Schwester konnte die Ungeduld nicht mehr länger zurückhalten: „Und, wie war’s?“

„Einfach herrlich. Ich hätte die Kinder ruhig mitnehmen können. Wir hätten keine Angst haben müssen. Am Anfang war er sogar ein bisschen enttäuscht, dass ich allein kam.“ Dabei sah sie Andrea mit glücklichen Augen an. Ihr ganzes Gesicht strahlte. „Wolfram hat ein Auto gemietet und wir waren in Bergen. Wir waren sogar auf dem Airport.“ Maria erzählte ihr, was sie alles gesehen hatte, auch von dem Spaziergang am Millstream und dem, was Wolfram berichtet hatte.

„Wer ist der Mann?“, fragte die sechsjährige Eva naiv.

„Ein ganz lieber Onkel“, antwortete ihre Mutter. „Ich nehme euch mal mit und dann wirst du ihn auch kennenlernen.“

Eva sah ihre Mutter etwas ängstlich an. Ein fremder Mann war ihr unheimlich. Andrea hingegen war nun richtig neugierig auf ihn geworden. „Meinst du, ich kann ihn auch mal näher kennenlernen?“

„Sicher, aber wie?“

„Er wollte doch die Kinder kennenlernen“, meinte Andrea. „Könnte ich nicht mit den Kindern ums Dorf spazieren und wir treffen uns zufällig?“

„Ich weiß nicht. Das merkt er bestimmt und er hasst Lügen. Besser, ich sage es ihm und wir treffen uns eben nicht zufällig. Er will doch die Mädchen kennenlernen. Da das hier im Haus wegen Pappa nicht geht, musst du sowieso dabei sein. Einer muss doch auf die Kinder aufpassen, wenn ich ihn abhole. Ich glaube, das ist besser.“

„Ja, das geht auch“, meinte Andrea aufgeregt.

Sie brachten die Kinder zusammen ins Bett und sprachen noch viel von Wolfram, bis sie sich dann auch zur Ruhe legten.

Als Wolfram am nächsten Morgen vor der Rezeption aus dem Fahrstuhl trat und zum Frühstücken wollte, grüßte Portier Sven freundlich.

„Das mit der Flasche wäre nicht nötig gewesen. Aber trotzdem, danke!“

„Na ja, ich war doch über eine Stunde zu spät.“

„Aber es war nur eine Stunde. Das ist doch nicht schlimm.“ Da antwortete Wolfram: „Sie vergessen, ich bin Deutscher. Da sind schon fünfzehn Minuten schlimm.“ Und mit einem Lächeln ging er frühstücken.

Nach dem Frühstück fuhr der Bus mit der Reisegruppe nach Norden durch die wilde Fjordlandschaft. Es war ein wunderschönes Land, stellte Wolfram fest. Rau, aber sehr viel Natur. In Deutschland war die Zivilisation schon fast auf jedem Quadratmeter Erde angekommen. Es gab nur noch wenige Flecken unberührter Natur. Bis vor Kurzem hatte ihn das wenig interessiert. Aber hier hatte Wolfram wieder lieben gelernt. So, wie die Liebe zu Maria in ihm wuchs, vergrößerte sich auch die Liebe zu ihrer Heimat und zur Natur allgemein. Wenn er so zurückdachte, fiel ihm auf, wie sehr er sich doch in den letzen zwei Tagen verändert hatte.

Am Nachmittag waren sie wieder zurück in Håp Land. Als Wolfram das Hotel betrat, rief ihn der Portier. Wolfram ging nichts Gutes ahnend zu Sven.

„Ja?“, fragte er.

„Ich habe hier einen Brief für Sie. Er ist heute Mittag abgegeben worden“, sagte Sven und überreichte ihm ein Kuvert.

Hastig öffnete Wolfram den Brief und las:

Lieber Wolfram,

ich kann erst 19.00 Uhr bei dir sein. Ich muss Mamma bei der Wäsche helfen. Bitte sei mir nicht böse. Ich warte dann am Hotel.

Deine dich liebende Maria.

Wolfram war beruhigt. Das war ja gar nicht so schlimm, wie er erst gedacht hatte. Und so machte er wieder ein zufriedenes Gesicht.

Da sprach ihn Sven noch einmal an: „Bitte verzeihen Sie mir, aber darf ich Ihnen mal eine persönliche Frage stellen?“

Wolfram sah jetzt ernst zu Sven herüber und nickte.

„Wer war die Frau, die diesen Brief brachte?“

„Maria sicher. Sie kennen sie doch.“

„Nein, das war nicht Tou…“ Er stockte, als er die Falten auf Wolframs Stirn bemerkte. „Verzeihung … nicht Maria“, ergänzte er dann und lächelte verlegen. „Diese junge Frau kenne ich nicht.“

„Dann war es sicher ihre Schwester.“

„Ihre Schwester – hm.“ Sven fuhr fort: „Dann kennen Sie wohl schon die ganze Familie?“

Wolfram nickte und versuchte, in Svens Gesicht die Ursache für dieses plötzliche Interesse zu finden. Doch in dessen Antlitz war nichts Hinterhältiges zu erkennen. Es war eher eine ehrliche Neugier.

„Ich habe gar nicht gewusst, dass Ihre Maria eine Schwester hat.“ Sven stockte erneut. Da war ihm schon wieder etwas herausgerutscht, das er besser für sich behalten sollte. „Na ja, dass Sie sich mit Maria treffen, wissen doch schon alle“, sagte er verlegen. „Sie waren gestern mit ihr in Bergen? Man hat mein Auto gestern Nachmittag in Bergen gesehen.“

„Ja, ich war in Bergen … mit ihr. Stört Sie etwas daran?“ Wolframs Stimme wurde etwas gereizt.

„Nein, nein. Ich fand es eher lustig, wie mein Auto doch beobachtet wird. Wer das Auto fährt, sieht niemand, aber dass ich nicht auf Arbeit war, wusste schon das halbe Dorf, in dem ich wohne, als ich nach Hause kam.“

Der aufkommende Ärger war bei Wolfram sofort wieder verflogen und er schmunzelte. „Ja, so ist das auf dem Dorf.“

„Ist das bei Ihnen in Deutschland auch so?“, fragte Sven.

„Auf dem Dorf? Ganz genauso. Was einer weiß, wissen alle. In der Stadt ist es nicht so.“

Wolfram erzählte Sven von Deutschland und von Sonnenberg. Schließlich hatte er jetzt viel Zeit, bis Maria kam, und für Sven war es wohl auch eine willkommene Abwechslung in der eintönigen Portiersarbeit.

„Wissen Sie“, begann Sven sehr vertraulich, „wenn ich Sie so höre, dann kommen mir die Deutschen richtig sympathisch vor.“

„Na ja, manche Deutsche sind schon gewöhnungsbedürftig. Dass sie aber hier so abgelehnt werden, haben sie sicher nicht verdient; zumindest die heute lebenden nicht.“ Wolfram spielte damit ganz bewusst auf die allgemeine Ablehnung wegen des Zweiten Weltkrieges an. Er wollte wissen, wie Sven dazu stand.

Der meinte: „Sie haben recht. Die meisten sind ja erst nach dem Krieg geboren und können demnach nichts dafür, was im Krieg passiert ist.“ Das war ehrlich und offen. Wolfram bedankte sich für diese Antwort.