Malekh

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Kapitel 2

Hubert lief ziellos durch Geilenkirchen. Der Mann verfolgte ihn schon den dritten Tag. Nicht, dass er aufdringlich wurde. Er begegnet ihm auf Schritt und Tritt. Ein großer Typ mit breiten Schultern und schmalen Hüften, um die Dreißig. Das markante, hagere Gesicht strahlte Härte aus. Er trug das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz, der eine beachtliche Länge aufwies. Ein wenig sah er aus, wie eine Jugendausgabe von Indiana Jones und Krokodil Dundee. Graue Augen musterten ihn hellwach. Zumindest hatte er das Gefühl. Er fühlte den Blick überall.

Der denkwürdige Heilige Abend lag ein knappes halbes Jahr zurück. Er dachte nicht an Malekh. Sie war nicht in seinen Gedanken. Er besaß noch nicht einmal eine Ahnung, dass die Begegnung stattgefunden hatte. In ihm lag das Gefühl einer Veränderung, die mit dem vergangenen Weihnachtsfest in Verbindung stand. Er, der nie etwas mit Kochen am Hut hatte, interessierte sich plötzlich für Backrezepte. Insbesondere Plätzchen. Als er das erste Mal im Internet recherchierte, fasste er sich an den Kopf. Mittlerweile besaß er eine beachtliche Sammlung. Doch das, was latent durch seine Gedanken geisterte, war nicht dabei. Was genau, konnte er nicht ausdrücken.

»Soll ich Ihnen ein Foto von mir geben?« Hubert stellte den Mann am Rathaus, kurz vor der Unterführung, die zum Krankenhaus führte.

»Entschuldigen Sie bitte. Habe ich mich tatsächlich so dumm verhalten?« Er sprach mit einer angenehmen dunklen Stimme. »Ja, ich folge Ihnen. Wusste jedoch nicht, wie ich mich Ihnen nähern sollte. Ich bin Urian.« Er klang keineswegs ertappt.

»Was wollen Sie von mir?« Er war schon besänftigt, weil der Typ nicht im Geringsten unseriös wirkte.

»Trinken wir eine Tasse Kaffee.« Er zeigte auf die Tische und Stühle vor dem Hotel. »Ich werde versuchen zu erklären, weshalb ich so offenkundiges Interesse an Ihnen zeige.«

»Also«, begann er und stopfte umständlich eine Pfeife. Sie saßen im Schatten, denn die Mittagssonne brannte unangenehm. »Sie zeigen Interesse an alten Backrezepten. Ich suche ebenfalls solche Schätzchen. Sie werden sich fragen, wieso. Ein Familienerbe. Seit Generationen sind wir auf der Suche nach besonderem Backwerk. Eine Legende besagt, dass in dieser Gegend ein Plätzchen gebacken wurde, welches Schmerzen lindert und Gemütskrankheiten heilt.«

»Sie und Ihre Familie versuchen also schon länger, dieses Rezept zu bekommen? Sie machen mich neugierig. Ich habe noch nie davon gehört.« Hubert wunderte sich. Er war mittlerweile Fachmann für Teigzusammensetzungen, doch die Mischung, die Urian ansprach, musste wirklich ungewöhnlich sein.

Der Mann musterte ihn eindringlich und die Augen brannten in sein Gehirn. Ihm gefiel scheinbar nicht, was er sah. »Schade. Ich dachte, Sie haben eine Lösung für mein Problem. Ist Ihnen, in diesem Zusammenhang, etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« Er stellte Frage wie nebenher.

Hubert spürte, dass mehr dahinter steckte. Er schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie, wo hier, vielmehr in Ihrem Dorf, eine Plätzchenbäckerei gestanden hat?«

»Davon höre ich zum ersten Mal. Ich werde mich umhören.«

»Entschuldigen Sie.« Der Pferdeschwanz stand auf. »Sie sind die falsche Person. Ich habe mich geirrt.« Er schritt weit ausholend davon.

Hubert starrte konsterniert auf die Bedienung, die zwei Tassen Kaffee brachte.

*

Die alte Wilhelmine wusste etwas über eine Bäckerei. Sie war achtundneunzig und begegnete ihm in der Nähe der Kreuzung, von der sechs Wege abgingen. Drei führten direkt in die Heide. Die anderen ins Dorf.

»Hier bei deinem Hof muss das gewesen sein«, erklärte sie kurzatmig und sog an dem Schlauch, der zu einem Sauerstoffgerät führte. »Meine Großeltern erzählten davon. Klar, dass im Dorf niemand mehr davon weiß.« Sie nickte ernsthaft, wobei sich hunderte Falten kummervoll verzogen. »Das ist sowieso eine verwunschene Ecke hier. Als Kinder haben wir uns nie hierher getraut. Urian treibt sich hier herum.«

»Wer?« Er schrie fast.

»Der Teufel. Wusstest du das nicht?«

»Nein«, würgte er heraus. »Du bist dir sicher?«

»Natürlich nicht. Du weißt doch, was Eltern erzählen, damit die Kinder gehorchen. Heute besteht die Gefahr nicht mehr. Mit dem technischen Kram kommen die Puten ja nicht mehr vor die Tür.« Sie drehte geschickt den Rollstuhl. »Tue mir einen Gefallen. Ich war noch nie an deiner Quelle.« Sie nickte den Weg hinunter zu den mächtigen Birken.

Hubert schob sie die zweihundert Meter bis vor das sprudelnde Wasser.

Wilhelmine hörte mit verklärtem Blick dem Plätschern zu. »Man sagt, das Wasser habe heilende Wirkung. Doch irgendwie vergesse ich diesen Platz immer wieder. Danke. Schiebst du mich zum Weg?« Sie legte den Schalter um und fuhr in Richtung Dorf. »Gib mir auf Urian acht«, rief sie und lachte meckernd.

Hubert sah ihr ratlos hinterher. Nach einigen Minuten riss er sich aus seiner Erstarrung und schlenderte nachdenklich zum Haus. Der Typ hatte sich frech als Teufel vorgestellt und er bemerkte es nicht. Bei den Germanen hieß der Herr der Hölle Urian.

Hubert schüttelte den Kopf. Irgendwie tickte er nicht sauber. Was scherte ihn der Teufel oder ein Spaßvogel, der sich so vorstellte?

*

»Hubert.« Hein Reinders hielt ihn wenige Tage nach dem Gespräch mit Wilhelmine auf.

Er sah dem alten Mann entgegen, der geschickt mit der Gehhilfe hantierte. Bis vor einigen Jahren wusste Hubert nicht, dass ihm ein Bein fehlte. Die Prothese wurde durch die Hose verdeckt und er benutzte niemals einen Stock. Erst jetzt im Alter griff er auf das Gestell mit den kleinen Rädern zurück. »Hubert«, sagte er nochmals, als er bei ihm anlangte. »Ich hörte von deinem neuen Hobby.« Er betätigte am Handgriff die Sperre für die Bremse. »Die Rezepte«, ergänzte er ob seines verständnislosen Gesichtsausdrucks.

»Du hast mit Wilhelmine gesprochen.«

»Ja.« Reinders nickte bestätigend. »Du suchst eine Bäckerei aus fernen Zeiten. Damals, ich lag im Krankenhaus, erzählte mir Willi, den Nachnamen kenne ich nicht mehr, davon. Nach seinen Worten lag sie am Fuße eures Hügels. Schade, dass dein Vater nicht mehr lebt. Der könnte dir davon erzählen.« Er grinste und zeigte das makellose dritte Gebiss. »Aber sei vorsichtig. Mir hat der Hügel damals das Bein genommen.«

»Der Hügel? Ich dachte, du hast mit Munition aus dem Krieg gespielt.« Der Alte war wohl schon etwas wirr im Kopf.

»Das ist richtig. Ich war zehn Jahre alt. Ich will dich nur Vorsicht mahnen. Am Fuße der Erhebung«, er nickt mit Kopf dorthin, »sammelte sich die Munition. Man möchte glauben, euer Berg verhinderte die Detonationen. Ich glaube nicht, dass dort alles weggeräumt ist.« Er machte eine abschätzige Handbewegung. »Genug davon. Jener Willi, aus vergangenen Tagen, gab mir zwei Gebäckstücke, in der Annahme, mein Bein würde nachwachsen. Das war 1946, kurz nach meinem zehnten Geburtstag. Aber«, er grinste wieder, »es hat nichts geholfen. Die beiden Plätzchen hat er gestohlen, und zwar ... aus eurer Kate.«

»Unmöglich«, entfuhr es Hubert. Er wusste sicher, dass niemand in die Kate gelangte, der nicht zum engeren Familienkreis gehörte.

»Mag sein.« Reinders hob die Schultern, wobei ein Schatten über sein Gesicht zog. »Mir gelang es nie, in die Nähe der Hütte und der Quelle zu kommen. Ich glaubte mein Leben lang, dass ich dort mein Bein wiederbekomme.«

»Das ist doch Blödsinn. Es tut mir leid mit deinem Bein, aber ... dir muss doch klar sein, dass Gliedmaßen nicht nachwachsen.« Er sah auf die Kuhweide und verdrehte die Augen. Er war es selbst schuld. Mit der Suche nach dem Rezept lockte er alle Spinner an.

Das Gespräch mit dem alten Hein Reinders lief ihm einige Tage nach. Aber an und für sich war es klar, dass die Leute sich Gedanken über das Gebiet um die Quelle machten. Vor allem, weil niemand dorthin gelangte ... aus welchen Gründen auch immer. Über diesen Willi musste er Erkundigungen einholen.

*

»Guten Tag, die Herren.« Hubert grüßte die vier Männer, die auf der Bank vor dem Heideeingang saßen, und lief langsam weiter.

»Nicht so schnell, Junge«, rief einer der alten Herren.

Er hielt an und putzte mit dem Tuch, das er über der Schulter trug, den Schweiß aus dem Gesicht. Er hatte keine Lust stehen zu bleiben, denn er trug so ein Prollshirt, mit dem er normalerweise nicht auf die Straße ging. Darin genierte er sich. Doch die Sonne brannte heute derart, sodass er nicht damit rechnete, jemandem zu begegnen. Da hatte er nicht an die Rentnerband gedacht. Drei bis fünf alte Männer, keiner unter fünfundsiebzig, trafen sich Tag für Tag. Sie saßen hier, in unterschiedlichen Konstellationen, seit Generationen. Der Zustrom schien unerschöpflich. Sie trugen die Weisheit des Alters und das Wissen der Vergangenheit. Ihre Kleidung war immer korrekt und sie sahen aus, wie aus dem Ei gepellt. Sie konnten jederzeit in die Messe gehen. Doch diesen Weg nahmen sie selten. Ihre Kirche war die Natur, die sie anbeteten und genossen.

»Setz dich Hubert.« Sie rückten zusammen.

»Entschuldigen Sie meinen Aufzug«, meinte er beschämt, während er Platz nahm.

»Es ist das Recht der Jugend sich zu kleiden, wie du magst«, sagte der schmale hohlwangige Mann, namens Karl. »Du kannst uns ruhig duzen, als Kind hast du es auch getan.« Die anderen nickten.

»Wir wollen dich nicht lange aufhalten.« Peter, ein Bauer in seinem früheren Leben, beugte sich nach vorn, sodass er ihn ansehen konnte. »Du fragst im Ort nach der alten Plätzchenbäckerei. Sie wurde Anfang der Fünfziger geschlossen. Vor dem Krieg fertigten sie dort Weihnachtsgebäck. Während des Krieges wurde der Betrieb eingestellt.«

 

»Nach 1945 wurde die Produktion kurzzeitig wieder aufgenommen, bis Anfang der Fünfziger Jahre. Die Plätzchen fanden keinen Absatz mehr. Etwas fehlte. Eine Zutat oder so etwas, besagte ein Gerücht«, übernahm Karl wieder. Er stockte kurz und Hermann schaltete sich dazwischen. Er arbeitete früher auf den Glaswerken.

»Geheimnisvoll war die Sache schon. Wir waren noch Kinder und wussten, dass da etwas war. Wir kamen nie in die Nähe des Betriebes oder des weiteren Geländes um den Hügel herum. Darüber unterhielten wir uns in den letzten Jahren häufiger«, eine Handbewegung schloss die Altersgenossen ein, »eine Erklärung fanden wir nicht. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die verstehen wir nicht.« Hermanns rotbäckiges Gesicht produzierte einen traurigen Zug.

»Jetzt kommst du und suchst das Rezept, weswegen die Bäckerei wahrscheinlich geschlossen wurde. Du verstehst«, Kurt, der pensionierte Postbeamte, lächelte, »ich meine die fehlende Zutat. Was veranlasst dich zu der Suche?«

»Wenn ich das wüsste.« Huberts Haltung verriet Spannung. Doch die aufkommende Hoffnung flaute wieder ab. Die alten Herren wussten nicht viel mehr, als er.

Auf dem Nachhauseweg fühlte er die Spannung in Luft. Wenn er sich recht erinnerte, lag sie bei den anderen Gesprächen zu dem Gebäck auch in der Luft. Er konnte sie an nichts festmachen. Sie machte sich durch Nervosität bemerkbar, die die Härchen auf den Armen hochstellte. Wie so oft schoss der Gedanke durch den Kopf, welcher Geist ihn ritt, Weihnachtsplätzchenrezepte zu suchen. Hinzu kam der Verfolgungswahn. Er sah an allen Ecken und Kanten huschende Schatten, die ihn erschreckten. Er sollte zum Arzt gehen.

*

Kapitel 3

Er schlug die Augen auf. Etwas war anders. Klar, der erste Adventssonntag. Aber, das war es nicht. Irgendwer war im Haus, der nicht hierher gehörte. Er schüttelte die Ahnung, mehr war es nicht, ab und ging ins Badezimmer.

»Sakekadey. Da bist du ja, du Penner.« Malekh saß am Tisch, als er in die Küche kam. Sie sah aus, wie … na ja, damals.

Hubert stand einige Sekunden erstarrt, während die Erinnerung einsetzte. Richtig. Einhundert Tage seines Lebens. Die Bekloppte war wieder da.

»Verschwinde«, sagte er barsch. »Du bist kein Engel, sondern eine Betrügerin. Von hundert Tagen war die Rede, nicht von vier Jahren.«

»Stell dich nicht so an. Wenn ich nicht so großzügig wäre, müssten es fünf Jahre sein. Du kannst nicht rechnen.« Sie lächelte zuckersüß. Malekh trug dasselbe Kleid, wie beim letzten Mal. »Ich freue mich übrigens, dich zu sehen.«

»Ich nicht«, brummte er. Er war sauer darüber, dass sie und ihre Helfer ihm die Begegnung, faktisch aus dem Gehirn gelöscht hatten.

»Schade«, meinte sie, keineswegs enttäuscht. »Wir haben bis zum Heiligen Abend Zeit.«

»Wo wirst du wohnen?«, fragte er.

»Hier.« Ihre Handbewegung umfasste das gesamte Haus.

»Du bist bekloppt.« Er schüttelte vehement den Kopf. »Das schminke dir ab.« Außerdem brauchte er vorrangig eine Tasse Kaffee und Ruhe.

Sie beobachtete wortlos, wie er das Frühstück richtete. Erst nach der zweiten Schnitte Brot mit Erdbeermarmelade, und das dritte Glas Milch fragte sie: »Geht es dir gut?«

Er nickte. »Falls du mir die Erinnerung gelassen hättest, wahrscheinlich besser.«

»Ich sehe, was ich tun kann.« Sie sah ihn mitleidig an.

»Ich bin nicht behindert«, fauchte er und sprang auf. »Du bekommst das Gästezimmer ... unter Protest. Einige Regeln«, er baute sich vor ihr auf. »Du ziehst dir vernünftige Klamotten an und läufst nicht halb nackt hier herum. Ich will meine Ruhe. Du bist also unsichtbar. Wir können zusammenarbeiten, wenn du mir meine Erinnerung lässt ... ansonsten scher dich zum Teufel.« Er wischte imaginäre Haare aus dem Gesicht.

»Den musst du aus dem Spiel lassen.« Ihr Gesicht bekam einen ernsten Ausdruck. »Nur, weil du nichts von mir wusstest, hast du die Begegnung mit ihm ungeschoren überstanden. Du besitzt nicht die Möglichkeiten, ihm gegenüberzutreten.« Sie stand langsam auf und war sich durchaus der Wirkung ihrer Bewegungen bewusst.

*

»Bist du verrückt?«, schrie Hubert, als er den Schlag bekam. »Hast du noch alle Tassen im Schrank.« Er flog von der Tür durch die Wand neben dem Kamin. Wütend sprang er auf, schüttelte die Erde ab und erstarrte. Er stierte mit irrem Gesichtsausdruck auf Malekh, die ihn mit gleichem Mienenspiel beobachtete. Tatsächlich stand er einen halben Meter im Hügel und wagte nicht, sich umzudrehen. Zwischen seinen Schulterblättern zog Spannung auf, in Erwartung eines Monsters, das ihn packte. Steifbeinig schob er den Dreck beiseite und trat zwei Schritte in die Kate zurück. »Was ist hinter mir?«, fragte er, unfähig sich umzusehen.

»Ein Loch«, flüsterte sie, wobei der Schalk in ihren Augen glimmte. »Ein tiefes, großes schwarzes Loch«, fuhr sie mit hohler Stimme fort.

»Hör auf mit dem Stuss.« Er sah mittlerweile auf die Bescherung, eine Öffnung in den Berg. Das Licht reichte circa einen Meter in den mannhohen Gang. Dahinter lag Dunkelheit. »Und jetzt?«, wollte er wissen.

»Wir laufen weg?«, fragte sie ironisch. Malekh drückte ihn zur Seite. Sie trug Jeans, die er ihr besorgt hatte und ein weites kariertes Hemd, das ihm gehörte. Sie bot einen höchst erfreulichen Anblick. Anfassen war jedoch verboten. Vorhin wollte er sie lediglich beiseiteschieben. Das Ergebnis davon schauten sie gerade gemeinsam an. »Ich gehe da hinein.«

»Warte. Ich hole eine Taschenlampe.«

Hubert verdaute Malekhs neuerliches Erscheinen nur langsam. Er stand fast in der gleichen Situation, wie am Heiligen Abend des vergangenen Jahres. Sie brach in sein Leben ein und er besaß nicht die Möglichkeiten, etwas entgegenzusetzen. Mehr als Wut und Resignation blieben ihm nicht.

Deshalb setzte er ihre Idee, zur Kate zu gehen, sofort um. Auf dem kurzen Weg dorthin wollte er seine Gedanken ordnen. Er mochte nicht daran denken, wie alles wieder über ihm hereinbrach. Das Gefühl der Ohnmacht, die Gewissheit verrückt zu werden und die Freude, Malekh wiederzusehen. Er spürte wieder das Flirren von Elektrizität in der Luft, wie so häufig in den letzten Monaten.

Jetzt leuchtete er den fast fünf Meter langen Gang aus. Das Licht verlor sich dahinter in der Ferne.

Hubert war darauf gefasst, jeden Moment von einem Monster gepackt zu werden. »Verdammte Kacke. Ich gehe keinen Schritt weiter.« Voller Ekel drückte er Spinnweben, so dick und dicht, wie eine Wolldecke, beiseite.« Er wollte nicht hinter Malekh zurückstehen und folgte mit hochstehenden Härchen auf dem Körper. Die blöde Kuh hat es viel einfacher als ich, ging ihm durch den Kopf. Sie ist ein Engel und ihr kann nichts geschehen. Sein Vorwärtsgang wurde abrupt gestoppt, denn er lief auf seine Begleiterin auf. Er sprang zurück, um nicht wieder einen Schlag zu bekommen. »Was ist los?«, flüsterte er.

»Eine Türe.« Dicke grob gezimmerte Bohlen versperrten den weiteren Weg.

»Gut«, sagte er erleichtert. »Lass uns umkehren.« Angst fraß an ihm.

»Du Weichei.« Sie kicherte. »Natürlich gehen wir weiter.«

Trotz aller Bedenken huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Sie war ein Kind auf Abenteuertour und riss ihn mit. Dabei missachtete sie jede Sicherheitsregel, sofern es eine gab.

Malekh hantierte an dem schweren Riegel, der auf der linken Seite in der Wand des Ganges anschlug. Der Schieber rutschte leicht zurück und die Tür schwang wie von Geisterhand auf. Sie sahen in einen weiteren Gang, der jedoch nach wenigen Metern an einer Treppe endete. Die Stufen bestanden aus trockenem Lehmboden und zogen sich, so weit das Licht reichte, in die Tiefe.

»Da gehen wir aber jetzt nicht runter«, meinte Hubert besorgt. Trotzdem folgte er. Dabei fuhr er mit den Händen durch die Haare und durchs Gesicht, um imaginäre oder tatsächliche Krabbeltierchen zu entfernen. Im Treppenabgang hingen weder Spinn- noch Staubweben. Die Umgebung wirkte klinisch rein. Hubert fuhr mit den Fingern über die Wände, die eine, ihm unbekannte Glasur bedeckte. In regelmäßigen Abständen stützten unbehandelte, schenkeldicke Baumstämme Decke und Tunnelwandung. Die Treppe verlief in einen sanften Bogen. Noch vier Stufen und sie ständen auf dem Boden.

Malekh stockte kurz und machte die wenigen Schritte nach unten. Gleißende Helligkeit brach über sie herein.

»Verdammt. Mach das Licht aus. Es brennt mir das Gehirn aus dem Kopf.« Hubert schrie und presste die Hand auf die Augenlider. Doch er merkte schon, wie die Lichtfülle nachließ.

»Das ist ein Ding.« Malekh zeigte nach vorn, in ein kuppelartiges Gewölbe, dessen bogenförmige Decke, etwa fünfzehn Meter in der Höhe, auf einem Punkt zusammenlief.

Am Fuß der Stufe folgten Tischreihen dem kreisförmigen Verlauf der Außenwand. Sie liefen in einer Spirale zur Mitte, unterbrochen von schnurgeraden Gängen zur gegenüberliegenden Wand. Dadurch entstand ein strahlenförmiges geometrisches Muster.

In der Mitte thronte ein Rührwerk für das, was immer hier hergestellt werden mochte. Nicht aus glänzendem Edelstahl, sondern ein riesiger emaillierter Topf mit gusseisernen Knethaken. Über Walzen liefen breite Lederbänder, die von großen Schwungrädern angetrieben, die Kraft in das Rührwerk transformierten. Am Boden des Behältnisses wurde der Teig, wie bei Spritzgebäck aus einem Fleischwolf, herausgedrückt. Die Stränge liefen auf schmale Gummibänder zu den Arbeitsplätzen, die sich endlos durch die Halle zogen. Die Anlage wurde von Menschenkraft, oder waren es Engel?, angetrieben. An jedem Band stand ein Fahrrad ähnliches Gestell. Anstatt des Hinterrades lief ein Treibriemen auf ein Getriebe und trieb das Gebäck an den Arbeitern vorbei.

Welch eine Plackerei, dachte Hubert und sah die armen schwitzenden Leiber vor seinem inneren Auge.

Rundum, in den Wänden, deuteten bogenförmige Einschnitte auf weitere Zu- oder Ausgänge. Hubert zählte sechzehn. Über allem hing der Ring mit den Lichtquellen. Wie bei einer umgedrehten Hochzeitstorte, stuften in drei Etagen hunderte Leuchter.

»Die verlorene Weihnachtsbäckerei«, flüsterte Malekh.

»Die Weihnachtsbäckerei habe ich mir stimmungsvoller vorgestellt«, murmelte er.

»Klar. Du hast ja auch keine Ahnung, was für eine scheiß eintönige Arbeit, es ist, hier monatelang dieselben Muster aus dem Teig zu stechen.« Malekhs Handbewegung in den Raum drückte aus, was sie von ihm hielt.

»Eben deshalb.« Die Frau ging ihm auf den Keks. Sie raubte ihm jede romantische Vorstellung vom Weihnachtsfest. Vor ihnen lag eine vorsintflutliche Massenproduktionsanlage. Der dezente Geruch von Anis, Zimt und anderen Gewürzen lag noch in der Luft. Obwohl, wer weiß, wie lange, an diesem Ort nichts mehr hergestellt wurde. Er schritt nach unten und strich mit den Fingern über den Tisch, der am nächsten stand. Er trug einen ratlosen Ausdruck im Gesicht. »Malekh. Sag mir bitte, dass ich träume.« Seine Augen ruhten riesengroß auf ihr.

»Stell dich nicht so an. Was kann bedeutender für dich sein, als mir zu begegnen. Bei einem Engel bleibst du relativ cool ... und jetzt willst du aussteigen?« Sie schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Irgendwo wird ein Büro sein. Vielleicht finden wir das Rezept. Dann bist du zumindest mich los.«

»Eine verlockende Vorstellung.« Er grinste. »Eine Frage: Du sprachst von der verlorenen Weihnachtsbäckerei?«

»Klar. Aufgegeben, geschlossen ... verstehst du?«

Er nickte. »Dann los. Weißt du, wie wir ins Büro kommen?«

»Keine Ahnung. Wir müssen suchen. Gib mir deine Hand.« Sie führte ihn nach links vom Eingang und zeigte auf die Einlässe in der Wand. »Mit einem müssen wir anfangen.«

»Wir nehmen die Treppe dort.« Er zeigte auf eine schmale Stiege, die neben einem Stollen zu einer Plattform führte. Er sah Malekh unsicher an. »Weißt du, was du tust?« Sie fühlte sich an wie ein Mensch. Doch er sagte nichts. Möglicherweise bekam er wieder einen Schlag.

»Natürlich nicht du Blödmann. Ich bin zum ersten Mal in einer solchen Bäckerei.« Sie besaß tatsächlich nicht den Schimmer einer Ahnung. Was sie Hubert bisher verschwieg, verschweigen musste, war, dass das Engeldasein keine lustige Angelegenheit war. Sie lebte in einer Gemeinschaft mit festen unauslegbaren Regeln. Ihr Dasein beschränkte sich auf einen kleinen Bereich, in dem sie das ausführte, was ihr aufgetragen wurde. Ihre Aufgabe umfasste die Zuarbeit aller Aspekte zur Organisation des Weihnachtsfestes. Ein öder Job, weil seit Jahrhunderten dokumentiert. Man konnte nichts falsch machen. Um der Langeweile zu entkommen, las sie Geschichten über gefallene Engel, die seit einiger Zeit kursierten. Sie wurde erwischt. In der anschließenden Krisensitzung diskutierte der Ausschuss für Werteeinhaltung, eine angemessene Maßregelung. Sie wurde mit der schlimmsten Strafe bedacht, die vorstellbar war. Sie musste einhundert Tage, wie ein gefallener Engel auf der Erde leben. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Plätzchenproduktion unrund lief, weil die Rezepte ausgingen. Ihre Bereichsleiterin setzte noch einen darauf, in dem sie ihr auftrug, das verschollene Plätzchenrezept zu suchen. Als besonderen Zusatz ihrer Maßregelung musste sie einen Menschen finden, der diese Aufgabe, mit ihrer Anleitung und Begleitung, übernahm. Für die Vorbereitung bekam sie drei Tage Zeit. Bei der Planung unterlief ihr der Fehler, der sie mit Hubert zusammenbrachte. An und für sich sollte zu diesem Zeitpunkt die tatsächliche Zielperson mit ihrem Dackel Edgar dort vorbeikommen. Eine Frau namens Claudia Plum, die aufgrund ihrer Tätigkeit bei der Kriminalpolizei, eine wirkliche Hilfe gewesen wäre. Wenn es nicht so blöd wäre, würde sie an einen Schutzengel glauben, der ihr half.

 

Hubert entpuppte sich als wahrer Glücksfall. Der Typ saß wahrhaftig auf der Bäckerei und wusste es nicht. Unwillkürlich kicherte sie und warf einen Blick auf ihn. Natürlich, der Schisser stand starr und steif neben ihr.

Der Trick, den sie, vor denen, die über sie richteten, anwandte, war einfach genial. Mit Grausen dachte sie an diesen Moment. Das Strafmaß erschreckte sie. Doch, noch während sie dem Tribunal gegenübersaß, suchte sie einen Ausweg. Sie strebte nicht danach, die Sicherheit ihres Bereiches zu verlassen. Über gefallene Engel zu lesen war etwas anderes. Einhundert Tage. Wer wusste, was in dieser Zeit geschehen konnte? Jetzt verbrachte sie einen Monat mit der Suche nach dem Rezept. Und das streckte sich über drei Jahre. Die restliche Zeit lebte sie ihr Leben. Die Engel wollten ihr daraus einen Strick drehen. Egal.

Sie unterbrach den Gedankengang und orientierte sich. Die Treppe führte unentwegt nach oben. Unmerklich rückten sie mit der Bewegung nach innen. Also stiegen sie an der Außenwand entlang.

»Wir scheinen da zu sein«, flüsterte sie mit belegter Stimme.

»Das ist Wahnsinn«, stöhnte Hubert, der bisher schwieg. »Ich krieg es nicht in meinen Kopf.«

Vor ihnen lag ein breiter Gang, der circa fünfzig Meter in den Berg reichte. Rechts und links sahen sie altmodische Türen mit aufgebrachten Kassetten. Wahrscheinlich die Administration.

»Ich gehe keinen Schritt weiter, bevor ich nicht weiß, was geschieht.« Ihm wuchs eine steile Falte auf der Stirn. Er setzte sich auf den Boden, der mit einem Material belegt war, das er nicht kannte. Dazu ließ er ihre Hand los und erschreckte sie damit mehr, als wie sie, vorhin, ihn.

»Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung.« Sie sah auf ihn hinunter, mit verwundertem Ausdruck in den Augen. Die Verbindung der Hände gab ihr Sicherheit. Dessen wurde sie sich bewusst. »Weißt du, wie lange diese Bäckerei verschollen ist?«, fragte er rhetorisch.

»Seit ich denken kann.«

»Vier, fünf Jahre?« Er schmunzelte. Sie übertrieb immer so.

»Du bist ein Arschloch«, fauchte sie. »Wir sind in eine üble Sache gestolpert, wenn in dem, was erzählt wird, ein Körnchen Wahrheit liegt. Dazu muss ich dir noch etwas erklären.« Sie sah auf ihn hinunter. »So ein Betrieb ist nicht leicht zu organisieren ...«, sie reichte ihm wieder die Hand und zog ihn hoch, »vor allem nicht, wenn Urian beteiligt ist.«

»Verdammt. Was hat der Teufel damit zu tun?« Er fasste sie bei den Schultern ungeachtet der möglichen Folgen.

»Hier wird mit Feuer gearbeitet. Im unteren Drittel dieser Anlage stehen die Backöfen. Damit haben wir nichts zu tun.« Sie stieß mit dem Finger gegen seine Brust. »Das rührt alles von dem Streit damals.«

»Was für ein Streit?« Das Weib machte ihn wahnsinnig.

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass die sich gezankt haben.« Sie versuchte einen treuherzigen Augenaufschlag, um ihn abzulenken.

Hubert ließ sie stehen und strebte auf die schwere Bohlentüre zu, die sich von den anderen unterschied. Sie lag fast am Ende des Ganges. Er fasste den klobigen Griff und sie schwang lautlos auf. Ein Archiv. Zumindest ließen das die unzähligen Papiere in den Regalen vermuten.

Der Tisch in der Mitte bestand aus zwei Hälften eines dicken Eichenstamms. Sieben mal vier Meter maß die schmucklose, doch edle, Arbeitsplatte, deren Oberfläche einen glatten Schliff auswies. Speckige Stellen zeigten mehrere Arbeitsplätze um die riesige Platte.

Neben Pergamenten, Lederrollen, Papyrus und Materialien, die er nicht kannte, fand er über die gesamte Fläche verteilt, zeitgenössisches Papier. Dicht beschrieben, in unterschiedlichen Stilen von Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Hubert konnte das beurteilen, weil er nach seinem Maschinenbaustudium noch Geschichte belegte. Das Ambiente passte nicht. Angeblich befand er sich in einem seit ewigen Zeiten verschollenen Komplex. Und dann … Papier, das maximal sechzig Jahre auf dem Markt war. Die Situation wuchs ihm über den Kopf. Sein Leben veränderte sich stündlich, ohne, dass er Einfluss darauf nehmen konnte. Vielleicht gaben die Texte Aufschluss darüber, was insgesamt geschah. Die Schriftstücke und Zeichnungen lagen nicht chronologisch geordnet. Teils in lateinischer Sprache, so viel konnte er ausmachen, teils in unbekannter Schrift verfasst. Doch er wusste, dass sie nichts finden würden. Die Informationen, die er während des Jahres sammelte, stimmten in einem überein: Die Bäckerei wurde aufgrund einer fehlenden Zutat geschlossen. Dennoch ... vielleicht wurde etwas Wichtiges übersehen?

»Das ist engelisch.« Sie sah über die Schulter und tippte auf ein Blatt mit Krakeln und Kreisen. Es sah aus, wie ein Stück Papier, auf dem jemand in Langeweile herumgemalt hatte. »Aber das Plätzchenrezept ist nicht dabei.«

Sie sagte es so bestimmt, dass er nicht daran zweifelte. Ihm lagen einige Fragen auf den Lippen, die er sich verkniff. Was …, wenn sich herausstellte, dass sie lediglich auf der Jagd nach einem Haschrezept waren?

»Du sprachst vorhin von Urian. Der heizt also, klassisch der Teufel, die Öfen?« Hubert lehnte gegen die Arbeitsplatte und musterte die Wände, an denen Bilder hingen, die Szenen aus dem Backalltag dieser Anlage zeigten. Insgesamt wirkte der Raum, mit schweren Ledermöbeln, die zu Gesprächen oder zum Studieren einluden, gemütlich.

»Ich musste ein Synonym finden, das du verstehst.« Sie lächelte fast entschuldigend. »Stelle dir vor, ich hätte mich als Abgesandte eines Unternehmens vorgestellt, die Industriespionage verhindern soll … hättest du mir geglaubt?«

Hubert machte eine wegwerfende Handbewegung und stieß sich ab. »Auf jeden Fall wäre es glaubwürdiger als ein Engel.« Er verließ den Raum. »Ich will jetzt hier heraus.« Die blöde Zicke machte immer neue Fässer auf, um ihn zu verwirren. In den vergangenen dreieinhalb Wochen klebte sie wie eine Klette an ihm. Sie konnte arbeiten. Das gestand er ihr zu. Durch seine Gedanken zogen flüchtige Bilder, wie sie in den Stadtarchiven wühlte und relativ schnell feststellte, dass hier nichts zu holen war. »Warte.« Er überlegte und ging zurück. »Zeichne mir einen Querschnitt des Hügels, damit ich eine Vorstellung bekomme.«

»Das bringt dir …«. Sein Gesichtsausdruck ließ sie stocken. »Also gut.« Sie fand einen Stift und zeichnete einen Kreis, den sie mit fünf waagerechten Linien unterteilte. »Im unteren Segment liegen die Backöfen.« Sie unterbrach, als sie seine Skepsis bemerkte. »Ich weiß. Nach deinem Verständnis sollten sie woanders liegen. Doch ich kann es nicht ändern.« Sie fuhr den Außenkreis entlang. »Die Hülle besteht aus mehreren Wänden. Hierüber erfolgt die Wärmeableitung, bis in den Kamin, der sich dort befindet.« Sie flachte die obere Kuppel ab und kräuselte Linien, die wohl Rauch bedeuteten.

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