Mit Kommissarin Minou ist jederzeit zu rechnen

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Erster Teil oder die Welt ist fast noch in Ordnung
Urlaubszeit, der Schrecken aller Katzen

Der Sommer ist für mich mitunter eine karge Zeit. Dann ist nämlich Urlaubszeit. Das bedeutet, dass meine Verpflegung nicht im gewünschten Umfang sichergestellt ist. So auch im Juli des letzten Jahres. Da ereignete sich der Fall, von dem ich erzählen werde. Noch heute sträuben sich meine Katzenhaare, wenn ich daran zurückdenke.

Die Familie, die mich Katze nennt, war für zwei Wochen auf und davon. Das Haus wurde in ihrer Abwesenheit ab und zu von deren Kindern gehütet, die schon lange in anderen Regionen Deutschlands wohnten. Aber wie in den Jahren zuvor, vergaßen sie meistens, mir das Aluschälchen morgens vor die Tür zu stellen. Das lag sicher daran, dass sie morgens lange schliefen und dann für die mitgebrachten Freunde sorgen mussten. Da dachten sie nicht an die Verpflegung der Katze. Das hat nichts mit mir persönlich zu tun. Sie waren einfach nicht so pflichtbewusst wie ihre Eltern. Ich war mir sicher, dass sich das wohl auch nicht ändern würde. Sie waren einfach von ihren Eltern immer zu sehr verwöhnt worden und drehten sich immer nur um sich selbst, wie katze so sagt.

Fast zeitgleich war auch Sophias Familie nicht daheim, sondern machte Urlaub in den Bergen. Sie lieben das Bergwandern. Sophia selbst war mit Johann ebenfalls im Urlaub, und zwar für zwei Wochen. Urlaub dauert anscheinend in der Regel zwei Wochen.

Sophia liebt warme Länder und das Wasser. In den Bergen sei es ihr oft zu kalt, hat sie einmal zu einer Freundin gesagt. Und schwimmen könne sie da auch nicht. Aber das ist schon sehr lange her.

Während sich Sophia mit viel Streicheln, so, wie es sich meiner Meinung nach gehört, von mir verabschiedet hatte, waren die anderen einfach ohne ein Wort des Bedauerns und ohne Verabschiedung verschwunden. Daran ist katze als Katze jedoch gewöhnt.

Sophia hatte mir sogar erzählt, wohin sie mit Johann verreist, nämlich in die Türkei nach Istanbul. Ferner war ein Badeurlaub im Süden der Türkei vorgesehen. Den Namen des Ortes habe ich vergessen. In der Nähe sollten alte bzw. antike Städte liegen, die Johann besonders liebt. Teilweise sogar unter Wasser, also versunkene Städte. Das wäre absolut nichts für mich. Ich bin einfach kein Stadtmensch. Und dann noch Städte unter Wasser, nein, nichts für mich.

Johann ist ziemlich neu in der Familie. Er gefällt mir, weil er mich auch oft streichelt. Sophia hat ihn anscheinend an der Universität kennen gelernt. Wie ich darauf komme? Seit sie studiert, geht Johann bei ihrer Familie ein und aus. Er studiert auch Mathematik, aber kein Französisch. Stattdessen ist er offenbar sehr sportlich und studiert noch Sport. Er will wie Sophia Lehrer werden, d.h. Sophia will natürlich Lehrerin werden. Männer werden Lehrer, Frauen Lehrerin. So ist das bei den Menschen. Was katze nicht alles hört, wenn katze durch das Revier streicht oder sich in seinem Kommunikatzionszentrum ausruht. Ja, ich kann mit Verlaub sagen, dass ich die meisten Eckdaten der Menschen meines Reviers kenne.

Sophias Mutter mag Johann. Als ich unter dem Küchenfenster saß, habe ich gehört, wie sie das zu Sophia sagte. Ob ihr Vater ihn auch mag, weiß ich nicht so richtig. „Der Wurm muss dem Fisch schmecken und nicht umgekehrt“, sagte der nämlich, als seine Frau fragte: „Na, wie gefällt dir denn dein Schwiegersohn in spe?“ Ich kann die Antwort schlecht deuten. Die Menschen reden manchmal einfach in Rätseln; kryptisch, nennt man das auf Mensch.

Sophia war wegen der Türkeireise ein wenig traurig, wie sie mir versicherte. Sie machte sich Sorgen um meine Verpflegung. Kein anderer machte sich solche Gedanken. Alle dachten sicher, ich sei versorgt, weil ja die Familie, für die ich Laila bin, zu Hause war. Die verreisen immer erst im Herbst. Da müssen sie nämlich nicht die Pflanzen in ihrem schönen Garten gießen. Außerdem sei es dann in den Ferienorten ruhiger, hörte ich die alte Frau zu ihren Nachbarn sagen.

Was ich als besonders kränkend empfand, war ein Gespräch zwischen der Familie von Sophia und der Familie, die mich Katze nennt, besser gesagt, zwischen den Frauen der Familien. Sophias Mutter und die Frau wünschten sich gegenseitig einen schönen Urlaub und gute Erholung und meinten zum Schluss doch tatsächlich, es sei gut, dass ich jetzt mal weniger zu essen bekäme. Ich sei in der letzten Zeit richtig dick und fett geworden. Wie kann man so was nur sagen, wenn die Betroffene gerade vorbeistolziert. Einfach herzlos und – ich benutze das Wort nur selten und schon gar nicht für eine meiner Familien, hier war es jedoch das einzig richtige Wort?– a s o z i a l. Im Übrigen ist das Unsinn. Ich bin nicht dick und fett, sondern einfach nur eine stattliche Katze.

Nicht so Sophia. Sie hatte ausreichend Aluschälchen bei einer Nachbarin deponiert und diese instruiert, mir jeden Abend ein Schälchen in mein Speisezimmer – klar, dass das die Terrasse meiner Lieblingsfamilie ist? – zu stellen. Letzteres war insofern wichtig, als ich auf der Terrasse der Nachbarin nicht in Ruhe essen kann. Diese hat nämlich einen Hund, der es auf mich abgesehen hat. Daran bin ich nicht ganz unschuldig, wie ich bereits dargelegt habe. Ich muss jedoch gestehen, dass es mir immer wieder ein großes Vergnügen bereitet, diesen Hund bis aufs Blut zu reizen. Natürlich die anderen Hunde in der Nachbarschaft ebenfalls. Dieser hat es mir aber vor allen anderen angetan, weil er besonders laut und wütend bellen kann. Außerdem ist er leichter erregbar als jeder andere Hund im Revier. Katze kann auch sagen, dass der Hund immens schnell ausrastet. Und dann die Reaktion der Nachbarn! Einfach katzlich. Er bekommt immer sein Fett ab.

Die besagte Nachbarin passte in der Abwesenheit von Sophias Eltern auch auf das Haus auf. Sie goss die Blumen, kümmerte sich um die Post und lüftete ab und zu die Wohnung. Es war also für sie kaum ein Mehraufwand, wenn sie mir mein Futter in mein Esszimmer stellte. Diese Nachbarin machte das in diesem Urlaub auch nur, weil Sophias Tante, die ansonsten immer das Haus hütet, selbst im Urlaub war. Sie wohnt im Übrigen mit ihrer Familie neben der Nachbarin mit dem besagten Hund. Sie hat auch einen Hund, aber der gerät nicht so schnell außer Kontrolle, was mir gar nicht so gefällt. Katze muss schon sämtliche Register ziehen, um ihn aus der Reserve zu locken.

So war die Urlaubszeit nicht ganz so karg, aber das Streicheln fehlte einfach. Die Aushilfe dachte nicht im Traum daran, mich ab und an zu streicheln. Sie hatte nur ihren Hund im Kopf. Den kraulte sie oft hinter den Ohren, wenn sie in ihrem Liegestuhl lag und sich sonnte, mich nie. Ich war aber in der Regel auch gar nicht auf der Terrasse, wenn sie das Futter brachte, so dass sie mich nicht wirklich streicheln konnte, wenn ich ehrlich bin. Sie kam offensichtlich dann, wenn es ihr gerade einfiel, mal früh, mal spät, mal morgens, mal mittags, mal abends. Da steckte kein Zeitplan hinter, keine Struktur. Schrecklich. Ich musste stets aufpassen und mich in der Nähe meines Speisezimmers aufhalten, denn leicht hätte eine andere Katze, die zufällig mein Revier kreuzte, den gedeckten Tisch als Einladung auffassen können. Das Ende der Geschichte hätte durchaus ein Revierkampf sein können, worauf ich absolut keine Lust hatte.

Allerdings hatte ich das Gefühl, dass die beiden alten Leutchen mir bewusst mehr Essensreste zuschusterten als sonst. Einmal hatte der alte Mann sogar versucht, mich zu streicheln. Er hatte sich mühsam zu mir runtergebeugt und mir plötzlich in Augenhöhe in meine Augen geschaut. Ich war total perplex, als er mir unerwartet so nah kam, dass mir vor Schreck die Krallen kamen. Das geschah ganz unbeabsichtigt. Er hatte aber auch einen derart starren Blick, ein wenig zum Fürchten. Meine, ich betone nochmals, unbeabsichtigte Reaktion war peinlich und total dumm und überflüssig gewesen. Der alte Mann war augenblicklich zurückgezuckt. Das war dann auch leider schon das Ende einer aufkeimenden, näheren Beziehung. Ich bedaure meine Reaktion heute immer noch.

„Pass auf, sie ist etwas eigen“, hatte seine Frau noch gerufen, obschon ihr Mann sich schon vor mir in Sicherheit gebracht hatte, was natürlich nicht notwendig war. Wer beißt schon seinem Wirt in die Hand oder tut ihm Ähnliches an? Seine Antwort „Blödes Katzenvieh“ war allerdings gewöhnungsbedürftig. So ging es weiß Großkatze gar nicht. So bösartig redend hatte ich ihn bisher nicht erlebt. Ich hatte aber meistens auch nichts mit ihm zu tun, weil meine Versorgung in den Aufgabenbereich der Frau fiel. Menschen sprechen in diesem Zusammenhang von tradierten Rollen.

Nichtsdestotrotz erhielt ich weiterhin meine Mahlzeit und, wie bereits angedeutet, auch etwas mehr als außerhalb der Urlaubszeit meiner anderen Versorger. Es fehlte jedoch etwas und ich war nicht vollen Katzenherzens glücklich. Ich sehnte mich nach Sophia und ihrem Freund und auch ein wenig nach dem Mann, der mich einfach nur Katze nennt, weil mir deren Streicheleinheiten fehlten.

Großkatze sei Dank ist es meistens so, dass etwas, was ich mir so richtig von ganzem Katzenherzen her wünsche, auch in Erfüllung geht. Es dauert manchmal nur seine Zeit. Außerdem hatte Sophia mir bei der Verabschiedung zugeflüstert, sie sei bald wieder da und würde sich auf mich freuen. Auf Sophia war stets Verlass.

Sophia kehrt heim

Etwa zwei Wochen nach Sophias liebevoller Verabschiedung hörte ich am späten Nachmittag einen mir sehr bekannten Schritt. Es war zwar nicht das vertraute Klappern von Absätzen zu hören, aber der Rhythmus war mir sehr wohl bekannt und führte dazu, dass mein Herz einen Purzelbaum schlug, wie die Menschen so bei dem Gefühl sagen, das mich überkam.

 

Ich raste mit fliegenden Pfoten von der Terrasse, meinem Esszimmer, in dem ich mich gerade zu einem Imbiss aufhielt, zur Haustür des Hauses, in dem Sophia mit ihren Eltern wohnt. Zu meiner größten Katzenfreude entdeckte ich tatsächlich Sophia, die im gleichen Moment auch „Minou, da bist du ja!“ frohlockte. An dem Ausruf konnte ich klar erkennen, dass sie mich ebenfalls sehr vermisst hatte. Sie hockte sich augenblicklich nieder und streichelte mich so, wie ich es liebte. Zuvor stellte sie einen riesigen Rucksack, den sie auf dem Rücken getragen hatte, vor der Haustür ab, wobei sie stöhnte: „Puh, ist das Ding schwer.“

Glücklich legte ich mich auf den Rücken, reckte meine wunderschön gestreiften Pfoten in die Luft und ließ mich richtig durchkraulen. Dann drehte ich mich auf meine rechte Hälfte, weil die linke zu kurz gekommen war, und schließlich wieder auf die linke Seite. Katzenhaft! Ich hätte so bis an mein Katzenende liegen und genießen können.

Aus der rechten Seitenlage heraus hatte ich sofort festgestellt, warum ich kein Klappern gehört hatte. Sophia trug neue Sportschuhe. Sicherlich hatte sie die in der Türkei erstanden. Ich habe einmal auf einem meiner Spaziergänge gehört, dass man dort alles preiswerter kaufen kann. Die Türken sind nämlich in der Lage, alles viel billiger zu produzieren als die Deutschen oder Italiener oder Franzosen. Selbst, so hörte ich damals unter dem Fenster einer türkischen Familie, Taschen von einem bekannten französischen Designer, dessen Namen ich vergessen habe, machen Türken genauso gut, aber billiger. Und den Unterschied soll katze nicht sehen. Nur Chinesen wären noch besser, hieß es. Ich kann mir darüber jedoch kein Urteil erlauben. Für mich sieht alles gleich gut oder schlecht aus. Ich bin in solchen Sachen, wie die Menschen zu sagen pflegen, völlig unbeleckt.

Sicher war Sophia unter anderem in die Türkei gereist, um sich einmal solche tollen Sachen zu kaufen. Als Studentin hat sie nämlich nicht viel Geld, weil sie ja nur lernt und nicht arbeitet. Die Sportschuhe rochen allerdings nicht besonders gut, wenn man sich ihnen näherte. Mir war das ganz egal. Ich war einfach nur glücklich und überließ mich Sophias Streicheln.

Mit einem kurzen weiteren Seitenblick stellte ich schließlich fest, dass auch Johann da war. Vor lauter Freude hatte ich mich nur auf Sophia konzentriert und nichts anderes auf der Welt wahrgenommen. Johann, der lächelnd auf Sophia und mich schaute, stellte gerade seinen Rucksack ab, als ich auf ihn aufmerksam wurde. Siehe da, er hatte die gleichen Sportschuhe wie Sophia. Partnerlook nennen das die Menschen. Vor allem ältere Männer und Frauen lieben Partnerlook. Sie tragen weniger die gleichen Schuhe als die gleichen Anoraks. Für uns Katzen käme so etwas nie in Frage, glaube ich. Aber wir tragen ja auch keine Anoraks. Wir haben unser Fell und das ist jeweils ein Unikat.

Johann platzierte den Rucksack ohne Rücksicht auf etwaige Fußgänger mitten auf dem Trottoir, beugte sich über mich und schmeichelte: „Bist du eine süße Katze. Viel besser genährt als die Katzen in der Türkei.“ Er sagte „besser genährt“. Das empfand ich nicht so anrüchig, wie die Aussagen meiner diversen Futterstellenausstatter. Von „dick und fett“ war da die Rede gewesen. Ich bin ja nicht nachtragend, aber vergessen kann ich diese Unverschämtheit so schnell nicht. Da bin ich ähnlich wie Sophias Mutter. Die mag es auch nicht, wenn über ihre Figur geredet wird. Ihr Mann hat einmal gesagt: „Komm, iss noch ein kleines Pralinchen. Ich mag jedes Pfund an dir.“ Da hat sie doch glatt mit einem Schuh nach ihm geworfen. Ich konnte das sehr gut verstehen.

Sophias Mutter verniedlicht im Übrigen alle süßen Sachen. Sie sagt nie: „Ich esse ein Stück Schokolade.“ Bei ihr heißt es: „Ich esse ein Stückelchen Schokolädchen.“ Sie isst auch keine Pralinen, wie ihr Mann erkannt hat, sondern Pralinchen, genauso wie sie kein Stück Kuchen, sondern ein Stückelchen Kuchen isst. Aber ich schweife ab.

Sophia antwortete ihm mit trauriger Stimme, während sie mich weiterhin streichelte. „Ich muss immer an die armen Katzen denken, die in der Hotelanlage umherliefen. Die waren so mager! Erinnerst du dich noch an die kleine Katze, die links nur ein halbes Ohr hatte? Das arme kleine Kätzchen!“

„Ja, aber wir konnten wirklich nicht alle Katzen mit nach Deutschland nehmen. Erstens hätten wir sie gar nicht ohne Impfungen durch den Zoll bekommen und zweitens hätten wir uns in Deutschland nicht um sie kümmern können. Hier wären sie dann auch wieder herrenlos gewesen und kaum einer hätte sich um sie gekümmert.“ Johann war pragmatisch. „Na ja, und in deinem Rucksack konnten wir sie ja nicht unterbringen, weil der Herr den voller antiker Scherben hatte, so dass sein Gepäck in letzter Sekunde in meinem Rucksack verstaut werden musste, weil er sonst für das Übergepäck hätte zahlen müssen“, schimpfte Sophia mit einem Lachen auf den Lippen.

Ich schaute Johann voller Dankbarkeit an. Mit zusätzlichen Katzen aus der Türkei wollte ich mein Revier und meine Futterquellen nicht teilen, zumal sie sicher die volle Sympathie meiner Familien, insbesondere die von Sophia, gehabt hätten, weil sie so mager waren und geradezu abgerissen aussahen, wie ich der Schilderung der beiden entnommen hatte. Menschen haben mit solchen Tieren stets Mitleid. Man selbst gerät dann einfach in Vergessenheit.

„Ich denke mit Schrecken an die Umpackaktion am Istanbuler Flughafen, vor allen an den Typen, der sich vorher an deinem Rucksack zu schaffen machte. Gott sei Dank hatten wir alle Wertsachen am Körper“, fuhr Sophia ein wenig streitbar, aber trotzdem lachend, fort.

„Das war wirklich stressig“, gab Johann bereitwillig zu. „Endlich sind wir wieder da.“ Er wollte sichtlich das Thema beenden. Ich schmunzelte in mich hinein. Er kannte Sophia noch nicht so lange. Sie würde bestimmen, wann Ende mit dem Thema war.

„Du hattest im Übrigen großes Glück, dass du am Zoll nicht erwischt worden bist. Du wärst für eine lange Zeit in einem türkischen Knast verschwunden. Und das mit Recht. Stell Dir vor, jeder würde so viele Andenken aus Ephesos mit nach Hause nehmen. Dann hätten die Türken bald keine Ruinen mehr“, fuhr Sophia, die sich geradezu in Rage redete, fort.

Ich hatte es gewusst. Sie war noch nicht fertig mit der Thematik.

Johann stand da, den Kopf wie ein reuiger Sünder nach unten geneigt. Aus meiner Lage erkannt ich jedoch deutlich, dass er frech grinste. Offenbar nahm er Sophia nicht so ernst, wie es sich nach meiner Sicht der Dinge gehörte. Sophia ist meiner Meinung nach nämlich eine sehr kluge Frau, die weiß, was sie redet. Johanns augenblickliches Verhalten gefiel mir nicht besonders gut, nein, es missfiel mir. Sophia nahm jedoch keinen Anstoß an seinem Verhalten, sicher nicht zuletzt, weil sie sein Grinsen nicht sehen konnte. Wir hatten ja unterschiedliche Perspektiven.

Johann wird beraubt und Minou erhält ein Geschenk

Während die beiden sich noch rumzankten, d.h. Sophia eine Tirade auf Johann losließ, in der sie das türkische Gefängnisleben in allen Facetten beschrieb, hatte ich mit einem Mal das Gefühl, mein Katzenherz würde stehen bleiben. Gleichzeitig klopfte es so laut, dass ich es in den Ohren spürte. Der Grund hierfür war nicht, dass ich an die armen Katzen in der Türkei dachte und mir deren Schicksal nun doch zu schaffen gemacht hätte. Nein, das war es nicht. In meinem Revier trieb sich auch eine Katze rum, die nur eineinhalb Ohren hatte. Sie war mir vor kurzem zu nahe gekommen und ich hatte einmal kurz Klartext geredet bzw. ihr gezeigt, wer die Katze ist, die hier das Sagen hat. Unter uns Straßenkatzen gilt mehr oder weniger das Gesetz des Stärkeren. Natürlich taten mir die Katzen in der Türkei irgendwie leid, aber das war es nicht, was mir Herzklopfen verursachte. Ich hatte das beklemmende Gefühl auch nicht, weil ich mir Johann in einem türkischen Gefängnis vorstellte. Ich sah vielmehr zwei Männer auf Rädern auf uns zukommen. Die beiden ließen uns drei nicht aus den Augen. Das sah nicht gut aus. Ich spürte es bis in meine Krallenspitzen: Die Männer waren gefährlich. Sie näherten sich uns nicht nur, sie hatten es auf uns oder irgendetwas in unserer Nähe abgesehen.

Abrupt drehte ich mich um, stellte mich auf meine vier Pfoten und schaute auf Johanns Rucksack, der immer noch mitten auf dem Bürgersteig stand. Ihm drohte offensichtlich Gefahr, nicht uns, wie ich zunächst angenommen hatte. Wie hypnotisiert starrten die Männer auf ihn. Automatisch stellten sich meine Rückenhaare auf. Klarer Fall. Ich erkannte mit einem Blick, dass sich die Situation zuspitzte, während Sophia und Johann sich noch den Knast in all seiner Grausamkeit ausmalten, allen voran Sophia. Manchmal hat sie etwas Katzenhaftes an sich.

In dem Moment, in dem ich fauchte und meinen Rücken zu einem Bogen wölbte, sprungbereit, um alles in meiner Nähe zu verteidigen, schauten die beiden Urlauber endlich auf das Trottoir. Doch es war zu spät. Einer der beiden Männer hatte schon den Rucksack gepackt, auf die Lenkstange gezogen und floh jetzt, heftig in die Pedale tretend, die Straße runter.

„Streichelt das Katzenvieh mal schön weiter“, brüllte der andere noch. Dabei bog er sich auf dem Rad vor Lachen. Frechheit hoch drei! Frechheit eins: der dreiste Diebstahl. Frechheit zwei: meine Titulierung mit Katzenvieh. Frechheit drei: Er zeigte den Stinkefinger, und das geht schon gar nicht.

Sophia und Johann standen wie versteinert und sprachlos da. Sogar Sophia brachte kein Wort hervor. Nach circa fünf gefühlten Schrecksekunden spurtete Johann endlich los und verfolgte die Diebe. Und ich, ich tat es ihm gleich. Aber schon nach kurzer Zeit musste Johann die Verfolgung aufgeben. Wir waren den Dieben erst die Straße, auf der Sophia wohnte, runter hinterhergelaufen und hatten sie durch den Park am Ende der Straße weiterverfolgt, als Johann die Luft ausging. So viel zum Thema: Sportstudium. Vielleicht hatte er zu viel Mathematik studiert. Auf jeden Fall war Fitness etwas anderes als das, was er gerade zum Besten gab.

Ich selbst verfolgte die Rucksackdiebe noch durch die Fußgängerzone bis zu riesigen Wohnblöcken am anderen Ende der Stadt. Das war nicht so schwierig, denn die Diebe hatten ihr Tempo deutlich verringert, nachdem sie festgestellt hatten, dass kein Mensch sie mehr verfolgte. Mit mir als Verfolger hatten sie wohl nicht gerechnet und mich folglich auch nicht registriert. Sie sollten später noch sehen und spüren, dass man mit mir immer zu rechnen hat. Das war mir zu diesem Zeitpunkt jedoch selbst nicht klar. Dabei ist Bescheidenheit nicht meine größte Tugend.

Vor den riesigen Wohnblöcken verlor ich sie aus meinen Katzenaugen. Trotz umsichtiger Suche fand ich keine Spur mehr von den Dieben, ihren Fahrrädern und dem Rucksack, so dass ich schweren Katzenherzens die Verfolgung aufgab. Außerdem gab es sicher viel Schlimmeres als einen gestohlenen Rucksack.

Mit viel Mühe fand ich den Weg zurück in mein Revier. Ich brauchte eine längere Zeit, bis ich meine mir vertrauten Gärten und Straßen wiederfand. Noch nie in meinem bisherigen Katzenleben hatte ich mich so weit von meinem Zuhause, meinem Quartier, entfernt. Ich war überglücklich, als ich das erste mir bekannte Hundegebell vernahm: Der Hund der Nachbarin, die mich während Sophias Urlaub vom täglichen Zeitablauf her so unregelmäßig gefüttert hatte, hatte mich wohl schon von weitem gerochen. Ich stellte mir sogleich die Frage, ob ich ihn noch ein wenig anspornen sollte, indem ich das geschlossene Eingangstor, das die Einfahrt seiner Eigentümer von der Straße abtrennte, hoheitlich abschritt. Hunde reagieren nämlich total auf solche Anreize. Gnädig entschied ich mich dann aber dagegen. Ich wollte lieber zu Sophia und Johann, um zu sehen, wie es ihnen nach diesem unverschämten Überfall ging.

Vor der Haustür stand niemand mehr. Schade. Sie hätten ja wohl auf meine Rückkehr warten können. Ich war irgendwie enttäuscht, fast beleidigt, obschon mir bewusst war, dass ich eine längere Zeit unterwegs gewesen war. Vielleicht bin ich manchmal wirklich ein wenig eigen, wie die Laila-Frau letztens zu ihrem Mann sagte. Sollte ich einmal Zeit haben, würde ich eventuell darüber nachdenken, reflektieren, wie die Menschen zu sagen pflegen.

Ich lief um das Haus herum in Richtung Terrasse und vernahm auch schon die Stimme Sophias. Meine Enttäuschung war augenblicklich wie weggeblasen. Sophia und Johann waren in meinem Esszimmer. Hätte ich mir denken können und nicht direkt beleidigte Leberwurst mimen müssen. Großkatze sei Dank hatte dies niemand mitbekommen.

 

Sophias Familie packt nach dem Sommerurlaub die Koffer stets auf der Terrasse aus. Entsprechend natürlich auch Sophia. „So bleibt die Wohnung aufgeräumt“, hörte ich Sophias Mutter in Gedanken sagen. Natürlich nur in meinen Gedanken. Die Eltern waren ja noch unterwegs.

„Die werden sich schwarz ärgern, wenn sie nur Steine in deinem Rucksack finden“, lachte Sophia gerade aus vollem Herzen. Ich liebe dieses Lachen.

„Lach nicht, der Rucksack war ganz schön teuer und die Steine hatten sicher auch ihren Wert“, jammerte Johann. Ob es gespieltes oder echtes Jammern war, konnte ich nicht heraushören. Ganz gleichgültig war ihm die Sache aber bestimmt nicht. Sonst hätte er die Diebe sicherlich nicht verfolgt.

„So teuer war der Rucksack ja auch wieder nicht. Den hattest du doch für nur 15 Euro im Internet ersteigert“, tröstete Sophia Johann. „Und die Steine sind eh nur Staubfänger. Ich wollte die auf keinen Fall bei mir rumstehen haben.“

„Du nicht, aber ich. Du bist leider ja auch nicht an Geschichte interessiert.“

„Bin ich wohl, aber nicht an geklauten Scherben.“

Mittlerweile hatte ich mein Esszimmer erreicht.

„Da bist du ja, Minou“, strahlte mich Sophia an, als ich auf die Terrasse sprang. Und zu Johann gewandt: „Wir sollten die Polizei anrufen und den Diebstahl melden, auch wenn es sich nicht um großartige Werte handelt. Dass ich jetzt erst daran denke, wo bereits so viel Zeit verstrichen ist, ist ärgerlich.“

„Sonst ist aber alles ok?“ Johann war leicht verstimmt.

Sophia schaute ihn fragend an. „Häh? Wer beklagt denn die ganze Zeit den riesigen Verlust? Du oder ich?“, stellte Sophia leicht gereizt klar.

„Was soll ich denn sagen, was sich in meinem Rucksack befand? Gestohlene Steine? Und glaubst du vielleicht, die Polizei hätte nichts anderes zu tun, als sich direkt hinter Rucksackdiebe zu klemmen?“

„Meinst du, dass es unsere Polizei interessiert, ob es sich um gestohlene Steine handelt? Meinst du, die würde dich hier in Deutschland dafür bestrafen?“ Meine Sophia war zunehmend nachdenklich geworden. Ich hörte es deutlich an ihrer Stimme. „Ich schaue gleich mal im Internet, ob ich was dazu finde.“

Mit diesen Worten zog sie am Reißverschluss einer Außentasche ihres Rucksackes. Großkatze sei Dank hatte sie den nicht wie Johann mitten auf dem Bürgersteig abgestellt, sondern neben sich an der Haustür, so dass er nicht leichte Beute für Diebe hatte werden können. Und überhaupt, Sophia ist ja so viel klüger als ihr Johann. Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Wie kann katze nur einen Rucksack unbeobachtet auf das Trottoir stellen, selbst wenn die Haustür nur fünf Meter entfernt ist? Es weiß doch schließlich jeder, dass die Welt immer schlechter wird. Das sagt auf alle Fälle der Nachbar von gegenüber, und zwar der, der neben der Familie wohnt, die mich Laila nennt. Er hat eine Frau, die ebenfalls dieser Meinung ist. Die beiden sagen das bei jeder Gelegenheit und nicken unterstützend mit ihren weiß gelockten Köpfen. Vor allem dann, wenn die Schulkinder – am Ende der Straße ist eine riesige Schule – ihre leeren Zigarettenschachteln oder die Zigarettenkippen, zerquetschte Coladosen und zusammengeknüllte Chipstüten sowie Schokoladenpapier in ihren Vorgarten schmeißen. Manchmal werfen sie auch die Schulbrote, die sie nicht gegessen haben, einfach auf die Straße oder in besagten Vorgarten. Wenn es sich um Käse- oder Wurstbrote handelt, nehme ich mich mitunter gerne des Belags an. Bei Schokoladenaufstrich oder, noch schlimmer, Gurken und Tomaten eher nicht. Ja, es gibt tatsächlich Mütter, die die Brote ihrer Kinder mit irgendwelchem Grünzeug anreichern. Das sind in der Regel die besonders bemühten Mütter, die etwas für die Gesundheit ihrer Kinder tun wollen. Allerdings findet katze solche Brote, Großkatze sei Dank, relativ selten auf der Straße oder in den Vorgärten. Diese Mütter holen ihre Kinder nämlich in der Regel mit ihrem Auto von der Schule ab, so dass sie wenig Gelegenheit haben, sich auf dem Nachhauseweg ihrer nicht gegessenen Brote zu entledigen. Schokolade ist im Übrigen Gift für Katzen. Aber ich schweife wieder ab.

Und was zog Sophia aus der besagten Seitentasche? Ein Halsband, ein grellrotes Halsband. Igitt, igitt!! So etwas Hässliches hatte ich lange nicht gesehen.

„Schau dir dieses schöne Halsband einmal an, das habe ich dir aus der Türkei mitgebracht, kleine Minou.“

Kleine Minou! Dass ich nicht miaue! Ich bin eine große, kräftige, aber auf keinen Fall dicke und fette Katze. Stattlich bin ich, um es auf einen Nenner zu bringen. Und so ein hässliches rotes Band für mich. Was sollte das nur? Und wie um alles in der Welt konnte katze so etwas Geschmackloses als schön bezeichnen?

„In das Halsband ist ein Sensor eingelassen, so dass ich dich immer überall finden kann. Ganz egal, wo du auch bist.“ Stolz hielt sie das Band in die Höhe und hielt es dann vor ihren Hals.

„Oh Söphchen, dich kleidet das Band auch sehr gut. Hätte ich das gewusst, hätte ich auch eins für dich erstanden. Bei zwei Bändern hätte man richtig gut den Preis runterhandeln können. Ach, was sage ich? Mir wäre jeder Preis recht gewesen. Hauptsache, ich weiß jederzeit, wo du dich aufhältst“, alberte Johann rum. Dabei verdrehte er die Augen. Sein Blick sagte alles. In diesem Fall bewies er eindeutig mehr Geschmack als seine Freundin.

Toll, einfach toll, das hätten sie mal besser in Johanns Rucksack gelegt. Kleiner Katzenscherz am Rande.

Nur zögernd näherte ich mich Sophia. Ein solches Geschenk hätte es wirklich nicht gebraucht. So etwas tangiert meine Katzenfreiheit. Was heißt: tangiert? Schränkt meine Freiheit voll ein. Nichts mehr mit Liberté, Captivité war anscheinend angesagt. Sollte das etwa der Niedergang zur Hauskatze bedeuten? Mir wurde ganz schummerig. Offensichtlich war die Digitalisierung nicht mehr aufzuhalten und machte auch vor Katzen nicht Halt.

„Nun komm schon, Minou. Das Band wird dir ganz toll stehen.“ So versuchte Sophia, mich zu einer schnelleren Gangart zu motivieren. Ich war hin- und hergerissen. Ich wollte Sophia auf keinen Fall beleidigen, aber es gibt schließlich auch bei Katzen so etwas wie Stolz. Oder erst recht bei Katzen, wenn ich richtig nachdenke.

„Nun komm schon, Minou, lass dich ein wenig aufhübschen. Es wird dir sehr gut stehen, es passt so herrlich zu deinen Augen“, gab Johann einen mehr als verzichtbaren Kommentar von sich. Er war auf dem Wege, es sich mit mir total zu verscherzen.

Seit wann hatte ich rote Augen? Johann war wohl nicht nur sehr schnell außer Puste, sondern auch noch farbenblind. Arme Sophia. Sie hatte etwas Besseres verdient. Auf keinen Fall einen solchen untrainierten Spinner.

Und von wegen: sehr gut stehen. Das einzige, was nun stand, waren meine Rückenhaare. Dennoch näherte ich mich Sophia, wenn auch nur widerwillig. Und schon hatte sie das grellrote Band um meinen Hals geschlungen. Ich zwang mich zur äußersten Ruhe. Sophia war gerade erst heimgekommen und ich wollte sie nicht enttäuschen.

Disziplin, Disziplin oder Contenance, wie katze so sagt. Das war nun angesagt. Mir würde es schon gelingen, das Band bei der nächstbesten Gelegenheit abzustreifen. Ich konnte mich ja nicht zur Lachnummer im Revier machen lassen. Und dann noch mit Sensor. Das ging gar nicht.

Ich war mir sicher, dass ich das schaffen würde, zumal ich mich auch von den drei Flohbändern, die mir das alte Ehepaar, das mich Laila nennt, aufgebürdet hatte, erfolgreich befreit hatte. Nicht zu vergessen das gelbe Band, das, wie die Familie, die mich Katze nennt, fand, so gut zu meinen Augen passt und mit einem kleinen Herztäschchen mit 50 Cent und der Telefonnummer der Familie versehen war.