Vernehmungen

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3.4Inhalte

Folgerichtig müssen Inhalte dokumentiert werden.

Beispiel:

284Die Frage „Was haben Sie gesehen/gehört/wahrgenommen?“ muss dominieren und insbesondere dem „Warum“ vorgeschaltet sein. Ebenso vorrangig sind Definitionsfragewörter: Wo, Wann, Wie.

285Offenbart der Vernommene Schlussfolgerungen, die er selbst getroffen hat, muss dokumentiert werden, auf welcher Grundlage er das getan hat. So reduziert sich der Inhalt auf das tatsächlich Wahrgenommene.

3.5Wahrgenommenes, Information und Schlussfolgerung(en)

286Die Vermengung von Wahrgenommenem, Information und Schlussfolgerung ist ein Phänomen, das in jedem Gespräch und nahezu jeder Vernehmung vorkommt.

287Besonders im Bereich der Straßenverkehrsdelikte erlebt man immer wieder die Vermischung von Tatsachenwahrnehmungen, Interpretationen und Erfahrungen. Ein Zeuge oder auch ein Beschuldigter vermengt regelmäßig seine Wahrnehmungen mit eigenen Lebenserfahrungen. Er nimmt für sich schon bei der Wahrnehmung, beim Speichern der Informationen, bei der Verarbeitung und erst recht bei der Wiedergabe in einer Vernehmungssituation2 eine Wertung vor, die im Verfahren oder einfach auch nur bei dem Versuch der Wahrheitsfindung eine bemerkenswerte „Vernebelung“ zur Folge hat.

288Der bei der Schutzpolizei immer wieder belächelte „Knallzeuge“ ist erst auf das Geschehen aufmerksam geworden, nachdem er den bezeichnenden „Knall“ gehört hat. Nachdem. Seine Schilderungen zum Unfallhergang (Geschehnisse vor dem „Knall“ also) dürften regelmäßig eher auf seine eigenen Schlussfolgerungen zurückzuführen sein und weniger auf selbst wahrgenommene Umstände. Diese Wahrnehmungssituation macht ein anderes Beispiel noch deutlicher.

Beispiel:

289Ein Zeuge soll zum Ablauf eines Verkehrsunfalls befragt werden. Die Frage nach dem Unfallhergang beantwortet er mit den Worten: „Der war viel zu schnell!“

290So kann die Aussage eines Zeugen lauten, auf Grund derer glücklicherweise niemand verurteilt werden wird. Sie dürfte aber eine der meist getätigten Aussagen sein, die in Straf- oder auch Bußgeldverfahren vorkommen.

3.5.1Analyse der Aussage

291Die Aussage bedarf einer Analyse ihrer Bestandteile „schnell“ – „zu schnell“ – „viel zu schnell“:

292Das Wort „schnell“ allein verdient schon seine eigene Betrachtung. Was ist „schnell“? Der Zeuge muss gefragt werden, was er denn darunter versteht, und seine Wertung fällt sofort noch tiefer in eine Wertungsposition. „Schnell“ beinhaltet schon eine Wertung, mit diesem Begriff kann kein Ermittler etwas anfangen. Was meint also der Zeuge? – So wie ein Radfahrer? – Nein, schneller. Das wären so etwa mehr als 10 km/h, je nach Vorstellung von der Geschwindigkeit eines Radfahrers (die bereits bis max. 60 km/h reichen dürfte). Langsamer als ein Auto auf einer Umgehungsstraße? – Also etwa zwischen 60 und 100 km/h.

293Die in der Bekundung „zu schnell“ enthaltene Wertung muss man wohl nicht erläutern, sondern man muss sich fragen, an welchen Werten der Zeuge sich orientiert. Schneller als erlaubt, schneller als die Technik seines Fahrzeugs es zulässt, schneller als die Situation es zulassen würde? Offen bleibt, wo das Vergleichsniveau ist, an dem der Zeuge sich orientiert oder zu orientieren können glaubt.

294„Viel zu schnell“. Was ist denn „viel“? Solche Aussagen müssen einen polizeilichen Vernehmungsbeamten und später einen Richter verärgern, werden sie nicht kritisch hinterfragt. Ebenso wenig ist definiert, was „wenig“ ist. Derartige Mengenangaben nehmen im allgemeinen Sprachgebrauch breiten Raum ein, sind aber wenig aussagekräftig – genauer gesagt: nichtssagend.

295Interessant ist auch die Antwort im Hinblick auf die Frage der Täterschaft einer bestimmten Person und damit dem Kernbereich der Tatsachenaufklärung: „Der!“ Wer ist das denn? Wahrscheinlich dürfte der Fahrer gemeint sein, konkret sogar nur das Auto; wer hat es gefahren, wer hat am Steuer gesessen? Ein Mann oder eine Frau? Hat der Zeuge den Fahrer erkannt? Regelmäßig hat er nur das Auto gesehen, das seiner Meinung nach „viel zu schnell“ war.

296Im Ergebnis beinhaltet die Bekundung eigentlich gar nichts: Der Fahrer ist unbekannt, und die gefahrene Geschwindigkeit kann so nicht ermittelt werden. Vielleicht ist es als Ergebnis zulässig, zu behaupten, dass es dieses Auto war, zumindest aber ein gleich aussehendes mit vielleicht diesem abgelesenen Kennzeichen. Eine scheinbar „sichere“ Aussage entpuppt sich als Flop.


Praxistipp:
297 Es macht keinen Sinn, weiter nachzufragen, was wirklich viel zu schnell ist; „viel zu schnell eben“. Es wird deutlich, dass der Vernehmende offenkundige Wertungen auf das tatsächlich Wahrgenommene reduzieren muss: „Was haben Sie gesehen?“ Die ernüchternde Antwort lautet: Ein fahrendes Auto – in diesem Beispiel –, mehr nicht.

3.5.2Abfrage von Vergleichswerten

298In solchen Fällen kann nur das Abfragen von Vergleichswerten helfen. „Schneller als ich laufen könnte, schneller als ein Radfahrer“.

299Entfernungsschätzungen sind in ihrer Fehleranfälligkeit geradezu beispielhaft: „Drei bis vier Meter“. Diese Angabe ließ sich bereits mehrfach relativieren auf das zehnfache, wenn nicht mehr. Ein normaler PKW ist etwa 4,50 m lang. Die ergänzende Frage danach, wie viele Autolängen das denn wohl waren, stützt sich zunächst auf die – meist nicht ausgesprochene – Annahme, dass ein Auto etwa zwei Meter lang ist. In der Vorstellung des Zeugen haben zudem hinterein ander abgestellte Autos nicht den nötigen Abstand, um ausparken zu können.

Beispiel:

300Die Aussage „fünf Autolängen“ beinhaltet


in der Vorstellung des Zeugen: 5 × 2 m = 10 m
– tatsächlich: 5 × 4,50 m + 4 × 2 m = 22,50 m + 8 m = 30,50 m

301Die Berechnung könnte allerdings auch umgekehrt proportional zutreffen. Wer nicht hinterfragt, welche Vorstellung ein Vernommener von Entfernungen hat, kommt keinen Schritt weiter. Seine Vorstellungen sollten sich dann natürlich auch an konkreten, messbaren Vergleichswerten orientieren.

302In der Hauptverhandlung wird oft die Frage gestellt: „Wie weit ist der Richtertisch Ihrer Meinung nach denn vom Zeugenstuhl entfernt?“ Dies ist der Versuch, einen messbaren und objektiven Vergleichswert zu erlangen; allerdings erweist sich dieser Versuch als untauglich, da er nur zu einer weiteren Schätzung durch den Zeugen führt.


Praxistipp:
303 Zutreffenderweise müssen daher Fragen gestellt werden, die objektive Kriterien beinhalten: „Wie weit waren Sie entfernt? Etwa so weit, wie wir hier auseinander sitzen?“ Bejaht der Zeuge diese Frage, ist ein objektivierbarer Wert – die nachmessbare Entfernung – gewonnen.

304Für die vernehmenden Beamten muss sich eine solche Frage direkt stellen. Bei Schätzungen müssen sofort und nach Möglichkeit auch in örtlichen Zusammenhängen stehende Vergleichswerte definiert werden, da nur so – und dies ist die Hauptsache – nachvollziehbare Angaben erlangt werden.

3.6Soziale Wahrnehmung und ihre Realisation durch den Vernehmenden

305Polizeibeamte und Juristen pflegen nur zu leicht die Nase zu rümpfen, wenn es um soziologische und sozialpsychologische Erkenntnisse geht; allerdings dürfen sie die Augen nicht davor verschließen, dass eine Vernehmung ein Kommunikationsprozess ist, bei dem die sozialen Rahmenbedingungen das Ergebnis beeinflussen.3

Beispiel:4

306Eine angezeigte Vergewaltigung wird aus der Sicht der Zeugin (als Opfer) und des Vernehmenden (als objektivem Ermittler) unterschiedlich empfunden. Aber auch die Vorstellungen des Vernehmenden zur Tat, zum Opfer und dessen Persönlichkeit sind ausschlaggebend: Der „aufgeschlossene“ Vernehmende, der eine gewisse Sympathie mit dem Beschuldigten und dessen Lebensgewohnheiten bei wenig Empathie mit dem Opfer hat, begreift das Verfahren als falsche Verdächtigung, Vortäuschen einer Straftat und Verleumdung. Ein eher „biederer“ Vernehmender mit Sympathie für das Opfer und wenig Verständnis für den „losen“ Lebenswandel des Beschuldigten wird hingegen eine Vergewaltigung sehen.

 

307Die soziale Vorstellung des Vernehmenden, die von seinen Erfahrungen, Wertvorstellungen und Zuschreibungen geprägt wird, nimmt entscheidenden Einfluss auf den Vernehmungsverlauf und dessen Ergebnis. „Bauchgefühl“ und „Schweinehundtheorie“ determinieren unbewusst die Wahrnehmung des Vernehmenden. Unwillentlich vorhandene kollektive Bewertungsmuster – sogenannte Frames – spielen eine Rolle. Eine Beeinflussung durch sie wird nicht vollständig auszuschließen sein, jedoch muss sich der Vernehmende der Existenz und Wirkung derartiger Frames bewusst sein.


Praxistipp:
308 Frames beeinflussen ungewollt die Vernehmung; sie basieren nicht auf sachlichen Informationen. Der Vernehmende muss ihre Existenz kennen und seine Ermittlungsergebnisse vor diesem Hintergrund ständig mit den objektiven Befunden abgleichen. Selbstkritik ist hier vonnöten.

3.7Bestätigende Informationsverarbeitung und Ankereffekt im Strafverfahren

309Das Strafverfahren scheint in besonderem Maße von dem Gedanken der Gerechtigkeit geprägt; häufig – etwa wenn es um die Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise geht – wird durch den BGH und das BVerfG das Streben nach der objektiven Wahrheitsfindung fruchtbar gemacht, um eine Beweisverwertung zu rechtfertigen und ein materiell-objektiv richtiges Urteil zu bestätigen. All dies betrifft die Tatsachenfeststellungen, ohne aber zugleich ein „richtiges Urteil“ zu bedingen. Ein erster Schritt dahin besteht in der Wahrnehmung und Akzeptanz – vielleicht auch Berücksichtigung – von Störfaktoren bei der Entscheidungsfindung, die in anderen Wissenschaften anerkannt sind.5

3.7.1Die „richtige“ Entscheidung

310Die gerade genannten Bestrebungen sind allerdings nicht geeignet, die Frage zu beantworten, wann überhaupt eine Entscheidung/ein Urteil „richtig“ ist. Einige denkbare Antworten lauten

–sofern sie/es mit der Wahrheit (welcher?) korreliert,

–alle Verfahrensbeteiligten damit zufrieden (oder gar einverstanden) sind,

–sofern sie/es dem Gesetz entspricht (und in einem gesetzmäßigen Verfahren zustande gekommen ist),

–sie/es richtig begründet ist,

–wenn andere dieselbe Entscheidung/dasselbe Urteil gefällt hätten, bzw.

–sie/es das Ziel gleichmäßigen und der Gleichbehandlung verpflichteten Strafens erreicht.

311Alle Varianten sind mehr als angreifbar und zum Scheitern verurteilt: Tatsachenfeststellungen sind vielen Unwägbarkeiten ausgesetzt, die Soziologen und Psychologen (er)kennen, die aber der Gedankenwelt der Kriminalisten häufig vorenthalten bleiben:6 Begriffe wie „Schulterschlusseffekt“, „bestätigende Informationsverarbeitung“, „Inertiaeffekt“ und „Ankereffekt“ ziehen sich durch das gesamte Strafverfahren und prägen die Entscheidungsfindung. Schünemann hat – was als Arbeitshypothese durchaus tauglich erscheint – die Frage aufgeworfen: „Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter?“7

312Auch Sommer widmet sich der Emotionalität der Entscheidungsfindung und zitiert aus dem Erfahrungsbericht eines Schöffen: „Ich habe Urteile mitgetragen, die mir im Gerichtssaal sinnvoll vorkamen, die ich aber eine halbe Stunde später, daheim vor meiner Freundin, kaum mehr rechtfertigen konnte.“8

3.7.2Phänomene der Entscheidungsfindung

313Einige relevante Phänomene der Entscheidungsforschung und -findung sollen hier – zunächst losgelöst von ihrem strafrechtlichen Kontext – vorgestellt werden.

3.7.2.1Schulterschlusseffekt

314Der Begriff des Schulterschlusseffektes klingt kumpel- und laienhaft, kann aber verwissenschaftlicht auch als Theorie des sozialen Vergleichsprozesses bezeichnet werden; dahinter verbirgt sich die Feststellung, dass Menschen insbesondere in Situationen, in denen sie eine Entscheidung treffen müssen und sich dieser nicht sicher sind, dazu tendieren, sich an von ihnen als kompetent und zuverlässig empfundenen Vergleichspersonen zu orientieren.9 Informationen (über sich selbst) werden durch den Vergleich mit anderen gewonnen, um ein realistisches Bild zu erhalten; dabei findet ein sozialer Vergleich insbesondere dann statt, wenn eine adäquate Selbsteinschätzung erwartet wird und objektive Maßstäbe für eine Entscheidung fehlen.

3.7.2.2Prinzip der bestätigenden Informationsverarbeitung

315Das Prinzip der bestätigenden Informationsverarbeitung umfasst bei genauer Betrachtung zwei Phänomene, die abhängig davon sind, ob eine neue Information mit der vorhandenen Vorstellung übereinstimmt oder von dieser abweicht; es ist Ausfluss der Bestrebung nach einem harmonischen, angenehmen Gefühlszustand, der kognitive Dissonanzen zu meiden sucht. Informationen werden selektiv gesichtet, selektiv wahrgenommen und selektiv bewertet. Das Phänomen tituliert teilweise auch unter dem Begriff der Theorie der kognitiven Dissonanz.10

3.7.2.2.1Verarbeitung konsistenter Informationen

316Die Verarbeitung konsistenter Informationen erfolgt vor diesem Hintergrund in vermehrter, positiver, aufwertender, ja teilweise euphorisierender Form: Jeder kennt das Phänomen, dass der Straßenverkehr anscheinend nur noch aus Cabrios besteht, wenn man sich zum Kauf eines Cabrios entschlossen hat und auf der Suche ist. Tatsächlich hat sich die Struktur des Automarktes allerdings nicht verändert; der Betroffene nimmt lediglich die konsistenten Informationen (= Cabrios) vermehrt wahr und wertet sie auf. Konsistente Informationen werden so mit einem höheren Stellenwert versehen.

3.7.2.2.2Verarbeitung inkonsistenter Informationen

317Diametral entgegengesetzt erfolgt die Verarbeitung inkonsistenter Informationen, die Wohlempfinden und Erwartung stören; bei ihnen erfolgt keine vermehrte, sondern eine verminderte Wahrnehmung bis hin zu einer systematischen Ignorierung, mit der dann eine Bewertung wahrgenommener Informationen als unbedeutend korreliert.11 Der Bestätigungsfehler oder die Bestätigungstendenz führen also dazu, dass auch vom Vernehmenden schon

–konsistente Informationen bevorzugt gesucht und

–stärker gewichtet werden als inkonsistente Informationen,

–ambivalente Informationen als Bestätigung interpretiert und

–inkonsistente Informationen – wenn sie überhaupt wahrgenommen werden – als unbedeutend eingeschätzt werden.

3.7.3Inertia-/Perseveranzeffekt

318Inertia- und Perseveranzeffekt sind mit dem Prinzip der bestätigenden Informationsverarbeitung teilweise identisch; sie beschreiben den Mechanismus der Selbstbestätigung oder den Trägheitseffekt für den Fall einer bereits vorhandenen und als zutreffend eingeschätzten Hypothese oder Version.12 Das alte Sprichwort „es kann nicht sein, was nicht sein darf“, taucht hier als menschliche Reaktion auf und führt in Extremfällen dazu, dass der Betroffene geradezu verbohrt auf seiner Meinung beharrt, obwohl nicht nur vieles, sondern alles dafür spricht, diese Auffassung zu revidieren.

3.7.4Primacyeffekt

319Nach dem Primacyeffekt der Gedächtnisforschung13 werden früh eingehende Informationen besser gespeichert. Früher erhaltene Informationen werden besser erinnert.

320Diesem Primacyeffekt steht der Recencyeffekt gegenüber, nach dem später eingehende Informationen stärker gewichtet werden, beide Effekte sind existent und situationsabhängig vorhanden.

321Eine weitere Facette des Primacyeffekts beschäftigt sich mit dem Einfluss der Reihenfolge der Beweismittel: „Die ursprüngliche Hypothese, die die Wahrnehmung und/oder Gewichtung von Beweismitteln betrifft, muss erst einmal generiert werden. Nicht in allen Fällen hat der Urteilende von vorneherein eine Meinung zu dem Thema; …. Die Forschung zum Primacyeffekt legt nahe, dass die Hypothese, die von dem oder den ersten Beweismitteln favorisiert wird, zur Arbeitshypothese wird und die Bewertung der weiteren Beweismittel beeinflusst.“14 Arbeitshypothesen werden zwangsläufig bestätigt.

3.7.5Ankereffekt

322Der Ankereffekt stellt ein Phänomen dar, das sich in neueren Untersuchungen bestätigt hat und als Wirkung der ersten Zahl in der Psychologie anerkannt ist: Zur Entscheidungsfindung werden teilweise völlig irrelevante Informationen herangezogen und an dieser beteiligt: Die Vorgabe von Zahlenwerten und deren Höhe wirkt sich etwa auf Schätzungen, aber auch auf Preisvorstellungen selbst dann aus, wenn diese Zahlen mit der zu treffenden Entscheidung erkennbar in keinem Zusammenhang stehen: So hat die Höhe einer visualisierten Zahl entscheidenden Einfluss auf die nachfolgende Schätzung, wie viele afrikanische Länder Mitglied der Vereinten Nationen sind.15 Umgebungsinformationen wirken sich selbst dann auf die Entscheidung aus, wenn diese Informationen für eine rationale und professionelle Entscheidung evident irrelevant sind. Das Phänomen des Ankereffektes spielt insbesondere dann eine ausschlaggebende Rolle, wenn Entscheidungen zu einem Zahlenwert getroffen werden (müssen) und führt – durch die nachweisbare Anpassung – zu wahrnehmbaren Entscheidungsverzerrungen.

3.7.6Auswirkungen auf das Strafverfahren

323Im Folgenden gilt es, die Auswirkungen der vorgenannten Phänomene auf das Strafverfahren exemplarisch an einigen Beispielen darzustellen.

3.7.6.1Bestätigung kriminalistischer Arbeitshypothesen

324Im Rahmen der Bestätigung kriminalistischer Arbeitshypothesen führt

–die Kenntnis des Ermittlungsstandes zu einer höheren Tatverdachtsquote (bestätigende Informationsverarbeitung/Primacyeffekt/Inertia- und Perseveranzeffekt),

–mit dem vorläufigen Ermittlungergebnis kongruente Informationen werden besser wahrgenommen (bestätigende Informationsverarbeitung/Inertia- und Perseveranzeffekt),

–die Anzahl der Fragen ist von der (vorhandenen) Aktenkenntnis abhängig (bestätigende Informationsverarbeitung).

3.7.6.2Antragsgemäße Beschlüsse im Ermittlungs- und Zwischenverfahren

325In vielen Fällen erlassen Gerichte in erstaunlich schneller Zeit antragsgemäß Beschlüsse im Ermittlungsverfahren; die Anträge sind häufig bereits von Polizeibeamten vorformuliert und vom Staatsanwalt – mit seiner Unterschrift versehen – durchgereicht worden. Wissenschaftler haben im Hinblick auf TÜ-Maßnahmen die richterlichen Beschlüsse untersucht und gelangten – vereinfacht ausgedrückt – dazu, dass die Gerichte ihre Prüfungspflicht nicht hinreichend ernst nehmen.

 

326Auch der Eröffnungsbeschluss im Zwischenverfahren ist der Regelfall und die Ablehnung der Eröffnung und/oder eine geänderte Eröffnung eine in der Praxis eher seltene Ausnahme. Die Theorie des sozialen Vergleichsprozesses tätigt ihre Wirkungen, in dem sie die Entscheidungsfindung durch den Richter beeinflusst; sowohl die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 1 StPO als auch die des Richters nach § 203 StPO unterliegen einem identischen Maßstab, der Beurteilung eines hinreichenden Tatverdachtes. In dem bei Schünemann insoweit geschilderten Versuch waren die Beurteilungsergebnisse beider Berufsgruppen – bei identischen Akten – höchst unterschiedlich: Zusammenfassend waren die Staatsanwälte überwiegend geneigt, einen hinreichenden Tatverdacht zu verneinen, während die Richter – insbesondere nach fiktiver Anklageerhebung – diesen mehrheitlich bejahten. Zutreffend stellt Schünemann daher fest: „Wenn der Staatsanwalt in einer ambivalenten Beurteilungssituation (scil.: die Akte ließ sowohl eine Anklage als auch eine Einstellung als Entscheidung gut vertretbar sein) eine zweifelhafte Entscheidung trifft, wird diese anschließend vom Richter in der Regel nicht korrigiert, sondern fortgesetzt.“16