Das Rauschen der Stille

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Das Rauschen der Stille
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Deutsche Erstausgabe (ePub) Mai 2018

Digitale Neuauflage (ePub) Mai 2021

Für die Originalausgabe:

© 2015 by Heidi Cullinan

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Carry the Ocean«

Published by Arrangement with Dreamspinner Press, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Lektorat: Susanne Scholze

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

ISBN-13 (Print): 978-3-95823-694-3

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


Aus dem Englischen von Anne Sommerfeld

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

Klappentext:

Jeremy Samson hat seinen Schulabschluss in der Tasche und will jetzt nur noch eins: sich unter seiner Bettdecke verstecken, schlafen und nie wieder aufstehen. Und dann taucht plötzlich Emmet Washington in seinem Leben auf. Emmet ist hochintelligent, grundehrlich, sieht gut aus, hat Interesse an Jeremy – und ist Autist. Als sie sich näherkommen, droht Jeremy die Situation über den Kopf zu wachsen, denn Emmet scheut sich nicht, Probleme beim Namen zu nennen – und davon hat Jeremy mehr als genug. Seine Gefühle für Emmet gehen so tief wie nie etwas zuvor, doch kann Jeremy ihnen vertrauen?

Widmung

Für alle, die durch die Gewässer der

Superkräfte des Lebens navigieren,

möget ihr euch immer über Wasser halten

Danksagungen

Danke an Dan Cullinan, Saritza Hernandez und Maura Peglar fürs Beta-Lesen. Eure Hinweise, Kommentare und Vorschläge haben dieses Buch besser und authentischer gemacht. Danke auch an den Mad Spaz Club, vor allem Graham, für eure Ehrlichkeit, euren Humor und mehr Informationen, als ich mir je erträumt hätte.

Danke dir, Damien, wo immer du jetzt auch bist. Ich hoffe, dass du glücklich und voller Liebe bist und im Auto noch immer in den Rückspiegel singst. Mögest du noch immer mit Joe Jackson ausgehen und immer noch überrascht sein, dass du nicht gedacht hättest, einmal solche Liebe zu erfahren.

Wir alle hoffen, dass Ihnen die Show gefallen wird und immer dran denken, Freunde, egal wer ihr seid, was ihr tut, um zu leben, vorwärtszukommen und zu überleben, es gibt immer einige Dinge, die uns alle gleich machen.

—Elwood Blues, The Blues Brothers

Kapitel 1

Emmet

Ich brauchte zehn Monate, um Jeremey Samson kennenzulernen.

Ich sah Jeremey an dem Tag, an dem wir in unser Haus in Ames, Iowa, einzogen. Wir waren dorthin umgezogen, bevor ich mein Studium an der Iowa State University begann. Jeremeys Haus befand sich gegenüber, auf der Rückseite unseres Hauses hinter den Bahngleisen, wo eigentlich eine Gasse hätte sein müssen. Wenn ich mit meiner Tante Althea zu dem Bioladen am Ende der Straße ging, bat ich sie, den langen Weg zu gehen, damit ich mir die Hausnummer und das Kennzeichen des Autos in der Einfahrt einprägen konnte. Ich musste eine Weile im Internet suchen, bis ich seinen Nachnamen und schließlich auch seinen Vornamen herausfand. Jeremey Samson.

Allerdings sprach ich ihn nicht an. Ich beobachtete ihn aus der Ferne. Ich musterte ihn über den Garten hinweg. Ich entdeckte seinen Instagram-Account. Sein Internetauftritt war dezent. Einerseits war es eine kluge Entscheidung, andererseits erschwerte es jedoch, jemanden kennenzulernen, den man aus Schüchternheit nicht persönlich ansprechen konnte. Ich hätte mich ihm über die sozialen Medien vorgestellt, eine Nachricht geschickt und ihn erst einmal durch das Schreiben näher kennengelernt, doch er postete vielleicht ein Bild pro Monat und schrieb nie Kommentare.

Damals war er in der Oberstufe. Er hatte einen Freund namens Bart, was wahrscheinlich die Kurzform von Bartholomew war. Bart postete gern Selfies auf Instagram, auf denen er die Zunge herausstreckte. Ich folgte Barts Account, weil er manchmal auch Bilder von Jeremey machte.

Jeremey streckte seine Zunge allerdings nie heraus und sein Lächeln war immer schmal, wobei er die Lippen geschlossen hielt. Manchmal versuchte ich, eine logische Erklärung dafür zu finden, warum ich Jeremey so sehr mochte, aber romantische Gefühle hatten nichts mit Logik zu tun. Manchmal war es die Art, wie er seinen Namen schrieb, die ich an ihm am meisten mochte. Jeremey, mit einem zusätzlichen E. Ich hatte ein Computerprogramm geschrieben, um seinen Namen in einer hübschen Schriftart zu schreiben, und musste immer über das dritte E lächeln. Es machte ihn zu etwas Besonderem – gewöhnliche Jeremys waren nicht gut genug, um alle Es zu haben.

Manchmal mochte ich ihn wegen seines Lächelns. Manchmal mochte ich ihn, weil er nicht lächelte. Manchmal bekam ich eine Erektion wegen der Art, wie er sich die Haare aus dem Gesicht strich. Mein Gehirn interessierte es nicht, dass das seltsame Gründe waren, sich für jemanden zu interessieren. Mein Gehirn, mein Körper, alles an mir wollte mit Jeremey zusammen sein.

Ich wollte mich vorstellen, doch ich war zu nervös. Mein erstes Jahr auf dem College war eine Herausforderung und ich hatte nicht genug Kraft, um mit so vielen neuen Dingen umzugehen und zusätzlich eine Freundschaft zu schließen. Ich hoffte immer darauf, Jeremey auf der Straße oder in der Bibliothek zu begegnen, aber es passierte nie. Während das Schuljahr voranschritt, kam Jeremey immer seltener nach draußen und er postete immer weniger Bilder, sodass manchmal ein ganzer Monat ohne eine Aktivität verging. Im Mai feierte er eine Abschlussparty, aber es kamen nicht viele Leute, um mit ihm auf der Veranda zu sitzen. Als ich Jeremey sah, wirkte er traurig.

Ich wollte ihn kennenlernen und herausfinden, warum er traurig war und ihn vielleicht glücklich machen. Aber ich konnte nicht. Um ehrlich zu sein, war ich in Jeremey Samson verknallt. Ich wollte nicht einfach nur sein Freund sein. Ich wollte sein fester Freund sein.

Die meisten Menschen würden sagen: Gute Arbeit. Schnapp dir deinen Freund. Wenn ich in ein Online-Forum gehen würde, könnte ich jeden dazu bringen, mir die Daumen zu drücken. Die Leute störte es kaum noch, dass ich schwul war und in Ames interessierte es ohnehin niemanden.

Es gibt jedoch ein kleines Problem, etwas, das die Meinung der Leute über mich ändern würde. Es ist der Grund, warum ich so lange warten musste, um mich Jeremey vorzustellen, der Grund, warum ich meiner Familie nichts von meiner Schwärmerei erzählt habe. Dieses winzige Problem ist der Grund, warum mich ein Umzug nervös und das College zu einer Herausforderung gemacht hat. Obwohl ich haufenweise Freunde im Internet habe, gibt es eine Sache, die die Meinung der Leute über mich ändert, wenn sie mich persönlich treffen. Denn obwohl das Ich, das so schreibt, dasselbe Ich ist, das läuft und redet und mit dem Bus zum College fährt, würde es niemand glauben, der mich von Angesicht zu Angesicht sieht.

Mein Name ist Emmet David Washington. Ich bin neunzehn Jahre alt und Student im zweiten Studienjahr an der Iowa State University. Ich studiere Informatik und angewandte Physik. Ich hatte die Höchstpunktzahl in meinem Collegetest. Ich bin einen Meter und neunundsiebzig Zentimeter groß, habe dunkle Haare und blaugraue Augen. Ich mag Puzzles und die Blues Brothers. Ich kenne mich mit Computern aus und bin gut in Mathe. Ich kann mich an beinahe alles erinnern, was ich lese und sehe. Ich bin schwul. Ich mag Züge, Pizza und das Geräusch von Regen.

Außerdem habe ich eine Autismus-Spektrum-Störung, kurz ASS. Das ist nicht einmal annähernd die wichtigste Information über mich, aber sobald die Leute mich sehen, beobachten, wie ich gehe und mich reden hören, scheint es das Einzige zu sein, das zählt. Die Menschen behandeln mich anders. Sie tun so, als wäre ich dumm oder gefährlich. Sie sagen Spasti zu mir oder meinen, dass ich in ein Heim gehöre und damit meinen sie die Einrichtung, nicht das Haus, in dem ich wohne.

Wenn die Menschen herausfinden, dass ich Autist bin, sind sie der Meinung, dass ich mich nicht verlieben darf, nicht in Jeremey, nicht in sonst jemanden.

Was natürlich Mist ist. Es ist, wie Elwood Blues sagt: Everybody needs somebody to love. Ich bin ein Jeder. Ich bekomme einen Jemand.

Das Problem ist, dass es komplizierter ist, einen Jemand zu bekommen, wenn man Autismus hat. Wenn ich mich Jeremey vorstellen möchte, um herauszufinden, ob er mein Freund ‒ oder vielleicht mehr ‒ sein möchte, dürfte ich ihn nicht ignorieren oder zulassen, dass mein Autismus ein beunruhigendes Gefühl über eine mögliche Zurückweisung heraufbeschwört. Ich habe versucht mir einzureden, dass jemand mit einem so ruhigen Gesicht und schönen Lächeln keine gemeinen Dinge sagen oder mich beschimpfen würde. Ich nahm mir vor, mutig zu sein.

 

Ich brauchte zehn Monate, um mich Jeremey Samson vorzustellen. Zehn Monate, um die Anstandsregeln auswendig zu lernen und die richtigen Worte zu finden, um Jeremey mich zu zeigen, nicht meinen Autismus. Es brauchte viel Zeit und viel Arbeit, aber ich tat es.

Ich hätte mir nicht so viele Sorgen machen müssen. Offen gesagt, bin ich großartig und jeder, der dem nicht zustimmt, soll verschwinden.

Bevor ich erzähle, wie ich Jeremey kennenlernte und sein Freund wurde, muss ich erklären, wie mein Autismus funktioniert. Das Erste, was man über Autismus wissen muss, ist, dass es bei jedem Menschen anders ist und dass die Ärzte nicht alles über diese Erkrankung wissen. Manche Leute diskutieren sogar darüber, ob es überhaupt eine Erkrankung ist oder ob Erkrankung das richtige Wort ist. Meine Mom sagt, dass sich Erkrankung anhört, als würde etwas mit mir nicht stimmen, was allerdings nicht der Fall ist. Ich bin anders verkabelt, aber sie sagt, dass es bei jedem Menschen so ist, wenn man genau hinsieht.

Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass das Wort richtig ist. Das Wort Erkrankung bedeutet: Störung der normalen physischen und mentalen Funktionen. Ich verstehe, dass niemand wirklich normal ist, aber wie ich meiner Mom schon erklärt habe, weiche ich großzügig vom Mittelwert ab. Ich bin nicht nur ein wenig falsch verkabelt. Ich bin ziemlich falsch verkabelt.

Es ist schwer zu beschreiben, wie sich Gehirnaktivitäten eines Autisten von den Menschen mit einem Durchschnittsgehirn unterscheiden, da ich nicht weiß, wie sich ein Durchschnittsgehirn anfühlt. Die beste Zusammenfassung ist, dass ich sensibler bin als die meisten Menschen und ich meine damit nicht, dass meine Gefühle verletzt werden können. Meine Art von Sensibilität bedeutet, dass es sich anfühlt, als würde ein Spachtel über mein Gehirn kratzen, wenn ich die Naht meiner Strümpfe an meinem Zeh spüre. Die Luft eines Ventilators kann sich anfühlen, als würden zehn Millionen Ameisen über meine Haut krabbeln. Lärm stört mich nicht, aber von blinkenden Lichtern wird mir schlecht. Bei starken Gerüchen passiert dasselbe und die Konsistenz bestimmter Lebensmittel verursacht, dass ich mich übergeben muss.

Wenn ich Dinge betrachte, sehe ich sie besonders hell und jedes kleine Detail lenkt mich ab. Alle Geräusche sind lauter, sogar die Atmung. Oft überfordert es mich, zu lange unter Menschen zu sein, da Menschen eine ziemliche Reizüberflutung darstellen können. Das ist mein Problem in der Schule. Ich verstehe nicht, warum es nur mich ärgert, wenn die anderen Studenten in den Fluren schubsen oder zu laut mit durchdringenden Stimmen sprechen. Warum sollte das irgendjemand genießen? Wen würde es nicht ärgern?

Meine Tante Althea hat etwas, das man früher in ihrer Kindheit als schwaches Asperger bezeichnet hat, aber heute heißt Asperger auch Autismus. Wenn man über Autismus spricht, sagt man, dass sich jemand im Spektrum bewegt, als ob wir alle auf dieser Linie seien und verschiedene Arten von Autismus hätten. Größtenteils bin ich mit dieser Metapher einverstanden, soweit ich das Konzept einer Metapher verstehe. Althea kommt ziemlich gut zurecht. Die meisten Menschen wissen nicht, dass sie überhaupt autistisch ist. Sie kann Auto fahren, worauf ich sehr neidisch bin. Sie sagen, dass ich niemals fahren werde, egal wie oft ich das Iowa Driver’s Manual aus dem Gedächtnis aufschreibe.

Trotzdem wohnt Althea bei uns, weil sie schlecht in Mathe und organisatorischen Dingen ist und ich gut darin bin. Sie kann ihr Zimmer überhaupt nicht sauber halten. Mom und ich helfen ihr jeden Samstag, aber während der ersten Stunde kann ich nicht reingehen. Erst wenn Mom es weniger eklig gemacht hat, kann ich mitmachen. Althea kann sich viel einfacher mit jemandem unterhalten als ich, aber in Prüfungen schneidet sie schlecht ab und kann sich in den meisten Jobs nur schwer konzentrieren, was auch der Grund dafür ist, dass sie ständig die Arbeit wechselt. Derweil konzentriere ich mich zu sehr. Sie sehen also, dass man nicht einfach Autismus sagen kann und sofort weiß, was jemand ist. Genauso wenig, wie man Junge oder Mann sagen und dann denken kann, dass man jeden Typ kennt.

Althea sagt, dass ASS unsere Filter dünner macht als die anderer Menschen. Sie sagt, dass laute Stimmen und starke Gerüchte jedem zu schaffen machen, aber stärkere Filter bedeuten, dass Durchschnittsmenschen sie besser ignorieren können. Sie und ich können schlechte Reize auch ignorieren, aber es kostet viel Mühe.

Sie hat mir eine Website über eine Frau mit Lupus gezeigt, die über Löffel spricht, dass jeder eine bestimmte Anzahl von Löffeln für jeden Tag bekommt, aber dass Menschen mit einer starken körperlichen oder mentalen Behinderung mehr Löffel brauchen, um durch den Tag zu kommen. Ich verstehe nicht, was Löffel damit zu tun haben, aber ich weiß, dass mich Stimuli schneller erschöpfen als andere Menschen.

Ich hab die Website Aber du siehst nicht krank aus sieben Mal gelesen, aber ich verstehe immer noch nicht, warum der Freund über Besteck weint. Althea sagt, dass es daran liegt, dass mein Gehirn Metaphern nicht versteht. Metaphern sind stellvertretende Geschichten, um etwas zu erklären, anstatt eine wortwörtliche Antwort zu geben. Mein Gehirn ist so wortwörtlich, wie ein Gehirn nur sein kann.

Es gibt jedoch auch einige lustige Aspekte meiner Erkrankung. Zum Beispiel erinnere ich mich an alles, was ich sehe. Mein Gehirn ist wie eine Kamera und wenn ich etwas sehe, vor allem eine Zahl, kann ich sie niemals wieder vergessen. Meine Mom bittet mich immer, Dinge für sie wiederzufinden und es gelingt mir, nicht weil ich ein Zauberer bin, sondern weil mein Gehirn erstaunlich ist. Wenn ich sehe, wie sie etwas hinlegt, weiß ich genau, wo es ist, es sei denn, jemand bewegt es, ohne dass ich es sehe. Ich kann mir Rezepte, Telefonnummern, Kennzeichen und mathematische Formeln merken. Ich kann mir fünfzig Zeilen eines Computercodes nach einmaligem Lesen einprägen. Ich verstehe Mathe sehr gut und was ich nicht weiß, lerne ich schnell.

Meine Augen sehen auch anders. Neben der Tatsache, dass ich alles auf einmal sehe, sagt meine Mom, dass ich Einzelheiten wie Struktur und Farbe deutlicher wahrnehme. Das bedeutet, dass ich manchmal Dinge oder Kunst wunderschön finde, die andere für hässlich halten, und manchmal ist das Schöne für Durchschnittsmenschen für mich hässlich.

Menschen sind allerdings kniffliger als Zahlen oder mich daran zu erinnern, wo Moms Schlüssel sind. Ich kann Menschen überhaupt nicht verstehen. Nicht ihre Gefühle, nicht, warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten, oder was sie möglicherweise als Nächstes tun werden. Manchmal macht es mich traurig, weil ich mich in meinem Kopf mit jedem unterhalten kann und sie mich jedes Mal verstehen. Es ist in Ordnung, Autismussuperkräfte zu haben, aber die meiste Zeit bedeutet es, dass ich einsam bin.

Ich gebe mir Mühe, mit Menschen in Kontakt zu treten, und für mich ist es in Ordnung, wenn es online oder über Nachrichten ist, aber wenn ich meinen Mund benutzen muss, geht alles den Bach runter. Es sind nicht nur die Wörter allein. Ich berühre zur falschen Zeit und berühre auf der anderen Seite nicht, wenn jemand es möchte. Ich sage und tue Dinge, die die Menschen wütend machen. Sehr wütend. Das Schlimmste ist allerdings, dass zwar niemand so gut mit Mathe und Computern umgehen kann wie ich, dafür aber jeder mit Menschen klarkommt – außer mir. Es ist egal, wie groß das mathematische Problem ist, das ich löse, oder wie viele Zeilen eines Codes ich repariere. Wenn ich das Falsche zu einer Person sage, hassen sie mich für gewöhnlich für immer. Menschen sind wichtiger als Zahlen oder die Tatsache, dass ich Farben schärfer sehe oder dass ich mich an jede Zutat unserer Thanksgiving-Essen der letzten zehn Jahre erinnern kann. Und Menschen sind für mich das Schwerste auf der Welt.

Ich wollte nicht, dass Jeremey Samson mich hasst, aber die Statistik stand nicht zu meinen Gunsten. Erst einmal musste er überhaupt schwul sein, um mein fester Freund zu werden. Die Daten waren nicht eindeutig, aber schätzungsweise sind zwei bis fünf Prozent der amerikanischen Männer homosexuell. Unter normalen Umständen ist gegenseitige Anziehung nicht als möglicher Prozentsatz zu messen, aber ich brauchte keine Feldstudie, um zu wissen, dass mein Autismus nicht hilfreich war, selbst wenn ich den Rest entgegen aller Wahrscheinlichkeit schaffte.

Ich wollte Jeremey ansprechen, aber zuerst musste ich meine Aussichten auf eine positive Interaktion verbessern. Es war nicht so, dass ich einfach aufhören konnte, autistisch zu sein – aber ich konnte darüber bestimmen, mich in einer vorteilhaften Umgebung vorzustellen. Ich hatte eine tiefgründige Recherche bezüglich Dating-Tipps betrieben, was nicht so einfach war, da ich diese Art der Berichte nicht immer gut beurteilen konnte. Ich hatte Glück und fand ein paar Foren, in denen andere autistische Menschen von ihren gelungenen Dates berichteten, und sie boten mir Hilfe an. Ich maß ihren Beitrag an den Ratschlägen des gesamten Internets. Ich widmete mich dem Projekt, Jeremey Samson um ein Date zu bitten, mit demselben Fleiß, den ich auch bei meinen Physikhausaufgaben oder meinen Programmierprojekten an den Tag legte.

Das Problem war, dass ich jedes Mal meine Recherche vergaß, wenn ich ihn ansah. Ich konnte nur noch daran denken, wie sehr ich ihn mochte und wie sehr ich wollte, dass er mich auch mochte.

Das Angenehme an meinem Autismus war, dass ich Jeremey ansehen konnte, ohne dass er etwas davon wusste. Eine Sache, die Durchschnittsmenschen an autistischen Menschen stört, ist, dass wir den Leuten oft nicht in die Augen sehen, wenn wir mit ihnen sprechen. Ich kann nicht für jeden Autisten sprechen, aber die Sache ist, dass ich jemanden nicht direkt ansehen muss, um ihn zu sehen. Direkter Augenkontakt ist viel zu laut und intensiv und es fühlt sich falsch an, auch wenn Mom und Dad und meine Tante sagen, dass es unhöflich ist, jemandem nicht in die Augen zu sehen.

Wenn ich Jeremey beobachtete, war mein Autismus eine Superkraft. Ich konnte stundenlang auf der Veranda sitzen und verfolgen, wie er sich in seinem Garten bewegte. Niemand wusste, was ich tat.

Meine Familie wusste nicht, dass ich Jeremey beobachtete, weil sie dachten, dass ich auf einen Zug wartete. Ich liebte es, dass wir Bahngleise in unserem Garten hatten, und ich konnte am besten entspannen, wenn ich die vorbeiziehenden Waggons zählte. Wenn es regnete und ein Zug vorbeifuhr, war ich praktisch im Himmel. Ich zählte nicht nur die Züge. Ich schrieb die Nummern der Waggons und Maschinen auf, versuchte Muster in der Anordnung zu finden und überprüfte, wie viele Waggons wann und in welche Richtung vorbeifuhren.

Ich beobachtete die Züge. Aber ich beobachtete auch Jeremey.

Ich sah ihn nicht oft draußen, aber ich war immer sehr aufmerksam, wenn er auftauchte. Er bewegte sich behutsam und vorsichtig, sodass ich glaubte, dass er ebenfalls empfindlich war. Er lächelte nicht viel, aber sein Gesicht war ruhig und entspannt, wie bei meinem Dad. Manchmal wirkte er traurig, aber das konnte ich nicht mit Gewissheit sagen, weil ich zu weit weg war. Er erledigte Dinge für seinen Dad – kümmerte sich um den Garten, mähte den Rasen, düngte die Pflanzen. Manchmal saß er mit seiner Mutter draußen und einmal sogar mit seiner Schwester, als sie zu Besuch war. Bart kam hin und wieder vorbei, aber nicht häufig. Meistens saß er allein draußen.

Ich habe Jeremey nirgendwo anders als in seinem Garten gesehen und er war noch immer nirgendwo online, wo ich eine Unterhaltung in Gang bringen konnte. Wenn ich ihn treffen wollte, würde ich den ersten Schritt machen müssen – und zwar persönlich. Ich würde mutig sein und auf meine Chance warten müssen.

Sie kam Anfang Juni, bei einem Straßenfest.

Ich wollte nicht zu dieser Party gehen. Es würden viele Menschen und schreiende Kinder dort sein, aber Mom sagte, dass es gut wäre, mit unseren Nachbarn zusammen zu sein. Normalerweise hätte ich mit ihr diskutiert und ihr gesagt, wo sie sich ihr Straßenfest hinstecken konnte, doch dann las ich den Flyer und stellte fest, dass der Name irreführend war. Mehr als eine Straße würde an dieser Feier teilnehmen. Eine Straßenparty.

Auch Jeremeys Straße.

Natürlich würde er teilnehmen müssen, damit ich ihn kennenlernen konnte, aber dieses Risiko war er mir wert. Am Abend vorher übte ich alle Gesichtsausdrücke auf meinen Schaubildern und arbeitete mich durch meine Karteikarten mit der angemessenen Wie man einen Freund kennenlernt-Unterhaltung. Als ich mich am nächsten Morgen anzog, gab ich mir besondere Mühe, damit mein Shirt auch hübsch aussah und meine Haare gekämmt waren. Ich bin nicht immer gut darin, aber als ich nach unten kam, lächelte Althea mich an und sagte mir, dass ich gut aussah.

 

Ich saß auf der vorderen Veranda im Schaukelstuhl und wartete eine Stunde darauf, dass die Party begann. Als meine Familie die Gartenstühle und vorbereiteten Speisen zusammenpackte, trug ich eine Tüte Kartoffelchips und lief summend hinter ihnen her.

Mom beobachtete mich. »Bist du wegen irgendetwas aufgeregt, Emmet?«

Ich war aufgeregt, aber ich wollte ihr nichts von Jeremey erzählen. »Ich will nicht mit dir reden.«

Sie sah mich weiter an und ihr Gesichtsausdruck bedeutete, dass sie weitere Fragen stellen würde, also bedeckte ich das Ohr, dass ihr am nächsten war, mit meiner Hand.

Seufzend drehte sie sich um und fragte nicht. Was gut war. Wir hatten den Picknickplatz fast erreicht und ich wollte sehen, ob Jeremey gekommen war.

Als ich seine Eltern sah, schlug mein Herz seltsam. Mrs. Samson lachte über etwas, was jemand gesagt hatte, trat an den Tisch heran und griff nach einer Schüssel. Mein Puls beschleunigte sich und ich fühlte mich schwindlig. Das war Adrenalin und die Hormone meines Körpers wirbelten in einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion auf, was sehr nervig war. Ich brauchte jetzt Konzentration, kein chemisches Durcheinander.

Aber ich wusste, warum sich mein Körper unlogisch verhielt, warum er all meine Pläne missachtete und mein Supherhelden-Gehirn in Super-Wackelpudding verwandelte. An der Stelle, an der seine Mutter verschwunden war, unter einem Baum, den blonden Schopf gesenkt, während er auf den Boden sah, stand Jeremey.