Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit

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IV.

Onkel Hermanns Frau Tante Martha musste in den Jahren, wo ihr Mann in Russland und Sibirien war, in Deutschland drei Kinder alleine großziehen. Sie lebte finanziell in begrenzten Verhältnissen. Ihre Kinder konnten nicht die höhere Schule besuchen. Keines der Kinder konnte studieren. Ihre Tochter Emilie wurde Krankenschwester. Die Söhne wurden Schornsteinfeger in Castrop-Rauxel. Das waren sie, solange ihr Vater lebte.

Nach dem Tod von Onkel Hermann wurden beiden Söhne arbeitslos. Der preußische Hof existierte nicht mehr. Die Freunde und Beziehungen, die man einst in Berlin gehabt hatte, starben einer nach dem anderen. Deutschland veränderte sich. In kilometerlangen Schlangen standen die Arbeitslosen vor den Suppenküchen. Deutschland verarmte. Deutschland wurde braun.

Ohne Beziehungen konnte man 1933 auf dem freien Markt keinen festen Arbeitsplatz mehr bekommen. Aber beim Militär wurde alles angenommen was nicht rot, gelb oder rosa war, das heißt, was nicht kommunistisch, jüdisch oder homosexuell war. Denn Hitler war an die Macht katapultiert worden. Jetzt bliesen alle Hörner zum Sturm. Es wurde marschiert, nicht nur auf dem Kasernenhof, auch auf den Schulhöfen und auch bei den Arbeitsämtern. Die Jugendlichen und Arbeitslosen marschierten in den Arbeitsdienst. Die beiden Söhne von Onkel Hermann marschierten in der Waffen-SS.

Die Familie von Onkel Hermann, die so viel hatte entbehren müssen, weil ihr Vater jahrelang in St. Peterburg und in der Gefangenschaft in Sibirien war, kompensierte ihre sozial schwierige Situation mit einer Verherrlichung der Glanzzeit der Familie. Diese Glanzzeit waren die Offiziere der Familie Schellhase am Hofe der preußischen Könige und Kaiser. Die militärische Laufbahn war der erste Schritt, diese Glanzzeit wieder aufzurichten. Damit gehörte man wieder dazu.

Tante Emilies Sohn war 1956 einer der ersten Rekruten, die sich bei der soeben errichteten Bundeswehr freiwillig meldeten. Die westdeutschen Bürger demonstrierten rasend gegen eine neue Militarisierung von West-Deutschland. Das waren die ersten ernsthaften Krawalle in der neu etablierten Bundesrepublik.

Aber Tante Emilie war stolz auf Erwin. Er gehörte zum Militär. Damit gehörte er wieder zur Elite, glaubte Tante Emilie. Sie lebte in ihrer eigenen Vorstellungswelt und Wirklichkeit und die lag immer noch im Pomp und in der Pracht des Kaiserreichs.

Erwin war stolz auf seine Uniform. Er stellte sich und die Uniform meinem Großvater vor. Mein Großvater war der unbestrittene Experte der Familie auf militärischem Gebiet. Er sollte Schnitt, Farbe, Schmiss und Schneid fachmännisch begutachten und kommentieren. Erwin stolzierte wie ein aufgeblasener Pfau vor meinem Großvater hin und her.

Nach dieser Modeschau fuhren Tante Emilie, Onkel Hans, Erwin und ich nach Essen und stolzierten in Begleitung von Erwin in Uniform wie aufgeblasene Pfauen in der Bundesgartenschau herum. Um uns entstand ein Vakuum. Wir waren hier der Höhepunkt der Exotik. Alle glotzten uns aus der Entfernung an. Keiner sprach mit uns.

Wir gingen in ein Gartenrestaurant. Auch hier entstand ein Vakuum um uns herum. Keiner setzte sich in unserer Nähe. Die Angestellten liefen mit hochroten Köpfen an uns vorbei: „Kollege kommt gleich.“ Kein Kollege war weit und breit zu sehen.

Dann kam die Geschäftsführung. Wir wurden diskret und höflich aufgefordert, das Restaurant zu verlassen. „Sie müssen verstehen, keiner will jemals wieder eine Uniform in den Straßen von Deutschland sehen.“

Einstmals war die Uniform der Stolz und die Ehre des preußischen Staates. 1956 signalisierte die Uniform einen Kriegshetzer und Kriegstreiber. Behandelt wurde der Soldat wie ein „Outlaw“, wie der Abschaum der Gesellschaft.

1945 war in Deutschland die Stunde „NULL“, Deutschland existierte nicht. Die Deutschen existierten nicht. Die Deutschen erstarrten in einem Trauma. Niemand wagte an diese Wunde zu rühren. Niemand durfte ungestraft diese Wunden aufreißen, auch keine auf der Straße herumlaufende Uniform, schon gar keine auf der Straße herumlaufende Uniform.

V.

Als Hitlers große Gruppenreisen begannen, kam Tante Emilie zum Kriegseinsatz als Krankenschwester nach Holland. Hier hatte sie mehrere Jahre lang ein Verhältnis mit einem Holländer. Sie bekam zwei Kinder von ihm, weigerte sich aber hartnäckig, ihn zu heiraten. Sie hat einen jahrelangen Prozess gegen ihn geführt, um von ihm Alimente zu bekommen. Der Mann weigerte sich zu zahlen. Er hatte Emilie Schellhase die Heirat angeboten und war immer noch bereit war, sie zu heiraten.

Laut Gesetz brauchte ein Mann, wenn er die Frau heiratete oder heiraten wollte, die von ihm Kinder hatte, keine Alimente zu zahlen. Holland war die besiegte Nation. Hier galten deutsche Gesetze, auch für Holländer. Gesetz ist Gesetz, damit spaßen die Deutschen nicht. Tante Emilie verlor diesen Prozess.

Nach dem Krieg hat Tante Emilie wie viele deutsche Frauen Trümmer aufgeräumt. Diese Frauen wurden Trümmerfrauen genannt. Die Trümmerfrauen durften die Steine, die sie sich aus den Trümmern herausgeholt hatten, behalten. Besser gesagt, sie behielten diese Steine unterstützt von einer sich vorsichtig etablierenden zivilen Städteverwaltung in Absprache mit den Alliierten Verwaltungsmächten. Von der gleichen zivilen Städteverwaltung bekamen sie auch das Angebot, billig ein Grundstück zu kaufen.

Viele der norddeutschen Städte waren bis zu neunzig Prozent zerbombt. Gleichzeitig kamen rund fünfzehn Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen östlichen Gebieten von Deutschland. Sie flohen vor der russischen Armee und vor der polnischen und tschechoslowakischen Bevölkerung.

Millionen von Menschen lagen auf der Straße. Millionen wurden in Gymnastik Sälen, in Ruinen, in Kellern, auf Dachböden und in Baracken untergebracht. Es war ein unbeschreibliches Elend. Darum wurden Gesetze erlassen, dass die großen Grund- und Villenbesitzer alle überflüssigen Räume an Flüchtlinge und Vertriebene abgeben mussten. Pro Kopf durfte jeder nur ein Zimmer für sich beanspruchen.

Mein Großvater war über diese Zwangsmaßnahmen der provisorischen Verwaltungsbehörden empört. Das war ein Eingriff in seine Privatrechte. Weil meine Schwester und ich mit zum Haushalt gerechnet wurden, konnte er fünf Zimmer für sich beanspruchen. Noch zehn Jahre nach dem Krieg schimpfte mein Großvater über diese Unverschämtheit, ihn derart in seinen Rechten zu beschränken.

Die Maßnahmen der provisorischen Zivilverwaltungen der Städte, die Bevölkerung zum Bau von Eigenheimen anzuspornen, war eine weitere Maßnahme, um dem Elend der Menschen abzuhelfen, die kein Dach über dem Kopf hatten. Gleichzeitig war es auch ein Mittel, die Trümmer zu beseitigen und Deutschland wieder aufzubauen.

Tante Emilie wurde Trümmerfrau und baute sich in Castrop-Rauxel ein Häuschen. Der Garten, der zu diesem Reihenhaus gehörte, half ihr, die schwersten Hungerjahre zu überleben.

Hier wohnte in den Zimmern unterm Dach Tante Martha, die Mutter von Tante Emilie. Tante Emilie versorgte und pflegte sie bis zu ihrem Tod. Aus diesem Grund erbte Tante Emilie die letzten Wertgegenstände der Familie: den großen Flügel von Onkel Hermann, sein wertvolles Cello und seine Geige.

Tante Emilie erzählte mir, dass ihr Vater einmal einem Zigeuner zuhörte, wie er Geige spielte. Onkel Hermann war verzaubert von dem Klang dieser Geige. Er bat den Zigeuner, ihm die Geige zu verkaufen. Er war bereit, jeden Preis zu zahlen.

Die Geige war schwarz lackiert. Durch einen jahrzehntelangen Gebrauch kam an einigen Stellen die originale Farbe der Geige durch den schwarzen Lack zum Vorschein. Mir wurde erzählt, dass Zigeuner wertvolle Geigen gestohlen haben. Um die Herkunft dieser Instrumente zu vertuschen, hätten sie die Geigen schwarz angemalt.

Als ich Tante Emilie am Telefon erzählte, dass meine vierjährige Tochter Geigenunterricht bekam und dass wir beide im Orchester spielten, war sie euphorisch begeistert. Ich erweckte die große Glanzzeit der Familie Schellhase wieder zum Leben. Als Tante Emilie starb, hat sie mir die Zigeuner Geige ihres Vaters vererbt.

Onkel Hans rief mich an und erzählte mir die Geschichte. Eine Bedingung dieser Erbschaft war, ich müsse selber nach Deutschland kommen und mir die Geige abholen.

Siebenbürgen


Siebenbürgen
I.

Onkel Hans kam aus Siebenbürgen. Die Siebenbürger Sachsen waren 1140 vom ungarischen König Géza II. nach Siebenbürgen geholt worden. Siebenbürgen liegt im Karpatenbogen im heutigen Rumänien. Damals gehörte es zu Ungarn.

Die Siebenbürger kamen vom Mittelrhein, dem Niederrhein und aus Flandern, aus dem Moselgebiet und aus Luxemburg, aber nicht aus Sachsen. In der Kanzleisprache wurden die Siebenbürger als „Saxonen“ bezeichnet. „Saxonen“ kommt als Sprachverdrehung von „Sassen“, also Ansässigen. Daraus wurden später „Sachsen“.

Die Einwanderungswelle der Deutschen wurde geplant durchgeführt, um die Ostgebiete zu kultivieren und auszubauen. Die Deutschen sollten aber auch das Land vor eindringenden Feinden verteidigen. Bei den Überfällen von Tataren und Mongolen und in den Türkenkriegen waren die deutschen Einwanderer aktiv an der Verteidigung des Landes beteiligt.

Die deutschen Ansiedler hatten bereits 1224 im „goldenen Freibrief“ umfassende Rechte bekommen. Sie bekamen die Territorialautonomie zugesprochen. Sie hatten eine Selbstverwaltung. Sie hatten ein freies Besitz- und Erbrecht. Sie hatten eine eigene Gerichtsbarkeit. Sie konnten nach eigenem Ermessen ihre Richter und Pfarrer wählen. Sie waren frei von Zöllen und Abgaben. Sie hatten eigene Zeitungen, Schulen und eine eigene Universität.

 

Diese umfassenden Privilegien ermöglichten es den Siebenbürger Sachsen, bis ins 20. Jahrhundert ihre Sprache und Kultur zu pflegen und weitere zu entwickeln. Damit haben sie ihre deutsche Identität bewahrt. Diese Wahrung ihrer ethnischen Identität wurde ihnen während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit zum Verhängnis.

Siebenbürgen gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zur Doppelmonarchie Österreich – Ungarn. Die Doppelmonarchie verlor den Krieg und wurde aufgesplittert. Reichsgebiete wurden abgetrennt. Neue Staaten wurden etabliert. In dieser Federkriegsverwaltung der Siegermächte kam Siebenbürgen zu dem neu errichteten Staat Rumänien.

Nach dem rumänisch-deutschen Wirtschaftsvertrag kamen die Siebenbürger Sachsen in den dreißiger Jahren unter den Einfluss des Naziregimes. Das bedeutete, das beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges junge und gesunde Männer von deutscher Abstammung zum deutschen Kriegsdienst eingezogen wurden. Hierzu gehörte auch Onkel Hans.

Aber auch der Ribbentrop-Molotov-Vertrag beeinträchtigte das Schicksal der Deutschen in den Ostgebieten. Dieser Vertrag wurde am 27. August 1939 unterschrieben. Es war ein Nichtangriffspakt mit geheimen Zusatzprotokollen. Diese Protokolle regulierten die Aufteilung Osteuropas zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die Baltischen Staaten und Polen hörten auf zu existieren. Die Russen marschierten ins Baltikum ein und schmissen alle Deutschen aus ihren okkupierten Gebieten raus. Die Deutschen marschierten in Polen ein und schmissen alle Russen aus ihren okkupierten Gebieten raus. Das hieß Umsiedlung. Sie wurde mit der Parole: „Heim ins Reich“ umschrieben.

In dieser Zeit wurde der Begriff „Volksdeutsche“ und „Reichsdeutsche“ erfunden. Reichsdeutsche waren die Deutschen, die innerhalb der Grenzen des deutschen Reiches von 1939 wohnten. Volksdeutsche waren die Deutschen, die Jahrhunderte lang in anderen Ländern gelebt hatten. Hierzu gehörten neben den Siebenbürger Sachsen auch die in Russland lebenden Wolgadeutschen und die in Polen und im Baltikum lebenden Deutschen. Alle wurden „umgesiedelt.“

Besonders gesunde und arbeitsfähige junge Volksdeutsche sollten mit Familie und Kindern in den von Nazideutschland okkupierten Gebieten angesiedelt werden. Zuerst wurden die Volksdeutschen in Lagern aufgesammelt. Diese Lager wurden von der SS verwaltet. Hier wurden die Volksdeutschen administrativ erfasst, kategorisiert und ausgesiebt.

Onkel Hans war bei Ausbruch des Krieges Anfang zwanzig. Er war verheiratet und,hatte zwei gesunde Kinder. Er war deutsch mit einem jahrhundertalten Ahnenpass. Er war gesund und ohne Erbkrankheiten. Er war Facharbeiter in der Milch- und Käseproduktion. Für die herrschende Naziideologie gehörte er damit zur ersten Klasse von produktivem Menschenmaterial.

Normalerweise wurden die volksdeutschen Familien geschlossen mit Frau, Kindern, Eltern und Schwiegereltern umgesiedelt. Onkel Hans kam alleine in das Umsiedlungsauffang-Lager nach Zdunska Wola. Ich fragte Onkel Hans, wo seine Frau war.

Sie ist in Siebenbürgen zurückgeblieben.“

Warum?“

Sie kam aus dem Banat“, sagte Onkel Hans.

Aus dem Banat? Was ist das?“ Onkel Hans winkt ab. Er äußerte sich nicht weiter dazu. Meine Informationen musste ich mir alleine aus Lexika und Internett zusammen sammeln.

Die Banater Deutschen waren ursprünglich Schwaben, also auch Deutsche, aber Deutsch und Deutsch war doch nicht das gleiche. Geschichtlich betrachtet sind die Banater Schwaben zwischen 1686 und 1848 in die Pannonische Tiefebene eingewandert, während die Siebenbürger Sachsen schon seit dem 12. Jahrhundert im Karpatenbogen wohnten und eine hohe Kultur entwickelt hatten.

Die Einwanderung der Schwaben war von der Österreichischen Monarchie organisiert worden. Diese Schwaben hatten niemals dieselbe Autonomie und Selbstverwaltung zugesprochen bekommen wie die Siebenbürger Sachsen. Sie hatten sich verschiedenen staatlichen Machtstrukturen anpassen müssen.

Außerdem waren diese Gebiete im 16. Jahrhundert hauptsächlich von Serben und Walachen bevölkert. Die Banater Schwaben hatten also keine staatsrechtliche Autonomie und teilten zudem den gleichen Lebensraum mit anderen Bevölkerungsgruppen. In dieser Symbiose haben sie nicht ihre Sprache, Kultur, Zivilisation und ethnische Abstammung in der gleichen organisierten Form wie die Siebenbürger Deutschen bewahren können. Sie hatten auch keine Möglichkeit, eine neue Kultur aus dieser Symbiose heraus zu entwickeln.

Onkel Hans wusste das alles, aber er konnte das, was er eigentlich meinte, nicht sprachlich formulieren. Er sagte nur mit einer wegwerfenden Handbewegung: „Sie kam aus dem Banat.“, und danach hätte ich alles Weitere, was ich nicht wusste, intuitiv wissen müssen.

Möglicherweise gab es für die Siebenbürgern Sachsen ein kollektives Selbstverständnis, mit gewissen Begriffen bestimmte Dinge zu assoziieren. Diese Assoziationen waren mir nicht zugänglich.

Als ich nicht locker ließ und Onkel Hans mit weiteren Fragen plagte, wich er auf eine andere Ebene aus. Ich bekam intime Bekenntnisse von Dingen, die ich gar nicht wissen wollte und die ich nicht verstand. Onkel Hans erzählte mir, dass seine Frau „kalt“ war. Nicht einmal als er an die Front reisen musste, habe sie mit ihm schlafen wollen.

Er wäre ganz verrückt nach Sex gewesen. Bis er zwanzig Jahre alt war, hatte er niemals Sex gehabt, als er aber einmal damit anfing, sei er total explodiert.

Das war doch was Scheenes!“, sagte er. Onkel Hans hatte seinen speziellen Siebenbürger Dialekt beibehalten.

Außer diesen intimen Bekenntnissen, bekam ich keine weiteren Erklärungen.

Onkel Hans war offen, großzügig und in gewisser Hinsicht auch naiv, derartige detaillierte Intimitäten zu erzählen. Durch diesen Einfluss von Tante Emilie und Onkel Hans hätte ich vortrefflich aufgeklärt sein müssen. War ich aber nicht. Denn für eine Jungfrau, der jede körperliche Erfahrung fehlt, hat der Lehrsatz des Pythagoras den gleichen Erkenntniswert wie Beschreibungen von erotischen und sexuellen Erlebnissen, beide können ein reflexives Staunen auslösen: „So etwas gibt es also auch“, aber sonst gar nichts.

Derartige Erzählungen und Erklärungen von Onkel Hans oder von meiner Schwester, beweisen die Unmöglichkeit, theoretisch Dargestelltes und Vermitteltes in eine körperliche Adaption und Erkenntnis zu transformieren, wenn die Voraussetzung einer entsprechenden körperlichen Erfahrung fehlt. Es ist keine Antenne für den Empfang solcher Aussagen vorhanden. Bei mir riefen diese Anspielungen und Erzählungen weder erotische Visionen noch sexuelle Bilder hervor. Sie vermittelten mir keinerlei Erkenntnisse, welcher Art auch immer.

Onkel Hans wurde also alleine umgesiedelt. Er kam nach Zdunska Wola in Polen. Zdunska Wola war eines dieser von der SS errichteten und geleiteten Lager, wo die Auslandsdeutschen aufgesammelt und ausgesiebt wurden. Von hier aus wurden sie umgesiedelt.

Meine Mutter arbeitete in Zdunska Wola als Lehrerin. Sie war damals zwanzig Jahre alt. Onkel Hans, der allen Frauenröcken nachlief, schwärmte noch zwanzig Jahre später: „Das war ein scheenes Mädchen.“

Meine Mutter wäre jeden Morgen mit den Kindern ihrer Klasse spazieren gegangen. Jeden Morgen hätten die jungen Männer am Lagerzaun gestanden und hinter ihr her gehechelt.

Onkel Hans hätte zuerst als Käsemeister gearbeitet. Später wäre er zum Kriegsdienst an die russische Front geschickt worden. Er sei in die russische Gefangenschaft nach Workuta gekommen.

II.

Das Schicksal der Volksdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg war grausam. Das galt für Ost-Preußen, für Polen, für die Tschechoslowakei, aber auch für die Siebenbürger Sachsen in Rumänien. Alle Deutsche, ob sie in Deutschland gelebt hatten oder nicht, ob sie am Krieg teilgenommen hatten oder nicht, wurden kollektiv schuldig gesprochen, bloß weil sie Deutsch waren, weil sie deutsche Ahnen oder einen deutschen Pass hatten. Das war in Norwegen so. Das war in Polen, in der Tschechoslowakei, in England, Frankreich, in Rumänien und Russland so.

Arbeitsfähige Siebenbürger wurden in ukrainische Kohlenbergwerke deportiert und zu Zwangsarbeit verurteilt. Familien wurden zwangsevakuiert und in unfruchtbaren Gegenden angesiedelt. Bauern, Industrie- und Handelsunternehmen wurden enteignet. Kulturelles Vermögen wurde beschlagnahmt. Siebenbürger Sachsen, die im Ausland waren, hatten keine Einreiseerlaubnis, in ihre Heimat zurückzukommen. Siebenbürger Sachsen, die in Rumänien wohnten, durften nicht ausreisen.

Deutsche wurden evakuiert, deportiert, eingekerkert, ermordet, total enteignet, zu Zwangsarbeit und zur Flucht gezwungen. Ihre Bürgerrechte wurden ihnen entzogen. Deutsche waren Freiwild. Man konnte sie erschießen, ermorden, verschleppen und vergewaltigen. Hundert Millionen von Menschen wurden per Definition für nicht existent erklärt. Sie wurden mit einem Papierstrich in Jalta und Potsdam ermordet. Der Rest war Schlächterarbeit. Nicht einmal der Gerichtshof im Haag wagt, an diese ethnische Reinigung zu rühren. Sie ist zu groß. Sie ist zu umfassend. Sie überschreitet jeden Menschenverstand. Die Deutschen haben eben das gekriegt, was sie verdient hatten. Das ist die offizielle Version.

Recht ist ein artifizieller Begriff, der wie eine Seifenblase in der Luft zerplatz, sobald man die Machtstrukturen untersucht, die dahinter stehen. Der Internationale Gerichtshof im Haag befasst sich mit Serbien, Kroatien, Ruanda, aber die Kriegsgräuel an Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wagt keiner aufzudecken. Man weckt keine schlafenden Hunde.

Wozu auch? Deutschland gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Also gab es keine Deutschen. Also konnte es keine Kriegsverbrechen an Deutschen geben. Logik ist etwas Schönes.

.Als Onkel Hans in den fünfziger Jahren aus der russischen Gefangenschaft entlassen wurde, durfte er nicht nach Siebenbürgen zurückkehren. Darum ging er nach West-Deutschland. Hier irrte er herum. Er hatte keine Unterkunft, er hatte keine Arbeit, er hatte keine Einnahmen, kein Geld, keine Familie und keine Verwandten. Er hatte nichts zu essen.

Auf seiner Suche nach einer Überlebensmöglichkeit, kam er zu Tante Emilie. Ihm war erzählt worden, sie hätte ein Zimmer zu vermieten.

Tante Emilie hatte kein Zimmer zu vermieten. Tante Emilie arbeitete als Krankenschwester im Krankenhaus. Sie versorgte alleine ihre Mutter und einen Sohn. Der andere Sohn war beim Spielen mit Kriegsmaterial, das in Wäldern und Ruinen vergessen herumlag, in die Luft gesprengt worden. Tante Emilie hatte eigene Sorgen und genug Probleme, um ihre Familie durchzubringen. Tante Emilie konnte keine herum irrenden und heimatlosen Menschen bei sich aufnehmen. Fünfzehn Millionen Menschen, vielleicht auch mehr, lagen in Deutschland auf der Straße.

Als Tante Emilie den ausgehungerten Mann sah, sagte sie: „Ein Zimmer habe ich nicht, aber ein Butterbrot können sie von mir bekommen.“

Während Onkel Hans sein Butterbrot aß, schlief er vor Erschöpfung am Küchentisch ein. Diesen armen Menschen konnte Tante Emilie nicht wieder auf die Straße jagen. Onkel Hans blieb. Die erste Nacht schlief er auf einer Bank in der Küche. Die zweite Nacht schlief er in Tante Emilies Bett.

Weil Onkel Hans Einreiseverbot nach Rumänien hatte und weil seine Frau Rumänien nicht verlassen durfte, wurde die Ehescheidung ohne Probleme ausgesprochen und Onkel Hans heiratete Tante Emilie.

Tante Emilie hatte mit einem Holländer zwei Kinder bekommen, sie hatte sich aber in allen Jahren der deutschen Besetzung von Holland geweigert, diesen Mann zu heiraten. Mit Onkel Hans war sie über fünfundzwanzig Jahre lang glücklich verheiratet. Onkel Hans sagte, sie war eine phantastische Frau. Er habe niemals in seinem Leben eine so großartige Frau getroffen, auch nicht nach Tante Emilies Tod.

Onkel Hans war von Natur aus ein großzügiger Mensch, der vor Lebenslust überschäumte. Er hat im Laufe der Jahre seine Söhne, deren Familien und andere Verwandte aus Ceausescus Rumänien herausgeholt. Er hatte pro Person eine Kopfprämie von zwanzigtausend Mark bezahlen müssen. Der Menschenhandel ist ein Jahrtausend altes, lukratives Geschäft.

 

Die Bundesregierung hat den Siebenbürger Sachsen im Gebiet von Wiehl und auf der Drabenerhöhe Land zur Verfügung gestellt, wo sie sich Grundstücke erwearben und eigene Häuser bauen konntenten. Hier bekamen sie eine neue Heimat.