Einführung in die Philosophie

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Einführung in die Philosophie
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UTB 4424

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Manfred Riedel

Harald Seubert

Einführung

in die Philosophie

Herausgegeben von Friedemann Sprang

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2015

Impressum

Manfred Riedel (1936–2009) war zuletzt als Professor für Philosophie an der Universität Halle-Wittenberg tätig. Er gilt als einer der profiliertesten deutschen Denker der Gegenwart.

Harald Seubert (geb. 1967) ist Professor für Philosophie und Religionswissen­schaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel.

Friedemann Sprang (geb. 1941) betreut den schriftlichen Nachlass von Manfred Riedel.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Umschlagabbildung:

Bildausschnitt aus: Die Schule von Athen, Raffael 1510/11 (Foto nach der Restaurierung). © akg-images/Erich Lessing.

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln WeimarUrsulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 4424 | ISBN 978-3-8252-4424-8 | eISBN 978-3-8463-4424-8

Über dieses eBook

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Über dieses eBook

Vorwort

Einleitung

1 Was ist Philosophie?

1.1 Philosophie und Weltanschauung

1.1.1 Die kritische Aufgabe der Philosophie

1.1.2 Zur aktuellen Problemlage

1.2 Philosophie und Wissenschaft

1.2.1 Prinzipienerkenntnis und Erkenntnis aus Prinzipien

1.2.2 Zwischen Wissen und Information

1.3 Der Ursprung der Philosophie

1.3.1 Grenzgänge: Staunen, Fragen, Denken, Wissen

1.3.2 Der Ursprung der Philosophie im Lichte der heutigen Denkerfahrung

2 Die Grundprobleme der Philosophie

2.1 Die Frage nach der Wahrheit

2.1.1 Das Problem der Dialektik

2.1.2 Wahrheit und Begründung: Die Aktualität von Dialektik und Dialog

2.2 Die Bedingungen des Guten: Das Problem der Ethik

2.2.1 Die Transzendenz des Guten und das Sittengesetz

2.2.2 Das Gute und das Nützliche

2.3 Die Bedingungen der Freiheit: Das Problem der Politik

2.3.1 Das Wesen der Freiheit und die Konstitution der Polis

2.3.2 Die unbeweisbare Freiheit: Politische Philosophie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert

2.4 Der Sinn von Sein

2.4.1 Das Problem der Metaphysik

2.4.2 Ende oder Zukunft der Metaphysik: Die unhintergehbare Seinsfrage

3 Wie sollte im 21. Jahrhundert Philosophie studiert werden?

Literaturverzeichnis

Personenregister

Sachregister

Editorische Notiz

Rückumschlag

Vorwort

von Harald Seubert

Die Einführung in die Philosophie ist die elementarste und grundlegendste Vorlesung eines philosophischen Lehrers. Dadurch ist sie auch eine Königsdisziplin. Auf knappem Raum gilt es zu sagen, was Philosophie ist, die, im Unterschied zu anderen Wissenschaften, nicht einen festgelegten Kanon von Methoden und wissenswerten Sachverhalten enthält, sondern in der buchstäblich alles zur Disposition steht. Man lernt die Sache und den Denker gleichermaßen kennen. Manfred Riedel (1936–2009) hat seine ‚Einführung‘ eine ‚Hinführung‘ genannt, und er hat Philosophie zuerst dadurch gekennzeichnet gesehen, dass sie radikales Fragen sei. Die Vorlesung situiert deshalb Philosophie zwischen Weltanschauung und Wissenschaft: Es sind die beiden Dimensionen, aber auch Deformationen des Geistes, zwischen denen die Philosophie in der Zeit nach Hegel ihre eigenständige und vermittelnde Bedeutung zu verlieren drohte. So besteht die Gefahr, dass Philosophie zu Wissenschaft oder zu Ideologie degeneriert. In einer Weltanschauung bricht die philosophische Fragebewegung ab. Sie erstarrt zu Dogma oder Ideologie. Dies zeigt Riedel im Blick auf den Marxismus, den er seit seiner Schul- und Studienzeit kannte und der in den frühen Siebzigerjahren die westlichen Intellektuellen in ihren Bann zog. Eine nur szientistische wissenschaftliche Weltorientierung, der sich zu weiten Teilen die angelsächsisch-sprachanalytische Philosophie verschrieben hat, reduziert ihrerseits die Fragebewegung im Namen von vorgegebenen Erkenntnismodellen, vor allem des physikalistischen. Philosophie aber ist, dies betont Riedel eindrücklich, nichts Nachträgliches – weder bezogen auf Weltanschauung noch auf Wissenschaft. Sie ist selbst Ursprung der Denkbewegung, die über die gegebene faktische Welt, sei es eines Zeitgeistes, sei es eines positivistisch gesetzten Theorierahmens hinausgeht. Eindrucksvoll zeigt er deshalb im Rückgriff auf die mittelalterliche Transzendentalienlehre [<<7] und die kantische Transzendentalphilosophie, dass Philosophie aus sich heraus die Grenze zwischen dem Transzendenten und dem positiv Gegebenen überschreitet. Anders gesagt: Sie muss als Philosophie einen spekulativen Weg nehmen. Wenn sie dies nicht tut, verfehlt sie sich.

 

Von diesen Vorklärungen her exponiert Riedel die vier Grundprobleme der Philosophie, die in einer jahrhundertelangen Auseinandersetzung umkreist werden. So entsteht ein Gespräch zwischen antikem, neuzeitlichem und modernem Denken, das im besten Fall zu immer größerer Sinnklarheit führt, nicht aber zu verwertbaren dogmatischen Sätzen und auch nicht zu szientifischen Lösungen.

Riedel benennt zunächst die Frage nach der Wahrheit, die auf das Sich-Unterreden über die Sache, die Grundbedingung von Identität und Differenz, führt. Mit seinem Lehrer Gadamer hält er fest, dass Dialektik im Dialog gründet. Das zweite Problem ist die Frage nach den Bedingungen des Guten: Sie führt auf die Ethik. Das dritte Problem betrifft die Bedingungen der Freiheit und damit der Manifestation und Realisierung des Guten in der politischen bürgerlichen Gesellschaft. Die vierte Frage gilt schließlich dem ‚Sinn von Sein‘, worin Riedel das Grundproblem der Metaphysik zwischen Aristoteles einerseits, Hegel und Heidegger andererseits eindrucksvoll sichtbar macht.

Das Manuskript kann und soll nicht verleugnen, dass es aus den Debattenlagen der Siebziger- und Achtzigerjahre hervorgegangen ist. Dennoch ist es von bemerkenswerter Aktualität: Die gegenwärtig dominierende Tendenz der Philosophie, sich nur noch szientistisch zu verstehen, hat zumal in Deutschland seither vehement zugenommen. Man findet kaum zeitgenössische ‚Einführungen‘, die einen unreduzierten Philosophiebegriff entwickeln. Schul- und abgezirkelte Spezialdebatten verdunkeln das Selbstverständnis. Die Präsenz von ‚Weltanschauungen‘ ist im Zeitalter der ‚globalisierten Welt‘ gewiss geringer geworden. Dieses Buch kann aber dazu verhelfen, die Frage nach der impliziten ‚Ideologie‘ des entfesselten globalen ‚Weltinnenraums des Kapitals‘ aufzuwerfen. Wie kann sich demgegenüber die Eigenständigkeit der Philosophie bewähren?

Manfred Riedels bestechend klarsichtige Gliederung lässt Raum für die Selbstentfaltung des philosophischen Gedankens in großen Vertretern. So entsteht ein Gespräch der Antike mit der Moderne, in das durch die [<<8] Veränderungen der politischen und der Wissensformen Brüche eintreten, das aber nie abbricht. Riedel, der eingehend über Hegel, Nietzsche und Heidegger gearbeitet hat, weiß um die Problematik des ‚Endes der Philosophie‘ und zumal der ‚Metaphysik‘. Doch spielt er nie mit modischen Epitheta wie der Berufung auf ein ‚nachmetaphysisches Denken‘. Die Eigenständigkeit zeigt sich auch gegenüber dem ‚linguistic turn‘, in dem hermeneutische und semantisch analytische Philosophie konvergierten. Riedel legt großen Wert darauf, dass die philosophischen Probleme nicht auf Sprachprobleme reduzierbar sind.

Unverkennbar ist Riedel den vier kantischen Fragen: ‚Was können wir wissen?‘ – ‚Was sollen wir tun?‘ – ‚Was dürfen wir hoffen?‘ – und der dahinter liegenden nach der „Bestimmung des Menschen“ verpflichtet, und nicht minder der auf Aristoteles zurückgehenden Tektonik von Theoretischer Philosophie als dem Wissen um des Wissens und Praktischer Philosophie als Wissen um des Handelns willen. Sein Ansatz ist aber eigenständig; einem Primat Praktischer Philosophie verbunden, vor deren Horizont der spekulative Fragezusammenhang sich entfalten wird. Die Nähe zu Heidegger deutet sich an. Doch Riedel folgt ihm nicht in seinem Diktum vom Ende der Philosophie und einem ‚anderen‘, anfänglichen Denken. Er hält vielmehr das große europäische Denkgespräch offen in einer souveränen Verbindung des sachgemäßen und damit systematischen Denkens und der Kenntnis der Philosophiegeschichte. Aktuell ist diese Hinführung nicht zuletzt in einer Zeit, in der beides auseinanderfällt. Riedel meidet jedes Pathos. Seine Sprache ist sachbezogen und zutiefst human. Wie könnte man besser die Lebensbedeutsamkeit der Philosophie und ihre Suche nach Sinnklarheit sichtbar machen?

Harald Seubert

Basel, München, Nürnberg, im März 2015 [<<9]

Einleitung

von Manfred Riedel

Diese Vorlesung führt nicht in die Philosophie ein, sie soll zur Philosophie hinführen. Der Titel müsste genauer heißen: Hinführung zu den Grundfragen der Philosophie. Denn die Philosophie ist kein Fach wie andere Fächer, in die man jemanden „einführt“, indem man ihn mit den Grundlagen, den Arbeitsweisen, den in Lehrbüchern festgehaltenen Ergebnissen des betreffenden Faches vertraut macht. Denken Sie etwa an eine Einführungsvorlesung in die Geschichtswissenschaft, in die politische Wissenschaft, in die Sozialpsychologie oder an die Einführungskurse in die verschiedenen Gebiete der Medizin, der Chemie, der Physik usw. „Einführen“ heißt: Jemanden mit etwas vertraut machen, was ein anderer weiß. Ich führe jemanden in eine Gesellschaft ein, das will sagen: Ich mache ihn mit den mir bekannten Personen der betreffenden Gesellschaft vertraut, ich stelle ihn vor. Ich führe in ein Fach ein, das will dann sagen: Als Fachmann mache ich jemanden, der mit dem Fach noch nicht vertraut ist, mit den fachlichen Grundlagen, dem Gegenstand der betreffenden Wissenschaft, den allgemein anerkannten und bewährten Methoden, den Arbeitsweisen und Arbeitszielen vertraut, ich stelle das Fach vor. Lässt sich das, was Philosophie heißt, vorstellen – so vorstellen, wie wir Personen oder Sachen präsentieren? Ist sie ein Fach unter Fächern, deren Methoden und Ergebnisse bekannt und allgemein anerkannt sind? Das ist offensichtlich nicht der Fall. Die Philosophie hat weder einen bestimmten Gegenstand noch eine bestimmte Methode oder ein bestimmtes Ziel, auf das alle Philosophen verpflichtet sind. Sie bleibt ein Fragen, das über jedes Ergebnis schon hinweggesprungen ist. Sie ist, so scheint es, überhaupt keine Wissenschaft. Wenn sich das so verhält, dann erhebt sich gleich zu Anfang die Frage: Was ist das – die Philosophie? Wenn sie nicht, wie andere [<<11] Fächer, einen bestimmten Gegenstand, bestimmte Methoden und ein bestimmtes Ziel hat, was ist dann ihre Sache?

Die Möglichkeit einer Antwort auf die Wozu-Frage scheint mir aus sachlichen Gründen begrenzt zu sein. Das folgt gewissermaßen aus der Grammatik der Frage, die zuerst der Klärung bedarf. Jede Frage motiviert sich durch eine bestimmte Fragesituation und enthält implizit Voraussetzungen, die ihrerseits bestimmte Antworten implizieren. Wozu-Fragen sind uns aus dem Alltagsleben vertraut. Sie werden gewöhnlich damit beantwortet, dass man entweder den Zweck von etwas angibt, was man tut, oder das Tun als Mittel versteht, um einen Zweck zu erreichen. Wir wollen diese Art von Fragen teleologische Fragen nennen. Danach ist Philosophieren ein Handeln, das grundsätzlich durch Vorerwartungen seiner Relevanz und unter Benutzung dieser Erwartung als Bedingung oder Mittel für rational erstrebte Zwecke oder Zweckzusammenhänge bestimmt ist.

Teleologische Fragen und Vorerwartungen einer Zweck-Mittel-Rationalität gibt es nicht erst seit heute. Wir begegnen ihnen im ältesten Anfang der Philosophie. Nach der Legende soll Thales, der zuerst hinter dem Wechsel des Vielen Einheit gewahrt und diese ins Wasser gesetzt hatte, statt Wasser zu schöpfen, in den Brunnen gefallen sein. Thales war Geometer und Astronom, der alles, was in den Tiefen der Erde und in der Höhe des Himmels ist, gemessen und dabei das Nächstliegende übersehen hat. Um Thales’ Gestalt rankt sich jedoch neben der Geschichte vom Brunnenfall und dem daran anschließenden Gelächter der Wasser holenden Magd eine weitere Legende: Er soll, von Bürgern seiner Vaterstadt mit der Nachrede provoziert, seine Armut beweise die Praxisferne der Philosophie, unter zweckrationaler Einsetzung astronomischer und ökonomischer Daten eine gute Olivenernte vorausgesehen, alle Ölpressen in Milet gemietet und durch Weitervermietung in der Erntezeit ein schwerreicher Mann geworden sein. Aristoteles, der diese Geschichte erzählt, fügt hinzu: Thales habe damit gezeigt, wie leicht den Philosophen der Gegenbeweis fällt, dass dies aber eben nicht Sache der Philosophie sei (Politik I 11, 1259a 5–8). Dies ist eine frühe Apologie – eine Verteidigung der Philosophie gegenüber der Ignoranz der Welt. Mit seiner großen ‚Apologie‘ wird Sokrates sich gegenüber der Bürgerschaft von Athen als Philosoph erweisen. [<<12]

Apologien dieser Art entspringen Fragen, die dem Philosophieren von außen gestellt und nach außen hin beantwortet werden. Wir könnten hier auch von pragmatischen Fragen sprechen. Obwohl sie seinen Gang von Anbeginn begleiten, treten sie innerhalb der Philosophie erst dann auf, wenn sie ihre Sache verfehlt oder sich zum Schuldogma verfestigt haben. In unserem Kulturkreis – die asiatischen Hochkulturen kennen ähnliche Erscheinungen – geschieht dies in den spätantiken Philosophenzirkeln, die das Christentum auflöst, in der Schulphilosophie der frühen Neuzeit, die sich dem geschichtlich neuartigen Typ der Erfahrungswissenschaften verschließt, und schließlich – mutatis mutandis – nach der spekulativen Erschöpfung der antik-christlichen Lehrtradition in Hegels Philosophie. Was das „Ziel“ und der „Zweck“ der Philosophie sei, – dies ist die Frage der griechisch-römischen Denker von Epikur bis Seneca an Platon und Aristoteles, der Märtyrer und Väter des frühen Christentums von Justin bis Augustin an die antiken Philosophenschulen, von Galilei und Bacon an die Scholastik, von Marx an Hegel, von Wittgenstein an Russel. Und die Antwort lautet: das Wohl der Seele, die Eudämonie des Einzelnen statt bloßer Theorie (so bei Epikur), der Glaube statt eudämonistischer Seelentechnik (so bei Augustin), Beherrschung der Natur statt bloßer Glaubenslehre (so bei Bacon), Weltveränderung statt Interpretation der Welt.

Mit der Hegel-Kritik von Marx wechselt freilich die Grammatik der Wozu-Frage den semantischen Kontext. Aus der 11. These über Feuerbach – „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“ – hat Marx bekanntlich weiter gefolgert, dass Philosophie als universalhermeneutische Vernunftinterpretation im Sinne Hegels abgeschlossen und vollendet, ihr Anspruch einer vernünftig geordneten Welt aber erst noch praktisch zu verwirklichen sei. Weltveränderung, der Zweck von Wissenschaft und Industrie, setzt nicht mehr philosophische Theorie, sondern revolutionäre Politik und Sozialwissenschaft – die Kritik der politischen Ökonomie – voraus.

Marx’ Folgerung ist, makrohistorisch gesehen, eine Variante des ursprünglich positivistischen Geschichts- und Wissenschaftsbegriffs, wonach Philosophie den Mythos ablöst, bis sie ihrerseits durch Wissenschaft überwunden wird. Dem folgt Auguste Comtes Dreistadienlehre [<<13] mit der Aufeinanderfolge von mythischem – metaphysischem (also philosophischem) – und wissenschaftlichem Denken. Positivistische wie dialektische Geschichtsphilosophie – auf die Unterschiede gehe ich nicht näher ein – sind dabei nicht nur an pragmatischen Zweckbegriffen, sondern am Begriff von einem Endzweck im Sinne eines „Äußersten“ und „Letzten“ orientiert. Indem sie behaupten, dass Philosophie im Anderen der Wissenschaft und der ihr zugehörigen Gesellschaft sich aufhebt, verkünden sie das zeitliche Ende der Philosophie. Ihr Ende, so erläutert der späte Martin Heidegger, ein Denker, der sich selbst nicht mehr als Philosoph versteht, „zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung. Ende der Philosophie heißt: Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation.“1

 

Wir untersuchen zunächst nicht den sachlichen Kern dieser historischen Aussage, sondern fragen: Was ist eigentlich sprachlich gemeint, wenn von einer Sache behauptet wird, sie gehe zu Ende? In der Umgangssprache heißt „Ende“ nicht nur so viel wie „Aufhören“ und „Verschwinden“, sondern „Ort“. Von einem Ende zum anderen gehen heißt: der Gang von einem Ort zum andern. Wer von einem Ende der Stadt zum anderen geht, bleibt damit noch innerhalb derselben Stadt, wer in fremde Länder reist, verlässt damit noch nicht den Erdball. Obwohl sich auch Heidegger auf diesen Sprachgebrauch ausdrücklich bezieht, spricht er dem Wort „Ende“ im Sinne von „Ort“ eine andere („a-topische“) Bedeutung zu. Die Rede vom „Ende der Philosophie“ bezeichnet nach Heidegger einen „letzten Ort“, nämlich „dasjenige, worin sich das Ganze ihrer Geschichte in seine äußerste Möglichkeit versammelt“, die „Vollendung“ der Philosophie durch „Aufhebung“ in einem Anderen ihrer selbst. Wir können hier von einer dysteleologischen Bedeutung sprechen. In diesem Kontext – und nur in ihm – gewinnt die teleologische Frage die durch Enderwartung verschärfte Fassung: wozu noch Philosophie? [<<14]

Es ist die Frage, die während der Sechzigerjahre neben dem Denker der Seinsgeschichte vor allem die kritische Theorie, das Denken von Adorno und danach von Habermas in Bewegung gehalten hat. Wer so fragt, setzt den Satz vom „Ende der Philosophie“ voraus; er geht davon aus, dass im Zeitalter der Wissenschaft und Industrie die Zeit des Philosophierens abgelaufen und vorbei ist. Philosophie, so heißt es dialektisch-negativ beim späten Adorno, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Die Philosophie, sagt Heidegger, endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschen gefunden. Die parallelen Antworten der Antipoden deutscher Nachkriegsphilosophie überschneiden sich im Verzicht auf apologetische Rede. Sie gebrauchen dafür Sprechweisen der Eschatologie. Lässt sich, was Philosophie ist, in einem Augenblick verwirklichen?

„Eschatologie“ ist nach theologischem Sprachgebrauch die Lehre von den „letzten Dingen“ – von der großen Katastrophe, die, wenn sie „radikal“ oder die „letzte“ ist, Philosophie mit einschließt. Gott hält Gericht über seine Geschöpfe. Die Schöpfung wird zertrümmert, ein neuer Himmel, eine neue Erde geschaffen. Die Katastrophe ist die Vorstufe zum Heil. Auch die Philosophie ist eine Lehre von den letzten Dingen, nämlich die theoretische Beschäftigung mit den letztlich grundlegenden Dingen, die dem Menschen zu wissen möglich sind. Aber die These der Philosophie lautet: Von diesem Wissen müssen wir uns theoretisch Rechenschaft geben können, wir müssen den Grund seiner Möglichkeit untersuchen. Die Rede vom „Letzten“ ist Denkern, wenn sie nur radikal genug, das heißt Philosophen sind, die diesen Namen verdienen, nicht fremd. Radikale mögen, frei nach Marx, Leute heißen, die eine Sache an der Wurzel fassen, und die Wurzel – das ist für Philosophen die Möglichkeit des Begreifens, „der Begriff“. Philosophisch radikal sein heißt, jede Behauptung, eschatologische Rede nicht ausgenommen, auf ihre Begreiflichkeit hin überprüfen. Zu fragen wäre demnach: Wie kann man es wissen, dass Philosophie mit dem Übergang zur Moderne untergeht? Oder anders ausgedrückt: Wie ist eine Geschichte a priori möglich? Wenn ich es richtig sehe: durch Geschichtsphilosophie, indem man eine selber philosophische These aufstellt, die These vom Ende der Philosophie, [<<15] oder das Diktum Adornos, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch. Was besagt aber diese These? Oder mit Kant weitergefragt: Was will man hier eigentlich wissen, wenn man das zeitliche Ende der Philosophie prophezeit? Offensichtlich genügt es nicht zu wissen, ob diese oder jene Zeit des Philosophierens abgeschlossen und vollendet, dass Philosophie in ein „Anderes“ ihrer selbst umgeschlagen ist. Wir wollen wissen, ob es zum Begriff der Philosophie gehört, je in der Zeit zu enden oder sich in anderer Gestalt, in Wissenschaft und Technik, in Kunst, Religion und Politik zu erfüllen.

Fragen vom Typ: „Was ist Philosophie?“ sind zweideutig. Sie können einmal besagen: Welche Klasse von Personen bzw. Sätzen benennt das Wort „Philosophie“ – eine wiederum zweideutige Frage, die zweierlei meinen kann; 1. wie es traditionell gebraucht wird, etwa bei Platon oder Kant, bei Heidegger oder Popper, deren Wortgebrauch wir untersuchen und begriffsgeschichtlich vergleichen müssten; 2. kann die Frage meinen, welchen Wortgebrauch wir selbst vorschlagen, und das ist zuletzt eine Definitionsfrage, eine Frage der Festsetzung, die uns erlaubt, „Philosophie“ als „Wissenschaftstheorie“ zu definieren. Aber mit gleichem Recht kann dann der Wissenschaftstheoretiker behaupten: Alles dasjenige, was nicht Theorie der Wissenschaft sei, ist „Mystik“ oder Begriffsdichtung oder Okkultismus. Gleichzeitig weist die Was-ist-Frage über rein terminologische Festsetzungen wie über Begriffsgeschichten hinaus. Wenn wir etwa fragen, was die Zeit oder was der Mensch ist, dann wollen wir nicht wissen, was das Wort „Zeit“ und das Wort „Mensch“ heißt; wir verlangen vielmehr nach Sachkenntnis. Wer so fragt, will also etwas über die Sache wissen, mit der es der Philosophierende zu tun hat. Die These dieser Vorlesung lautet: Die Sache der Philosophie, das sind nicht irgendwelche vorstellbaren Gegenstände, keine Ergebnisse, sondern Aporien, – die Aporien, in die wir geraten, wenn wir die letztlich grundlegenden Fragen stellen, danach, was die Zeit ist oder wer wir selbst sind, die wir in der Zeit leben, einen Anfang und ein Ende haben. „Aporie“, ein griechischer Ausdruck für „Not“ und „Mangel“, bedeutet vorphilosophisch die Bedrängnis desjenigen, der unterwegs ist, die Not eines Reisenden, dem auf der Fahrt durch schwieriges Gelände plötzlich der Weg versperrt ist, daneben auch die Notlage desjenigen, [<<16] der bei der Verteilung von Gütern ausgeschlossen wird oder sonst in irgendeiner Weise zu kurz kommt. In dem Sinn, in dem wir hier das Wort zur Bezeichnung der Sache der Philosophie verwenden wollen, bedeutet „Aporie“ zweierlei: erstens die Verlegenheit, die uns dann überfällt, wenn wir nach den letztlich grundlegenden Dingen fragen, wenn wir an eine Grenze treffen, an der wir nicht weiterkommen, und zweitens den Inbegriff der logischen und hermeneutischen Schwierigkeiten, die uns bei der theoretischen Beschäftigung mit den letztlich grundlegenden Dingen erwachsen, insbesondere dann, wenn die Schwierigkeiten nicht nur als die Erfahrung der Grenze, sondern in der Form des Widerspruchs auftreten. In diesem Falle sprechen wir auch von „Antinomie“. Philosophie, so wollen wir als Erstes festhalten, ist keine Lehre, kein lehr- und lernbarer Bestand von Sätzen und Methoden, sondern die Tätigkeit des Philosophierens. Philosophieren – was immer das heißen mag – ist zunächst und zuerst Fragen-Können, und zwar radikales, an die Wurzel gehendes Fragen.

Hier geschieht etwas sehr Merkwürdiges, nämlich dies, dass sich die Aporie im Doppelsinn der Verlegenheit und logisch-hermeneutischen Schwierigkeit wie von selbst einstellt. Wir brauchen sie nicht zu suchen, sie ist immer schon da, nur wissen wir das nicht, solange wir nicht philosophieren. Ich verdeutliche das an einem Text von Augustin, der den Begriff der Zeit erörtert – radikal, nämlich im Ausgang von einer an den Gottesbegriff der christlichen Theologie gerichteten Frage: Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf?2

Das Wissen des Nicht-Wissens in der Bewegung des radikalen Fragens, dass wir auf einmal nicht mehr wissen, was das Wort „Zeit“ bedeutet, dies und nichts anderes, so behaupte ich, ist der Anfang des Philosophierens. Wer philosophiert, ist von dem, was er zu wissen meint, nicht mehr eingenommen. Er findet, was er meint, fragwürdig und setzt das Meinen der Frage aus. Sich der Fraglichkeit einer Meinung öffnen und unvoreingenommen weiterfragen zu können, das ist der Weg zur Philosophie. [<<17]

Philosophie, mit dieser Behauptung möchte ich die Vorüberlegungen abschließen, ist der Versuch einer Antwort auf radikales Fragen, das uns zuletzt vor die grundlegenden Dinge, die Grundfragen unseres Lebens führt. Wie lauten diese Grundfragen? Wenn wir uns dazu in der Philosophie der Gegenwart umsehen, so kommen wir wohl ebenfalls in eine Art von Verlegenheit. Die Grundfrage der Philosophie, so sagen die Anhänger der Dialektik, des dialektisch-historischen Materialismus, ist die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein. Was ist das Ursprüngliche: der Geist oder die Natur, theologisch variiert: Hat Gott die Welt erschaffen oder ist die Welt von Ewigkeit da? Und je nach dem, auf welche Seite sich eine Philosophie schlägt, ist sie entweder idealistisch oder materialistisch, es gibt nicht eine Philosophie, sondern grundsätzlich und notwendig zwei Philosophien3 (vgl. F. Engels, L. Feuerbach, 1888, Ww 21). Die Anhänger der Hermeneutik sehen hierin gar keine radikale, keine ursprünglich gefragte Frage. Weil diese Fragestellung die geschichtliche Motivation des philosophischen Fragens überspringt, bringt sie immer schon die Eingenommenheit von einer Meinung, den Dogmatismus einer abgeleiteten, sekundären Antwort ins Spiel. Die Philosophie, so entgegnet der Hermeneutiker, bezieht sich unmittelbar weder auf das Denken noch auf das Sein, sondern auf Sprache. Ihre Grundfrage ist das Verhältnis der Sprache, die wir sprechen, zum Text. Wie verhält sich das Gespräch, das wir sind, zur Tradition, aus der wir kommen? Philosophieren, sagt Hans-Georg Gadamer, heißt Wiedererkennen, nämlich so, dass es als Antwort auf eine Frage verstanden wird, die durch die Aussage des Textes erst geweckt wird.4 Die These, dass Philosophie nichts anderes als Wiedererkenntnis des Erkannten, die Hermeneutik von Texten, [<<19] sei, bringt ihrerseits einen Dogmatismus ins Spiel, nämlich die Eingenommenheit von der Tradition. Unter dieser Voraussetzung entfällt das radikal-ursprüngliche Fragen, da die hermeneutische Fragestellung abgeleitet oder sekundär ist: Sie richtet sich auf die Sprache der Texte und nicht auf die Sache, die infrage steht. Wenn dem so wäre, hätten die Analytiker, die Anhänger der dritten Position der Gegenwartsphilosophie, wahrscheinlich recht mit der These: Die Philosophie entspringt den Verhexungen unseres Verstandes durch die Sprache. Die meisten Sätze und Fragen, heißt es im ‚Tractatus logico-philosophicus‘, „welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen (sie sind von der Art der Frage, ob das Gute mehr oder weniger identisch sei als das Schöne). Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind.“5