Sepp Kerschbaumer

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Welche Schritte haben Sie unternommen gegen das asoziale Verhalten christlicher gutsituierter Unternehmer ihren Untergebenen und Nächsten gegenüber? Wieviel Gutes hätten Sie bereits auf sozialem Gebiete erreichen können, wenn Sie diesen christlichen Unternehmern richtig ins Gewissen geredet hätten, mit gutem Beispiel voranzugehen! Ich erinnere hier unter den vielen Fragen nur an das Wohnungsproblem. Und bei wievielen kinderlosen Ehen hätten Sie es erreichen können, daß sich diese armer, verlassener, elternloser Kinder annehmen! Und haben Sie schließlich Ihr Möglichstes getan, daß die Jugend nach dem alt-tirolerischen Grundsatze „Glaube und Heimat“ erzogen wird? Wie wäre es, wenn Sie sich diesbezüglich in Zukunft eingehender für die Vorgänge im „Rainerum“ usw. interessieren würden? Sie können überzeugt sein, daß Sie bei diesen hohen Aufgaben genug beherzte Männer und Frauen in unserem Volke finden würden, die Sie dabei gern und freudig unterstützten!

Aber fragen Sie nun Ihr Gewissen: Stimmt es oder stimmt es nicht, daß Sie es vorgezogen haben, von der religiösen auf die politische Ebene hinüberzuwechseln? Sind Sie nicht selbst entsetzt über die Verwirrung, die Sie auf religiösem und politischem Gebiete unter unserem Volke angerichtet haben? Wenn nicht, dann fragen Sie beim Stadt- und Landvolk herum, welchen Eindruck Ihre sonderbare politische Tätigkeit hinterlassen hat. Und ist es Ihnen wirklich gleichgültig, daß sich in unserem Volke ein immer größeres Mißtrauen gegen Sie breitmacht? Man weiß wirklich nicht, worüber man sich mehr wundern soll, über Ihre verwerfliche Methode, politische Gegner zu erledigen, oder über die von Ihnen betriebene „Fraternisierungspolitik“, die unser Volk unweigerlich ins Verderben führen wird in religiöser und völkischer Hinsicht.

Im Mitteilungsblatt der katholischen Bewegung „Der Weg“ haben Sie vor den Wahlen in einem Artikel: „Unsere Besorgnisse zur gegenwärtigen Lage“ geschrieben, in unserem Lande sei es leider so, daß manche Südtiroler, statt auf ihre echte Eigenständigkeit zu bauen, sich viel zu viel beeinflussen lassen und – vielleicht ohne es selbst klar zu erkennen – zu Befehlsempfängern von Ausländern sich herabwürdigen zu lassen, die nie und nimmer das richtige Verständnis für unsere Lage aufbringen werden. Es sei wenig erfreulich und angenehm, so fährt „Der Weg“ fort, diese Gefahr feststellen zu müssen, aber man kann sich bei dieser Lage der Dinge nicht wundern, daß man jetzt bei aufrichtigen Südtirolern, die eingeweiht sind, den Ruf hört: Südtirol den Südtirolern, und nicht denen, die erst seit einigen Jahren oder gar erst seit einigen Monaten aus dem Auslande kommend, sich hier in Südtirol häuslich niedergelassen haben. Mit diesen Worten hat „Der Weg“ wirklich ins Schwarze getroffen! Denn es ist bereits ein offenes Geheimnis, daß die Politik der K. B. von hier in Südtirol lebenden Ausländern gemacht wird. Und von hier aus und vom Einfluß der von Zallinger gepredigten Südtirolerpolitik erklärt sich alles politische Unheil, welches von einem Teil der Führung der K. B. in Südtirol angerichtet worden ist.

Überschauen wir nun kurz, welche Politik in der letzten Zeit von der K. B. verfolgt wurde! Hier möchte ich sofort vorausschicken, daß niemand in Südtirol den katholischen Verbänden das Recht absprechen wird, auch im politischen Leben ein gewichtiges Wort mitreden zu dürfen. Aber wie wollen Sie es erklären, dass Sie vor einigen Jahren selbst immer behaupteten, die Politik sei nicht Ihre Hauptaufgabe und daß gerade die Politik nun auf einmal nur mehr zu Ihrer Sache geworden ist? Und in wieviele Widersprüche haben Sie sich nur in der letzten Zeit bei Ihrem politischen Handeln verstrickt! Bleiben wir beim krassesten Fall: Es war vor einigen Monaten. Die K. B. hatte sich vorbehaltlos mit den angegriffenen Senatoren und Abgeordneten „solidarisch“ erklärt. Dr. v. Guggenberg wird sich heute noch darüber wundern, daß diese von den katholischen Organisationen feierlich abgegebene „geschlossene Solidaritätserklärung“ kaum für einen Monat Gültigkeit hatte. Dann ließ man Dr. Guggenberg ohne ein Wort der Rechtfertigung fallen und stellte sich mit einer neuerlichen „Solidaritätserklärung“ geschlossen hinter drei neue Kandidaten.

In engster Zusammenarbeit mit den italienischen Lokalzeitungen wetteiferte man in der Verleumdung einzelner Südtiroler Politiker und es mußte jeden Südtiroler bedenklich stimmen, dass die italienische Presse sich so geschlossen hinter die katholischen Organisationen stellte. Diesmal war es ausgerechnet die K. B., die für die italienische Südtirolerpolitik den „utile idiota“ spielte. Ja, die K. B. kam den Italienern dabei so weit entgegen, daß sie die plumpesten Verleumdungsschlager der italienischen Nationalisten für ihre Zwecke ausgrub und das Südtiroler Volk zu verkappten Nazis, Kommunisten und christenfeindlichen Nationalisten stempelte, das noch immer nicht begreifen will, daß es die bestbehandelte Minderheit der Welt sei und Rufe wie „Los von Trient!“ oder gar „Selbstbestimmung“ und „Volksabstimmung“ erhebe. Und die Stimme der K. B. „Der Weg“ wunderte sich darüber, dass das Südtiroler Volk nicht schon längst feierlich die von „Gott gewollte Grenze am Brenner“ anerkannt habe!

Aber diese sonderbaren Gedanken, die uns „Der Weg“ ans Herz legt, sind uns bereits bestens bekannt von einem abtrünnigen, von den Italienern gekauften Südtiroler her, von Dr. Bernhard Zallinger und dessen Buch „Die Grundlagen der Südtiroler Politik“.

Kein Geringerer als Kanonikus Gamper, der „Mann von Südtirol“, hat schärfstens dagegen Stellung bezogen und ist nie müde geworden, unser Volk vor dieser von Zallinger propagierten „realistischen Befriedungspolitik“ eindringlich zu warnen. Auch Zallinger hat bereits gesagt: „Seid ihr wahnsinnig geworden, dass ihr die Grenzfrage wieder aufrollen wollt?“ Und auch er findet es „unverantwortlich, in der Bevölkerung eine Unzufriedenheit zu wecken und zu steigern, nur weil Südtirols Sonderrechte umkämpft und vielleicht bedroht sind“. Ebenso mutet Zallinger den Südtirolern zu, mit den Kommunisten gemeinsame Sache gegen Italien und den Westen zu machen, und er fordert schließlich unser Volk zur Selbstaufgabe auf.

Wehe, wenn wir Zallingers Ratschläge gefolgt und die Warnungen des Kanonikus Gamper in den Wind geschlagen hätten! Und wehe unserem Volke, wenn es sich politisch von der gegenwärtigen Führung der K. B., die sich an die Richtlinien Zallingers und von Ausländern hält, weiterhin führen lässt! Wenn bei diesem verwerflichen Treiben wenigstens das geistliche Oberhaupt aus dem Spiele gelassen worden wäre!

Als tief überzeugter Katholik und Tiroler muß ich Ihnen sagen, daß Sie mit Ihrer gegenwärtigen Handlungsweise unser Volk nicht nur um die Heimat bringen werden, sondern daß dadurch viele unseres Volkes, was noch viel schlimmer ist, in ihrem Glauben wankend gemacht werden! Mit Ihrem Vorgehen haben Sie sich ganz offen auf die Seite des Unrechtes gestellt. Denn Sie wissen genau, daß unserem Volke von italienischer Seite schwerstes Unrecht widerfahren ist. Und Unrecht verjährt nicht. Daher stellt sich jeder, der die Italiener in diesem Unrecht bestärkt und unterstützt, ebenfalls auf die Seite des Unrechts, das heißt, er handelt gegen die christlichen Grundsätze! Gegen die christlichen Grundsätze handelt z. B. der KVW, wenn er mit der ACLI zusammenarbeitet mit dem Ziel, unsere Heimat immer fester an Italien zu fesseln. Denn dadurch heißen sie indirekt das unserem Volke angetane Unrecht gut, statt dass sie nicht müde würden, dieses himmelschreiende Unrecht unermüdlich vor der Weltöffentlichkeit anzuprangern und eine Wiedergutmachung zu fordern.

In diesem Punkte möchte ich nicht nur die dafür verantwortlichen Männer der Organisationen, sondern jeden Priester und jede geistliche Obrigkeit fragen:

1.ob sie mit diesem Unrecht gegen unser Volk und gegen das christliche Sittengesetz einverstanden sind? Ich kann es einfach nicht glauben!

2.ob sie es vor dem Herrgott und vor unserem Volke verantworten können, durch ein passives Verhalten oder gar durch eine Zusammenarbeit mit den Feinden unseres Volkes an diesem großen Unrecht mitschuldig zu werden?

Am meisten zu denken müßte die Tatsache geben, daß hier das göttliche Gesetz von Recht und Gerechtigkeit in Frage gestellt ist. Ich appelliere daher an Ihr christliches und völkisches Gewissen: Schlagen Sie einen anderen „Weg“ ein, und kehren Sie von der politischen zur religiösen Ebene zurück! Besinnen Sie sich dabei Ihrer zahlreichen religiösen und völkischen Aufgaben! Diese bestehen auf der einen Seite darin, dafür zu sorgen, daß unser Volk nicht auch eine Beute des immer mehr um sich greifenden Irr- und Unglaubens wird. Und auf der anderen Seite immer und überall bereit zu sein, mutig und kompromißlos, für die natürlichen und verbrieften Rechte unsres Volkes einzutreten. Sie machen es sich dabei zu leicht, wenn alles, was nicht in das Konzept ihrer Organisationen paßt, mit dem Schlagwort „Radikalismus“ und dergleichen abgetan wird.

Wenn Sie ein bißchen echte Heimatliebe und religiöses wie menschliches Gerechtigkeitsgefühl in sich haben, dann denken Sie an unsere Kinder, an die junge Generation Südtirols. Das Land Tirol hat in seiner wechselvollen Geschichte schon zahlreiche Prüfungen erlebt. Es hat sie bisher alle mit der Hilfe von Oben bestanden. Noch nie sind so zahlreiche Versuche zur Verirrung und Spaltung unseres Volkes unternommen worden, wie in den vergangenen 40 Jahren. Sie alle sind aber bis jetzt mißglückt. Gott sei Dank! Der gefährliche Spaltungsversuch ist dieses Mal leider von einer Seite her unternommen worden, von der aus unser Volk es am wenigsten erwartet hätte: von den katholischen Organisationen. Aber es steht in der Heiligen Schrift: „In jenen Tagen … werden viele … irre werden … falsche Propheten werden auftreten, die, wenn es möglich wäre, selbst die Auserwählten noch irreführen würden …“ Diese Worte sind zwar für eine andere Zeit. Aber wir dürfen sie wohl auch für die Nöte unseres Landes in Beziehung bringen und in diesem Sinne schließe ich meine Ausführungen mit der Bitte an unseren Herrn, er möge die Tage auch dieser unserer Drangsal abkürzen.

 

Sepp Kerschbaumer, Frangart, den 26. Juni 1958

Berechtigte Skepsis über den Ausgang der österreichischen-italienischen Gespräche: Wird es dieses Jahr gelingen?

Es waren harte Wahrheiten, die Sepp Kerschbaumer den Männern der katholischen Vereine vorhielt. Er scheute übrigens auch nicht die persönlich Konfrontation. Mit Direktor Fuchs ging er in einem Gespräch das Schreiben Satz für Satz durch.

Er gestand dabei einem Verein durchaus das Recht zu, einen Kandidaten für die Wahl zu empfehlen, der dann dessen Anliegen in Rom vertrete. Aber er akzeptierte nicht, dass das Gesamtresultat einer Parlamentswahl vom Gutdünken einiger Organisationen abhing. Wäre dem so, dann könnte die SVP in Zukunft die Wahlen einfach der Brixner Kurie und den katholischen Vorfeldorganisationen überlassen.

Enttäuscht wurden allerdings jene, die sich nun ein Abgehen der SVP vom Los von Trient erhofft hatten. Die politische Lage war so, dass ein Abweichen von dieser Linie schwer möglich war. Enttäuscht wurden auch jene politischen Auguren, die für die SVP-Landesversammlung am 12. Juli 1958 ein Messerwetzen und eine Schlammschlacht voraussagten. Der Alto Adige wusste später zu berichten, dass man bei diesem Kongress mit einer energischen Aktion des BAS gerechnet habe.94 Wer auch immer dieser „man“ war, seine Voraussage erfüllte sich nicht. Kerschbaumer meldete sich überhaupt nicht zu Wort. Luis Amplatz ermahnte lediglich die SVP, an der Forderung von Sigmundskron festzuhalten. Und nur zwei Redner erwähnten die Vorgänge um die Parlamentswahl: Der SVP-Ortsobmann von Nals, Peter Kollmann, und der Gemeindearzt von Auer, Max von Röggla. Kollmann verwies auf die Tatsache, „daß in letzter Zeit alle möglichen Vereine, die sich unpolitisch bezeichneten, versucht haben, die Tätigkeit bzw. die Entscheidungen der Partei zu beeinflussen“.95 Ihm pflichtete Röggla bei, der sich zudem „scharf gegen eine gewisse Verleumdungskampagne wandte“.96 Magnago hielt fest, dass die Politik in Südtirol ausschließlich von der SVP gemacht werden müsse, solange sie allein das Mandat von der Bevölkerung habe.

Eine Fahnengeschichte mit Folgen

Was hat Sepp Kerschbaumer in seinem Rundschreiben vom 28. Juni 1958 mit dem „10tägigen Urlaub“ gemeint? Einen Urlaub im wahren Sinne des Wortes hat es für ihn in diesen Jahren nie gegeben. Er führte ein Leben ohne Rast und ohne Ruh. Worauf er anspielte, war eine Fahnengeschichte, die ihm zehn Tage Arrest eingebracht hatte. Die „10 Tage Urlaub“ waren also zehn Tage Gefängnisaufenthalt.

Das Hissen der Tiroler Fahne zum Andreas-Hofer-Tag oder zum Herz-Jesu-Sonntag war ein Akt der Selbstbehauptung. Allerdings ein Akt, der verboten war. Was nicht erlaubt war, musste dann halt unerlaubterweise geschehen. Vor solchen Feiertagen ließ Sepp Kerschbaumer Dutzende Tiroler Fahnen nähen. Für den Ankauf von Fahnenstoffen soll er große Summen ausgegeben haben. Die Fahnen wurden dann von seinen Getreuen im Schutz der Dunkelheit auf Hochspannungsmasten oder auf hohen Bäumen angebracht. Tiroler Fahnen wirkten damals aber auf die Ordnungshüter wie das rote Tuch auf den Stier. Wo sie eine erblickten, machten sie sich auf den Weg und holten sie herunter. Eigentlich hatte Kerschbaumer jahrelang gehofft, dass das Problem der Landesfahne grundsätzlich geregelt werde, und zwar so, „daß wir diese in unserer angestammten Heimat wieder ganz ungehindert und frei von jeder diskriminierenden Einschränkung hissen dürfen“, wie er einmal an Magnago schrieb.97 Sepp Kerschbaumer wollte es aber auf die Dauer nicht hinnehmen, dass die Tiroler Fahne nur bei Nacht und Nebel gehisst werden könne. Wenn, so seine Meinung, die verschiedenen Regionen Italiens ihre Fahne bei feierlichen Anlässen „mit Fug und Recht stolz zeigen“ durften, so musste es auch in Südtirol erlaubt sein, die Landesfahne zu hissen. Er wollte es darauf ankommen lassen. Ihm ist, wie er im oben erwähnten Brief an Magnago schrieb, „eines Tages die Geduld ausgegangen“. Und so dachte er sich: „Probier’s einmal, bin neugierig, was die Herren Italiener dazu für eine Miene machen werden.“98 Am Vorabend zum Andreas-Hofer-Tag von 1957 informierte er einen Dolomiten-Redakteur über sein Vorhaben. Der Athesia-Mitarbeiter Franz Berger begab sich am 20. Februar 1957 zeitig nach Frangart und versteckte sich im Kirchturm. In aller Ruhe brachte unterdessen Sepp Kerschbaumer vor der Kirche „zwei schöne rot-weiße Tiroler Fahnen und das Bildnis des Freiheitshelden Andreas Hofer“ an.99 Es dauerte nicht lange, und es erschienen die Hüter der Ordnung, zogen die Fahnen ein und hießen Kerschbaumer in die Kaserne von Eppan kommen. Dort musste er Rede und Antwort stehen und ein Protokoll unterschreiben. Dann konnte er nach Hause gehen. Die Carabinieri erstatteten Anzeige bei Gericht. Und damit wurde die Fahnengeschichte von Frangart ein Fall für die Justiz. Die Justiz hatte mit dem Fall aber offensichtlich keine rechte Freude und schob ihn vor sich her. Ihr Problem lag darin, dass es kein Gesetz gab, das das Hissen der Tiroler Fahne verbot. Sie musste irgendeinen Vorwand erfinden, um ein Urteil fällen zu können. Vermutlich war es Kerschbaumer selbst, der seinen Fall erneut ins Rollen brachte. Er hängte nämlich am Herz-Jesu-Sonntag erneut in Frangart die Fahne aus. Jetzt machte die Justiz Ernst. Am 5. Juli 1957 verurteilte ihn das Tribunal in Bozen zu zehn Tagen Arrest, bedingt und ohne Eintragung ins Strafregister. Sein Anwalt Hermann Nicolussi-Leck legte gegen das Urteil sofort Berufung ein. Wegen der zweiten Fahnenhissung wurde er am 8. August 1957 vom Bezirksrichter in Kaltern vorgeladen. Die Szene, die sich dabei abspielte, schilderte er Magnago:

Trotz Verbots hisste Sepp Kerschbaumer am Andreas-Hofer-Tag und am Herz-Jesu-Sonntag 1957 auf der Kirche von Frangart die Tiroler Fahne und setzte damit die Justizmaschine in Gang

Die Carabinieri entfernten die Fahne von der Frangarter Kirche und erstatten Anzeige bei Gericht

Bei dieser Gelegenheit konnte ich zu meiner Freude dem Aufruf der Partei vom 23. Juli d. J.100 endlich Folge leisten, indem ich, als mich der Richter aufforderte, das Protokoll zu unterschreiben, das auf Italienisch geschrieben war, mich weigerte, dies zu tun, wobei ich ihm wörtlich sagte: Ich glaube, ich habe das Recht zu verlangen, daß das Protokoll deutsch geschrieben wird, ansonsten unterschreibe ich es nicht, worauf mir der Richter sehr erregt zurief: Nein, Sie haben kein Recht, und gehen Sie, gehen Sie. Mit einem freundlichen Grüß Gott ging ich zur Tür hinaus und konnte ihn in seinem nationalen Zorn allein lassen.

Der Fahnenprozess vom 5. Juli 1957 erregte in Südtirol und bald auch in Nordtirol ziemliches Aufsehen. Sepp Kerschbaumer bekam mehrmals Besuch von Journalisten, unter anderem auch vom Innsbrucker Journalisten Wolfgang Pfaundler. Eine Begegnung, die noch ungeahnte Folgen haben sollte. Vorerst fand sie aber nur in einem Zeitungsartikel ihren Niederschlag. Von Wolfgang Pfaundler erschien wenig später im Innsbrucker Volksboten ein Artikel mit dem Titel Tiroler Fahne – ein gefährlicher „Fetzen“. Ein interessanter Prozess um die Landesfahne in Südtirol:

Am 20. Februar 1957, anläßlich des Jahrestages der Erschießung Andreas Hofers, wurden in Frangart-Eppan (Südtirol) ein Totenamt abgehalten und in Kirchennähe zwei weiß-rote Tiroler Fahnen gehißt. Diese Fahnen, welche der Kaufmann des Dorfes, Josef Kerschbaumer, hochzog, mußten auf Befehl der Polizeibehörden am gleichen Tag abgenommen werden, und der Karabinieri-Unteroffizier Alfonso Mattevi brachte den Täter zur Anzeige nach Art. 564 des italienischen Strafgesetzes „wegen aufhetzender Veranstaltung bzw. Äußerung“. Am Herz-Jesu-Sonntag brachte Kerschbaumer jedoch neuerdings an der gleichen Stelle zwei Tiroler Fahnen an.

Bisher erfolgten die zahlreichen Fahnenhissungen in Südtirol anonym, es gab meistens nur unbekannte Täter oder Freisprüche wegen Mangels an Beweisen. Kerschbaumer aber steht auf dem Standpunkt, daß er, „so wie es immer der Brauch war“, die Tiroler Fahne hissen will, wenn es die Tradition des Tages verlangt. „Wenn man in ganz Italien die rote Kommunistenfahne aufstecken darf“, sagte er, „die soviel Unglück in die Welt gebracht hat, werden wir wohl auch unsere Fahne hissen dürfen.“

Am 5. Juli 1957 fand vor dem Kreisgericht in Bozen die Strafverhandlung gegen Josef Kerschbaumer statt. Bei dieser Verhandlung gibt es zum ersten Mal einen „Täter“, der sich zu seiner Tat bekennt, deshalb kommt dem Urteilsspruch eine besondere Bedeutung zu.

Der Staatsanwalt Dr. Martin erklärte in seiner Anklage, daß man in der Aufziehung von Tiroler Fahnen eine „aufhetzende Kritik“ am italienischen Staate wie auch eine „Erregung der Staatsbürger italienischer Zunge“ feststellen müsse, so daß rechtlich der Tatbestand der „aufhetzenden Kundgebung“ im Handeln des Angeklagten gegeben sei.

Der Verteidiger Dr. Nicolussi warf dagegen ein, man könne in der Tat des Angeklagten keine Kritik am Staate finden, da die Fahnen Tirols anläßlich der Totenfeier des Freiheitshelden Andreas Hofer gehißt wurden, der niemals gegen Italien kämpfte. Es könnten sich bestenfalls die Anhänger Napoleons betroffen fühlen, aber niemals der italienische Staat. Andererseits könne die durch die Hissung der Tiroler Fahnen beim Staatsbürger italienischer Zunge angeblich hervorgerufene Erregung nicht als „aufhetzende Kundgebung“ erklärt werden, da es wohl keines Beweises bedarf, festzustellen, dass der Angeklagte nicht Italiener gegen den Staat aufhetzen wollte.

Sollte man aber die Tiroler Fahne als im italienischen Staatsgebiet verboten ansehen, so sei hiezu festzustellen, daß kein gesetzliches Verbot vorliege. Selbst im italienischen Regionalstatut ist der Name „Tiroler Etschland“ formalrechtlich erhalten, was allein schon beweist, daß man Südtirol den Namen nicht zur Gänze nahm und folglich ihm auch die Führung der Tiroler Fahne zubilligen müsse.

Im übrigen hätten alle Provinzen, Regionen und Städte Italiens ihre eigenen traditionellen Fahnen, die sie ungehindert hissen dürften. Keinem Polizeiorgan würde es jemals einfallen, z. B. das Lilienbanner der Medicäer in Florenz zu verbieten oder in der Hissung des Lilienbanners eine separatistische Kundgebung der Medicäer gegen die Integrität des Staates zu sehen. Was in Florenz billig sei, müsse folglich auch in Südtirol recht sein.

Kerschbaumer bat, daß die Verhandlung in deutscher Sprache geführt werde. Dieser Bitte wurde vom italienischen Gericht nicht entsprochen! Der Staatsanwalt sprach von den Tiroler Fahnen nur als „Stracci“, was etwa soviel wie „Fetzen“ bedeutet.101

You have finished the free preview. Would you like to read more?