Die vier Weltteile

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Konrad erwartete uns im benachbarten Saal wie an den Gestaden eines soeben von ihm entdeckten Eilands, und ich muss gestehen, dass ich ihn noch nie zuvor mit annähernd so stolzem Ausdruck in seinen Augen hinter den Brillengläsern gesehen hatte. Die Besorgnis, mit der er eben noch aus dem Saal, in den er als erster aus unserer Gruppe vorgedrungen war, herübergeschaut hatte, war jeder Menge triumphaler Euphorie gewichen.

»Der ist schon kaputt, ehe sie ihn fertig gebaut haben.«

Konrad zeigte auf ein Gemälde, das den Turmbau zu Babel darstellte und mir, da es zu den berühmtesten der Sammlung dieses Museums gehörte, recht gut bekannt war.

Ein monströses Bauwerk schraubte sich schwerfällig in die Höhe, schien an manchen Stellen bereits vollendet, während woanders noch der Felsen zu erkennen war, aus dem nicht nur die Grundstruktur der Architektur, sondern auch das Material der Ziegel für ihre Verfeinerung gehauen wurden. Die Arbeit schien sich auf verschiedene Baustellen verteilt zu haben, die unabhängig voneinander ihr Soll zu erfüllen trachteten. Der Turm, den man in unmittelbarer Nähe eines Gewässers errichtete, wirkte nicht nur schief, sondern – wie Konrad treffend bemerkt hatte – bereits bei seiner Entstehung von seinem Verfall gekennzeichnet. In der obersten Etage, mit welcher der Turm die Höhe der Wolken erreicht hatte, schälte sich allem Anschein nach noch ein weiteres Gebäude aus seinem Inneren. Seine innere Struktur wiederum, in das die unvollständige Ummantelung zahlreiche Einblicke gewährte, mutete unüberschaubar an. Obgleich die Bautätigkeit auf dem Gemälde zum Stillstand gekommen war, meinte man zu begreifen, dass jedes Stück Fassade, das geschlossen wurde, woanders unweigerlich eine Lücke verursachen würde.

»Der Turmbau zu Babel«, sagte ich mit einer gewissen Erleichterung in der Stimme, weil Konrad das Bild gemeint hatte und nicht etwa einen im Zusammenbruch begriffenen Flügel jenes Gebäudes, in dem wir offenbar vorläufig festsaßen.

»Das nenne ich technische Probleme«, meinte Iggy, bei dem die detailliert geschilderte Baufälligkeit erneut ein Gefühl von Ausgelassenheit hervorzurufen schien. Vielleicht, dachte ich mir, ehe ich dazu ansetzte, ein paar Worte über die Legende hinter dem abgebildeten Bauwerk zu sagen, vielleicht weil hier etwas aus der ihm, Iggy, zugeschriebenen Welt des Chaos, der Unordnung und Unaufgeräumtheit, des Nichtbeachtens von Regeln und Außer-Acht-Lassens von Pflichten in einem Bild thematisiert wurde, dem Erwachsene ihre Bewunderung zollten. Für Iggy war eine solche Darstellung des Misslingens offenbar mit einer gewissen Hoffnung verbunden, dass auch für einen wie ihn, der wesentlich häufiger gemaßregelt als gelobt wurde, die Chance bestünde, einmal etwas Eindrucksvolles zustande zu bringen.

Nachdem alle, inklusive der verwirrten Frau, vor dem Turmbau zu Babel angekommen waren, erklärte ich den Kindern, was sie hier sahen.

»Mit diesem Turm, der bis in den Himmel reichen sollte, versuchten die Menschen es mit Gott aufzunehmen.«

»Wollten sie ihn besuchen?«, fragte Emily.

»Nicht unbedingt, sie wollten ihm zeigen, dass sie zu ebenso beachtenswerten Leistungen imstande sind wie er.«

Wandas Blick verriet mir, sofern ich ihn diesmal richtig deutete, dass sie es für keine gute Idee hielt, die Kinder ausgerechnet mit der Geschichte vom Turmbau zu Babel von der Frage nach dem technischen Problem und dem Auftauchen der verwirrten Frau und ihrem Gefasel abzulenken.

»Sind die Menschen jetzt wie er?«

Schwer zu sagen, ob Emily diese zweite Frage aus ehrlichem Interesse stellte oder weil ihr kindliches Gemüt sich daran gewöhnt hatte, Erwachsene um eine Fortsetzung ihrer Ausführungen zu bitten.

»Das weiß ich nicht. Über den Versuch, einen solchen Turm zu bauen, war Gott jedenfalls alles andere als erfreut. Er bestrafte die Menschen, indem er sie zwang, fortan verschiedene Sprachen zu sprechen und sich über die ganze Welt zu verteilen.«

»Blabla.«

Das kam von Iggy und drückte nicht so sehr seine Enttäuschung darüber aus, dass etwas, das gerade noch imstande war, ihn zu begeistern, einmal mehr mit einer Bestrafung geendet hatte, sondern sollte wohl eine Kostprobe jener durch Dreistigkeit erreichten Vielfalt der Ausdrucksweise abgeben.

Wandas Miene hingegen war für mich unleserlich geworden. Mit Blicken versuchte ich in Erfahrung zu bringen, ob sie mir etwas mitzuteilen habe, das nicht für die Kinder und eventuell auch nicht für die verwirrte Frau bestimmt sei. Wanda jedoch antwortete so, dass alle es hören konnten.

»Ich kenne zu diesem Bild eine ganz andere Geschichte. Meiner Version zufolge sollte der Turm in den Himmel reichen, um einem, dem einen Gott die Möglichkeit zu geben, auf die Erde herunterzusteigen.«

Davon hatte ich noch nie etwas gehört. Wandas Besserwisserei hatte meine Geduld allerdings zuvor schon auf eine harte Probe gestellt.

»Dann setzte es die Strafe wohl dafür, überhaupt einen Gott auf diese Art und Weise zu verehren.«

Wanda senkte ihren Blick, als hätte sie sich zwar damit abgefunden, aus Gründen der Ablenkung vor den Kindern über derartige Belange mit mir zu sprechen, lehne es jedoch ab, über einen damit verbundenen Inhalt zu debattieren.

»Im Vordergrund sucht der König die einzelnen Steine aus.«

Wie ein erfahrener Moderator hatte Emily begriffen, dass dies der richtige Zeitpunkt für eine Neuausrichtung der Thematik war. Ihre Worte bezogen sich auf eine eindeutig als Herrscher zu identifizierende Figur, vor der Arbeiter, die offenbar damit beschäftigt waren, Steinblöcke für den Bau vorzubereiten, auf die Knie gefallen waren.

»Oder das ist Gott, der ihnen erklärt, dass sie damit aufhören sollen.«

Tessa wurde von Emily immer noch an der Hand gehalten, weshalb sie sich möglicherweise aufgefordert fühlte, ihrem Vorschlag einen eigenen hinzuzufügen.

Wanda hatte sich indes dem Durchgang zum benachbarten Schausaal zugewandt, durch den soeben drei Personen, ein Mann, eine Frau und ein Kind – das Kind etwa acht oder neun Jahre alt – den Raum mit dem Turmbau zu Babel betreten hatten. Von einer Besorgnis aufgrund der kolportierten Unregelmäßigkeiten, der sogenannten technischen Probleme, war den dreien nicht das Geringste anzumerken. Ehrfurchtsvoll schritten sie, spärlich gefüllte Rucksäcke auf ihren Rücken, durch den Saal voll hochkarätiger Gemälde, wie demütige Studienanfänger über den steinernen Boden der gigantischen Kathedrale abendländischer Bildung tapsen. Wie die Figuren auf dem Turmbau zu Babel, fiel mir ein, und ich wünschte mir, einen Moment lang ein Kind zu sein, dem niemand eine solche Bemerkung übel nehmen würde.

Vielleicht wussten die drei bereits mehr als wir und verhielten sich, solange noch nichts über eine konkrete Bedrohung bekannt gegeben wurde, einfach nur so, wie man es von ihnen erwartete.

Als Konrad und Iggy mich aufforderten, sie gedanklich in das links von dem Turm detailreich dargestellte Städtchen sowie in die Hafenanlage rechts, in der man Schiffe an- und ablegen sehen konnte, zu begleiten, wurde mir neuerlich bewusst, dass vorläufig kein Mensch aus dem Bereich des Gebäudes, in dem wir uns befanden, herauskommen konnte. Bisher war zwar noch niemand mit Gewalt daran gehindert worden, aber das lag nur daran, dass sich in unserer Gegenwart noch keiner über diese Anweisung hinweggesetzt hatte. Ob die dreiköpfige Familie froh darüber war, sich unter diesen Umständen der Malerei widmen zu können, ohne von jemandem dabei gestört zu werden? Wanda hatte sich ihnen inzwischen wie zufällig genähert, sich dabei jedoch so ungeschickt angestellt, dass selbst mir das nicht entgangen war, obwohl ich mich in Konrads Gesellschaft in einer mittelalterlichen Stadt herumtrieb und gleichzeitig mit Iggy in See stach. Die beiden Buben wollten einfach nur weg, von dem Turm, aus dem Museum, ob nun durch enges Gassengewirr oder zu Wasser. Vielleicht ahnte ihr kindlicher Instinkt inzwischen, dass eine Bedrohung aufgetaucht war, angesichts der selbst wir Erwachsene nicht weiterwussten. Aus diesem Grund liefen sie vorerst auch nicht einfach in den nächsten Saal voraus, sondern probierten es mit einem Schritt in die vor ihnen ausgebreitete Bildlandschaft, die erkennen ließ, dass sie sich seit sehr langer Zeit nicht verändert hatte. Einzig Iggy traute ich zu, die Zwangslage, in der wir uns befanden, in Hinblick auf ihr Potenzial als Abenteuer zu betrachten, ähnlich wie ich das ungerechtfertigterweise dem Pärchen mit ihrem Kind angedichtet hatte.

Als Wanda ein paar Worte an die beiden Erwachsenen richtete, lächelten diese nur, nickten mit den Köpfen – synchron wie zwei Besucher eines Rockkonzerts – und deuteten auf das Schildchen, auf dem ein paar Informationen zu Pieter Bruegels Bild, dem Turmbau zu Babel, vermerkt waren. Offenbar konnten sie kein Wort von dem, was Wanda zu ihnen gesagt hatte, verstehen. Gäste aus einem anderen Land, die wohl auch dem Gemurmel des Aufsehers keine besondere Bedeutung beigemessen hatten. Touristen, die, seit sie heute Morgen von ihrer Pension aufgebrochen waren, noch keinen Grund gesehen hatten, sich in dem, was für diesen Tag auf ihrem Programm stand, beeinträchtigen zu lassen. In ihrer Herberge befand sich wahrscheinlich auch der restliche Inhalt ihrer Rucksäcke.

Wanda nahm, ihre Lippen zum Zeichen des Wohlwollens trotz allem aufeinandergepresst, von einem erneuten Versuch Abstand, und während Iggy den Plan schmiedete, fortan auf einem der Schiffe, das er auf den Namen Blabla taufen wollte, von der Piraterie zu leben, fragte ich mich, ob es nicht unsere Pflicht sei, die drei ahnungslosen Touristen über allfällige Sprachbarrieren hinweg auf den neuesten Stand zu bringen. Oder würden wir in diesem Fall etwa so auf sie wirken wie die verwirrte Frau kurz zuvor auf uns? Mein eben erst aufgeflammter Groll auf Wanda, weil diese beim leisesten Anzeichen von Schwierigkeiten, ein gegenseitiges Verstehen betreffend, unverzüglich zurückgewichen war wie eine Katze vor dem geringsten Luftzug, erlosch gleich wieder bei dem Gedanken, wir würden die ganz der Malerei hingegebenen Reisenden wohl nur unnötig aufschrecken. Vielleicht waren sie, unseren beiden Buben vergleichbar, in gemalten Versionen der Welt vorläufig ohnedies besser aufgehoben, und ihr Hinweis auf die Informationen zu dem Bild sollte uns auffordern, sie in die Malerei zu begleiten, wo wir alle uns, ungeachtet unserer jeweiligen Mundart, untereinander verständigen könnten.

 

Andächtig traten die Touristen vor den Turmbau, vor dem auch die kurz zuvor noch reichlich verwirrte Frau stand. Während der letzten in unserer Gesellschaft verbrachten Minuten schien sie sich einigermaßen beruhigt zu haben. Anstatt uns von ihr aufscheuchen zu lassen, war es uns offenbar gelungen, sie einigermaßen zur Räson zu bringen. Beinahe gelassen wandte sie sich jetzt dem Familienvater zu und nannte ihn einen Märtyrer. Zumindest sprach sie dieses Wort aus und starrte den Mann, bei dem sie damit ein interessiertes Stirnrunzeln auslöste, an, vielleicht ja, weil Wanda und ich uns ihren vorangegangenen Warnungen gegenüber nicht im gewünschten Maße empfänglich gezeigt hatten. Das Wort Märtyrer hatte also nicht unbedingt etwas von einer Anschuldigung, eher von einem Hinweis darauf, wer sich ihrer Meinung nach hinter den technischen Problemen verstecke.

Bei Wanda und mir läuteten einmal mehr die Alarmglocken. Ich blickte zu Wanda hinüber, die entsetzt die drei Rucksäcke fixierte. Daran hatte ich, zu sehr damit beschäftigt, mich über die neuerliche Panikmache zu echauffieren, überhaupt noch nicht gedacht. Als Wandas Blick schließlich den meinen traf, meinte ich, ihr ansehen zu können, dass sie in einer Situation, wie diese eine zu werden versprach, zwar lieber mit jemandes anderen Blick kommuniziert hätte, mangels einer Alternative allerdings entschlossen war, mit dem meinen vorlieb zu nehmen. Ihre Courage bestärkte mich, obgleich mir mein Gefühl eher riet, die harmlosen Touristen von der verwirrten Frau, für die ich mich offenbar bereits verantwortlich fühlte, abzuschirmen. Wanda und ich würden, so viel stand fest, an ein und demselben Strang ziehen, unklar war bloß noch, welcher das sein sollte.

Emily, Tessa und Konrad war nicht entgangen, dass die Frau etwas zu dem Mann gesagt hatte. Erwartungsvoll blickten sie den Familienvater an. Nur Iggy hatte sich vollständig in das Gemälde vertieft. Er war bestrebt herauszufinden, ob mehr von dem Gewässer, auf dem er seine Laufbahn als Pirat beginnen wollte, zu sehen sein würde, sofern es ihm gelänge, in die Leinwand hinein und im Bildraum ums Eck zu schauen.

Da ich nun mal nicht über die Autorität verfügte, der verwirrten Frau den Mund zu verbieten – schließlich unterstand sie noch nicht einmal vorübergehend meiner Aufsicht –, nahm ich mir im Auftrag einer Beschwichtigung der allgemeinen Situation vor, den drei Touristen mit einer die Verwirrte nicht unbedingt herabwürdigenden, wohl aber über sämtliche Sprachen hinweg unmissverständlichen Geste zu verstehen zu geben, dass sie nicht ganz bei Trost sei. Die Kinder würde ich, wie um meinen Hinweis zu unterstreichen, demonstrativ von ihr entfernen. Iggy müsste zwar einmal mehr am Kragen gepackt und weggezerrt werden, ausgerechnet in einem störrischen Verhalten wie dem seinen schien mir allerdings ein Schlüssel dazu zu liegen, die gesamte Atmosphäre in die herbeigesehnte Alltäglichkeit zu überführen.

Ehe ich noch daran gehen konnte, die Aufmerksamkeit des Touristenpärchens auf mich zu lenken und mit der zu mir gewandten Handfläche ein paar Sekunden lang Wischbewegungen vor meinem Gesicht anzudeuten, stellte sich mir die Frage in den Weg, wann ich selbst eigentlich das letzte, das entscheidende Mal von der Hand eines Erwachsenen aus meinen Träumen gerissen worden war. Geschah das damals auch bloß, um die Glaubwürdigkeit dessen, was dieser Erwachsene einem anderen Erwachsenen zu signalisieren gedachte, zu unterstreichen? Würde ich, indem ich Iggy sinnbildlich aus dem Wasser fischen oder, noch sinnbildlicher, von einer Laufbahn als Seeräuber abhalten würde, meine Gesten zu einem Knäuel von Fäden verwickeln, an denen ein Heranwachsender – Iggy nämlich – wie eine Marionette zu hängen käme?

Zu meiner Überraschung antwortete der Tourist der verwirrten Frau – offenbar ohne deren Verwirrung zu bemerken – mit einem Kopfnicken, ähnlich dem von vorhin, in das auch seine Begleiterin prompt wieder einfiel. Während ich mich immer hoffnungsloser in die Stränge der von mir geplanten Manipulation verstrickte, zeigte der Mann auf den Durchgang in den angrenzenden Saal und gab, indem er die Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger mehrfach anhob und wieder sinken ließ, mit verblüffend eloquenten Bewegungen zu verstehen, dass er einen Ort ein paar Säle weiter meinte.

Anders als für Wanda, die, wie sich später herausstellen sollte, annahm, die drei wären vor einem Märtyrer geflüchtet, der ein paar Säle, von dem, in dem wir uns befanden, entfernt in Erscheinung getreten sei – was für ein absurder Gedanke! –, stand für mich außer Frage, dass eben dort, ziemlich weit weg, ein solcher entdeckt und festgesetzt worden sei, woraus sich auch erklärte, weshalb das Stockwerk nach wie vor abgeriegelt, jedoch weder unter Tränengas gesetzt noch von einer Abteilung Einsatzkräfte in voller Montur gestürmt worden sei. Während Wanda und ich also erneut aneinander vorbeischauten, rannten Emily, Konrad und Iggy – der seine Piratenkarriere zugunsten weiterer Berufsanregungen, die er sich jetzt, da er über den Blick dafür verfügte, von den Bildern in diesem Museum versprach, aus eigenen Stücken verschoben zu haben schien – in die Richtung, die der Tourist ausgerechnet der verwirrten Frau als Antwort auf ihr Gestammel gewiesen hatte. Tessa stapfte deutlich langsamer, jedoch entschieden unaufhaltsam hinterher, und einen Moment lang kam es mir so vor, als lege sie es diesmal darauf an, auf so viele Fugen wie möglich zu treten, als revanchiere sie sich damit für die Geduld, die es sie zuvor gekostet hatte, ihnen auszuweichen.

Obwohl Wanda und ich – das stand für mich fest – der Situation ein unterschiedliches Maß an Bedrohung beimaßen, kam es uns beiden wie eine denkbar schlechte Entscheidung vor, ausgerechnet dorthin aufzubrechen, wo es etwas gab, das, wie immer man es verstehen wollte, nicht gerade den Eindruck erweckte, der richtige Ort für Kinder und friedliebende Erwachsene zu sein. Die paar Momente, die wir für eine Reaktion benötigten und die den Kindern einen gewissen Vorsprung einräumten, lagen also meiner Meinung nach eher darin begründet, dass sowohl Wanda als auch ich, die ebenso spontan gestellte wie unausweichliche Frage, wessen Schuld das nun wieder sei, an uns abprallen und ohne großes Zutun dem jeweils anderen – ich Wanda und Wanda mir – zufallen lassen wollten, wobei jedoch keiner von uns beiden daran dachte, dabei mit Entschiedenheit vorzugehen. Ping-Pong-Schlägern vergleichbar, die einen Ball so lange zurück zum Gegner befördern, solange er wie zufällig genau auf ihre jeweilige Schlägerfläche trifft.

Schließlich aber heftete ich mich im Anschluss an einen in höchster Dringlichkeit ausgesandten Blick Richtung Wanda, den trotz allen Unverständnisses – über das nachher noch zu reden sein würde – akute Einigkeit geschärft hatte, den Kindern an die Fersen und spürte, wie Wanda in meinem Rücken, augenscheinlich von den gleichen Gefühlen geleitet, sich ebenfalls auf den Weg machte. Einen Saal weiter hatten wir Tessa zwar bereits überholt, Iggy und Konrad waren in unserem Blickfeld aufgetaucht – Iggy, der größere, drehte sich immer wieder um und lief ein paar Schritte lang rückwärts, als empfange er den langsameren Konrad mit offenen Armen –, Emily jedoch schien bereits den daran angrenzenden Saal erreicht zu haben.

Ein Gemäldezyklus, der offenbar den Jahreszeiten oder einzelnen Monaten gewidmet war, und von mir ungeachtet der sich womöglich zuspitzenden Gefahr im Vorbeilaufen aus dem Augenwinkel heraus betrachtet wurde, vervollständigte die sonderbare Stimmung, die sich aus einer Mischung aus Ausgelassenheit und Bedrohung zusammensetzte, wie das Bühnenbild einer komischen Oper. Auf eine solche, eine Choreographie der Merkwürdigkeit, war es wohl auch zurückzuführen, dass weder Wanda noch ich allzu laut nach den Kindern riefen. Im ersten Moment dachte ich, das habe etwas mit der Hemmung zu tun, in derart Ehrfurcht einflößenden Räumen zu brüllen, es kann jedoch auch sein, dass das an dem Bedürfnis lag, möglichst niemanden auf uns aufmerksam zu machen.

Der Vollständigkeit halber halte ich hier fest, was ich aus dem Augenwinkel heraus auf dem Jahreszeiten-Bild sah: Bauern und Bäuerinnen waren in einer sommerlichen Landschaft beim Picknicken (im Vordergrund links) sowie bei der Arbeit mit mächtigen Sensen in einem Kornfeld (rechts und, soweit ich mich erinnere, in der Mitte im Hintergrund) dargestellt. Insgesamt dominierten das Leben bejahende Fröhlichkeit und verbindliche Wärme die Bildfläche. Beides erstreckte sich bis in die prallen Formen der Menschen und satten Farben der Pflanzen und bezog sich sowohl auf die Mahlzeit als auch auf die Arbeit. Für so ein Bild kam nur ein Maler infrage, der einer völlig anderen Gesellschaftsschicht entstammte als das Bauernvolk und der beim Malen dieses Bildes die Ausgelassenheit im Salon seines vornehmen Auftraggebers vor Augen gehabt haben musste. Ein Moment der Flüchtigkeit, das meinem hurtigen Tempo geschuldet war, passte übrigens recht gut zum übergeordneten Thema des Gemäldes, das einen sich mehr oder weniger auf die gleiche Weise wiederholenden Augenblick im Ablauf eines Jahres abbilden wollte. Etwas, das vorbeiging und wiederkehren würde.

Bereits im darauffolgenden Saal stießen wir auf Emily und wären beinahe einer von hinten in den anderen gekracht, denn Emily war – wie in einem Slapstick-Film, dachte ich – unmittelbar jenseits der Schwelle stehen geblieben.

Unter den Gemälden, die in diesem Saal ausgestellt waren, stach ein hochformatiges Bild hervor, das einen jungen Mann zeigte, der mit nichts als einem Lendenschurz bekleidet war. Der aufwändige Knoten, von dem das verhältnismäßig knappe Stück Stoff zusammengehalten wurde, entschädigte mit seinem Faltenreichtum in mancherlei Hinsicht für die fehlende Farbigkeit und die Oberflächengestaltung sonstiger Kleidungsstücke. In der Darstellung ging es jedoch eindeutig um die muskulöse Nacktheit des Jünglings, die er, verstohlen gen Himmel blickend, mit der Eleganz einer seinem Körper eingeschriebenen S-Kurve präsentierte.

Ein zweiter Blick offenbarte nicht nur, dass der Jüngling gar nicht leger an ein paar architektonischen Überresten, genauer gesagt an einer Säule lehnte, sondern an dieselbe gefesselt war, und eine Unmenge von Pfeilen seinen Körper an diversen Stellen durchbohrte. Jemand musste ihn hier angebunden – unweigerlich fiel mir unsere Situation in den herrschaftlich anmutenden Räumlichkeiten des Museums ein – und als Zielscheibe benutzt haben, wobei es eher um ein gleichmäßiges Verteilen der Pfeile, weniger um das Treffen einer bestimmten Körperstelle gegangen sein dürfte.

»Dreizehn Pfeile«, sagte Emily, wie um Rechenschaft darüber abzulegen, was sie gemacht hatte, bis wir anderen sie eingeholt hatten.

»Vierzehn«, verbesserte Iggy sie, obwohl er kaum Zeit gehabt hatte, nachzuzählen. Mir schien, Iggy ging es lediglich darum, etwas hinzuzufügen, als vergrößere sich die Zahl der Pfeile mit jedem, der zusätzlich in diesem Saal eintraf, wie sich mit jedem Pfeil das Leid des Mannes vergrößert haben musste, woran schließlich der Reiz der Darstellung gewachsen sein dürfte.

»Dreizehn«, wiederholte Emily, als beharre sie darauf, dass sie das Bild schließlich als erste von uns gesehen hatte.

»Aber einer steckt doch in seinem Kopf«, sagte Iggy erstaunlich ruhig.

Tatsächlich ging ein Pfeil, der prominenteste, was Größe und Sichtbarkeit betraf, durch den Schädel des Jünglings. Er war seitlich zwischen Hals und Kinn eingedrungen und mitten auf der Stirn wieder ausgetreten. Iggys Rechnung stimmte, vielleicht war es die Länge des Pfeils, die vom leidenden Blick des jungen Mannes, der nicht tot zu sein schien, unterbrochen wurde, die Emily veranlasst hatte, ihn nicht mitzuzählen.

»Und der Kopf gehört schließlich auch zum Körper.«

Anstatt hervorzukehren, dass er recht behalten hatte, stellte Iggy das mit einer merkwürdigen Gelehrigkeit in der Stimme fest, als mache er eine kluge Persönlichkeit nach, oder eine solche, die erst noch aus ihm werden müsste, spreche schon mal probehalber aus einem, ihm selbst nur fallweise zugänglichen Bereich seines Innersten.

 

»Ist das ein Märtyrer?«

Konrads Frage überraschte mich, und zwar weil es kurz den Anschein hatte, als stelle er sie jenem imaginären Weisen, der sich eben aus Iggy gemeldet hatte, und nicht mir, dem Erwachsenen, geschweige denn der klugen Wanda.

»Das ist der Heilige Sebastian«, antwortete ich und begriff, warum es Konrad in manchen Momenten vorzog, die Welt von dem bloß ein paar Jahre älteren Iggy erklärt zu bekommen anstatt von einem Erwachsenen. Gewisse Inhalte hören sich, wenn sie erläutert werden, aus erwachsenen Mündern in Kinderohren gelegentlich wohl wie aus einer unüberbrückbaren Entfernung gesprochen an.

»Se-bas-sti-an«, skandierte Tessa, die inzwischen ebenfalls eingetroffen war, und trat bei jeder Silbe auf eine Fuge wie bei einem rustikalen Tanz, der mir die Bauern in Erinnerung rief, an denen ich eben vorbeigelaufen war.

»Das war ein römischer Soldat, der zum Tode verurteilt wurde, weil er in den Augen des Königs der falschen Religionsgemeinschaft angehörte.«

Emily: »Welche Religion war das?«

»Das spielt im Grunde keine Rolle«, antwortete ich, obwohl mir klar sein musste, dass das ganz danach aussah, als wüsste ich es nicht.

»Und warum ließ der König ihn dann mit den Pfeilen beschießen?«, wollte Konrad wissen.

»Weil Sebastian sich nicht bereit erklärt hat, zuzugeben, dass er falsch lag.«

»Nur deshalb?«

Ich fragte mich, ob Konrad das Beharren auf einem Standpunkt, zumal er von seiner Richtigkeit gar nicht hundertprozentig überzeugt zu sein schien, für eine Art Schutzmechanismus hielt – zumindest soweit es ihn als Kind betraf.

»Und weil er seine Freunde und Freundinnen nicht hatte verraten wollen.«

»Dafür hat er den Tod verdient«, kommentierte Iggy, und die eigenartige Aura, die seine vorangegangenen Worte umgeben hatte, sorgte dafür, dass mir nicht ganz klar war, ob das ein Kompliment in Richtung des Protagonisten des Bildes sein sollte oder ob Iggy tatsächlich der Meinung war, unter diesen Umständen handle es sich um eine gerechte Strafe.

»Hat ihn das zum Märtyrer gemacht?«

Ich bewunderte Konrad für die Hartnäckigkeit, mit der er entschieden hatte, einem Begriff, den er in letzter Zeit öfter gehört haben dürfte, bei dieser Gelegenheit auf den Grund zu gehen, und nunmehr an diesem Beschluss festhielt. Hier und jetzt war für Konrad der Moment gekommen, ein Rätsel zu lösen, auf das angesprochen Erwachsene bisher zumeist hinter vagen Andeutungen in Deckung gegangen waren, älteren Kindern vergleichbar, wenn einer wie Konrad von ihnen die Bedeutung von Begriffen wie Shoppen, Sex oder Komaglotzen hätte wissen wollen.

»Ja, in gewisser Weise hat ihn das dazu gemacht.«

»Was denn, dass man mit Pfeilen auf ihn geschossen hat?«

Tessa hatte offenbar sämtliche Fugen in ihrer Umgebung zu Tode getrampelt.

Überraschend meldete sich Emily zu Wort: »Nein, weil er sich nicht gewehrt hat, als man ihm das angetan hat.«

Ich hatte befürchtet, dass das nicht einfach werden würde.

»Nicht direkt, sondern eher, dass er nicht bereit war, bestimmten Überzeugungen zuwiderzuhandeln, obwohl ihm diese Strafe angedroht wurde.«

Ich hatte den Eindruck, diese Erklärung wäre mir einigermaßen gut gelungen.

»Bestimmten was …?«

Diese Frage kam von Wanda, deren Häme sich ein unschuldiges Gesichtchen aufgesetzt hatte, als räche Wanda sich für ihre eigene Feigheit in derart brenzligen Situationen. Da ich es nun mal gewagt hatte, vor den Fragen der Kinder nicht davonzulaufen, sollte ich sie gefälligst auch bis ans Ende des Weges begleiten. Meinetwegen.

»Überzeugungen, wie es beispielsweise unsere Überzeugung ist, die Anweisungen des Sicherheitspersonals zu befolgen.«

Das mochte nun, zugegebenermaßen, nicht gerade überzeugend ausgefallen sein, reichte jedoch aus, um anzudeuten, dass ich entschlossen war, das Beste aus der gegenwärtigen Situation zu machen.

»Warum haben sie ihn an eine Säule gebunden und nicht an einen Marterpfahl, wie das bei den Indianern üblich ist?«, wollte Konrad wissen, und obwohl eigentlich ich für Indianerangelegenheiten zuständig war, ergriff Emily das Wort.

»Das hat damit zu tun, dass wir in einem Museum sind und nicht im Wilden Westen. In einem Museum muss es eine Säule sein.«

»Ist diese Säule das Überbleibsel eines Museums?«, bohrte Konrad weiter.

Iggy kicherte.

»Ich wäre lieber einer der beiden Männer da hinten auf der Straße«, sagte Tessa und stampfte ein paar Mal auf, als hätte sich unter ihrer Fußsohle eine Fuge geregt. Am linken Rand des Gemäldes waren zwei winzige Figuren als Rückenansichten dargestellt, die sich in einiger Entfernung zu Sebastian befanden und auf ein im Hintergrund sichtbares Gewässer zugingen.

»Das sind doch mit Sicherheit die, die auf ihn geschossen haben«, gab Iggy zu bedenken.

Tatsächlich konnte man bei genauerem Hinsehen erkennen, dass die beiden mit Pfeil und Bogen ausgerüstet waren. Tessa war das gar nicht aufgefallen, sie dachte offenbar nur daran, das Museum hinter sich zu lassen. Das, was sie als die Ruine eines Museums auf dem Gemälde identifiziert zu haben glaubte, sowie jenes Museum, in dem wir – so viel schien sie mittlerweile verstanden zu haben – vorläufig festsaßen.

»Die zwei sehen aber trotz Pfeil und Bogen nicht aus wie Indianer«, stellte Konrad fest.

»Sebastian soll das übrigens überlebt haben«, sagte ich, um unser Gespräch auf etwas Positives zu lenken.

»War das seine Belohnung?«

Gegen ein Happy End hätte Emily, hätten wir alle nichts einzuwenden gehabt.

»Im Gegenteil«, das war Wanda, »Dieser Märtyrer ist vor den König getreten und hat ihm eine lange Nase gezeigt …«

An dieser Stelle wurde Wanda von Emily unterbrochen (»Der mit dem Turm?«), schüttelte jedoch bloß den Kopf und fuhr fort: »… woraufhin der König ihn ein weiteres Mal zu töten versuchte, und zwar mit Knüppeln.«

Diese Geschichte kannte ich gar nicht. Ich fragte mich, ob Wanda sie nicht eben erst erfunden hatte, um den Kindern eine bittere Lektion in Sachen Wirklichkeit zu erteilen.

»Der Mann hat regelrecht darauf bestanden, getötet zu werden. Das erst ließ einen Märtyrer aus ihm werden.«

»Warum hat er eigentlich nichts an?«

Emily fragte das niemand Bestimmten. Sie fragte in unser aller Namen und – nahm ich an – in der Absicht, Wanda vom Thema Töten und Getötet-Werden abzubringen.

»Er ist mit seinen Wunden bekleidet.«

Intuitiv hatte Tessa verstanden, worauf Emily hinauswollte.

»Damit jeder sehen kann, was er über sich hat ergehen lassen.«

Wanda schien entschlossen, so gut wie alles gegen den Heiligen zu verwenden.

»Mit den Knüppeln hat es dann schließlich auch geklappt. Zuallerletzt wurde Sebastians Leichnam in den Abwasserkanal geworfen.«

»Pfui!«

Konrad verhielt sich als einziger von uns Wanda gegenüber wie ein dankbares Publikum. Ich hingegen machte mir ernsthafte Sorgen, ob nicht etwa eine Todesahnung von Wanda Besitz ergriffen hatte, mit der früher oder später unangenehme Folgen für unsere gesamte Gruppe verbunden sein könnten. Etwas Düsteres war über ihrer Gesichtslandschaft aufgegangen wie ein finsterer Mond.

»Märtyrer, müsst ihr wissen, veranstalteten damals so eine Art Wettbewerb, wer sich darauf verstand, die schlimmere Strafe für sich herauszuschlagen.«

Zu allem Überdruss betrat in diesem Moment die verwirrte Frau von vorhin den Saal mit dem Heiligen Sebastian und murmelte etwas von Selbstmordanschlag und Todesfalle vor sich hin. Auf der Suche nach einem Ausweg stieß mein Blick auf einen uniformierten Aufseher, der einige Gemälde entfernt – jedes einzelne von ihnen einem eigenen Entwurf der Welt gewidmet – eine verschlossene Türe, die sich in seinem Rücken befand, bewachte. Von uns oder der verwirrten Frau und ihrem Gemurmel schien er keinerlei Notiz zu nehmen, sondern drückte und drehte an seinem Funkgerät herum, als spiele sich alles Wichtige ausschließlich auf dem Display dieses Gerätes ab und einem wie ihm wäre es, die verschiedenen Regler manipulierend, möglich, daran teilzunehmen. Unmittelbar neben ihm hing das Porträt eines Lautenspielers, der sein Instrument stimmte. Der Aufseher erinnerte mich an ein Kind, das ein technisch anspruchvolles Gerät seiner Eltern in die Finger bekommen hat. Wie ein solches, ein längst erwachsenes Kind, das weiß, was von ihm erwartet wird, allerdings keine Ahnung hat warum, hätte der Aufseher uns – da bin ich ganz sicher – daran gehindert, den Saal durch die Türe hinter ihm, die möglicherweise zu einem Stiegenabgang führte, zu verlassen und uns stattdessen mit der ihm zur Verfügung stehenden Höflichkeit um Geduld gebeten.

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