Psychologie für Sportschützen

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Psychologie für Sportschützen
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Hannes Kratzer





Psychologie für Sportschützen





Hinweise und Ratschläge für ein effektives Training und eine erfolgreiche Wettkampfgestaltung





Verlag: epubli GmbH, Berlin







Impressum





Psychologie für Sportschützen



Doz. Dr. rer. nat. Dr. paed. habil. Hannes Kratzer



Copyright: © 2013 Hannes Kratzer



published by: epubli GmbH, Berlin







www.epubli.de






ISBN 978-3-8442-7562-9.





Inhalt





1. Einführung







2. Leistungsbestimmende psychische Komponenten im Sportschießen






      2.1. Einige, nicht ganz so theoretische Vorbemerkungen






2.2. Psychische und sensomotorische Grundlagen der sportlichen Technik







2.2.1. Wahrnehmungseigenschaften







2.2.2. Reaktionsfähigkeit







2.2.3. Sensomotorische Koordinationsfähigkeit







2.2.4. Konzentrationsfähigkeit







2.3. Zur Trainierbarkeit leistungsbestimmender Eigenschaften







2.3.1. Reaktionsfähigkeit







2.3.2. Sensomotorische Koordinationsfähigkeit







2.3.3. Wahrnehmungseigenschaften







2.3.4. Konzentrationsfähigkeit







2.4. Eignungsauswahl: Ja oder Nein ?







2.5. Beurteilungssystem für Nachwuchsschützen







3. Psychologisches Training zur Entwicklung, Stabilisierung oder Wiederherstellung der inpiduellen Handlungsfähigkeit






      3.1 Vorbemerkungen






3.2. Motivationstraining







3.3. Optimierung der Zustandsregulation







3.4.Verhaltensprogramme







3.5. Trainingsprogramme zur beschleunigten Entwicklung leistungsbestimmender psychischer Komponenten







4. Psychische Belastung im Sportschießen






      4.1 Vorbemerkungen






4.2 Die psychische Ermüdung







4.3. Monotoniezustand







4.4. Psychische Sättigung







4.5. Psychischer Stress







4.6. Erfassen und Berücksichtigen psychischer Belastungswirkungen







5. Psychologische Wettkampfvorbereitung






      5.1. Zur Bedeutung des Wettkampfs






5.2. Die Vorbereitung auf den Wettkampf






      5.2.1. Allgemeine Vorbereitung






5.2.2. Spezielle Wettkampfvorbereitung







5.2.3. Bausteine der Wettkampfvorbereitung







5.2.4. Bestandsaufnahme und Fazit







6. Der Sportschütze als Kampfrichter







7. Fragen aus der Praxis - Antworten für die Praxis






      7.1. Vorbemerkungen






7.2. Leistungs- und Verhaltensbeurteilung in Training und Wettkampf







7.3. Soziale Beziehungen und Trainingseffektivität







7.4. Fehler - Eine wichtige Quelle der Erfahrung







7.5. Zur Effektivität des sportlichen Lernprozesses







7.6. Der "schwierige“ Schütze







7.7. Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse – Grundlegende Handlungsantriebe im Sportschießen







7.8. Die Handlungszuverlässigkeit als wesentlicher Faktor der Leistungsfähigkeit des Sportschützen







Dank an meine temporären Mitarbeiter







1. Einführung



Die Bedeutung psychologischen Wissens und Könnens für eine erfolgreiche sportliche Entwicklung im Schießen ist heute unbestritten. Nahezu täglich erleben wir Beispiele in der Sportpraxis, die den leistungsbestimmenden Charakter psychischer Regulationsvoraussetzungen belegen. Insbesondere individuell schlechte Schießergebnisse werden unabhängig vom Leistungsniveau der Schützen nahezu ausschließlich auf psychologische Ursachen zurückgeführt!Sei es die mangelnde Fähigkeit, eine zu hohe Erregung zu beherrschen, störende Gedanken zu verdrängen oder äußere Einflüsse abzuschirmen, Konzentrationsschwankungen zu vermeiden, Enttäuschungen über Fehlleistungen zu überwinden - all das und vieles mehr macht die individuelle Handlungsfähigkeit eines Schützen im Wettkampf aus. Die Forderungen von Schützen und ihren Trainern nach einer differenzierten Vermittlung psychologischen Spezialwissens, nach Erlernung effektiver Selbstbeeinflussungstechniken (Umgang mit leistungsbeeinträchtigenden Gedanken und Gefühlen, Selbstmotivierung, Erregungssteuerung) sowie nach der Integration psychologischer Trainingsmaßnahmen in den Ausbildungsprozess führten zum Entschluss, eine verständliche und hinsichtlich des Umfanges überschaubare Broschüre vorzulegen, die gleichermaßen für Trainer und Sportler gedacht ist. Das hat den Vorteil, dass psychologisches Training aus dem Dunstkreis der Undurchschaubarkeit und Manipulation herausgelöst wird und dass Trainer und Sportler gemeinsam nach Lösungen suchen, um leistungsbeeinträchtigende Belastungen, Schwierigkeiten oder Probleme zu überwinden. Ein effektives Training und eine optimale Wettkampfvorbereitung erfordern den mitarbeitenden Schützen, da ohne ihn auch der kreative Trainer nicht wirksam werden kann. In Abhängigkeit vom Alter des Sportlers ist deshalb die schrittweise Vermittlung psychologischen Wissens und Könnens eine grundlegende Aufgabe des Trainers. Die vorliegenden Ausführungen und Hinweise sollen Trainern dabei Anregung und Anleitung geben. Darüber hinaus bieten sie dem älteren oder allein trainierenden Schützen konkrete Ratschläge für die gezielte Erweiterung (Vervollkommnung) seiner individuellen Handlungsfähigkeit. Trainer und Sportler bekundeten in vielen Weiterbildungsveranstaltungen und Gesprächen ihr starkes Interesse an psychologischen Fragestellungen. Vielfältige Situationen und Probleme wurden und werden geschildert, die den akuten Bedarf psychologischen Wissens und Könnens sowohl für den Trainer als auch für den Sportler unterstreichen. Die Skala umfasst dabei Probleme des Trainings (Belastung und Belastungsgestaltung, Training und Beeinflussung leistungsbestimmender psychischer Eigenschaften), der Wettkampfgestaltung (Vorbereitung, Durchführung, Nachbereitung), des Verhältnisses Trainer - Sportler und weitere Schwerpunkte. Es soll versucht werden, den Forderungen der Sportpraxis gerecht zu werden. Der Autor versteht sich als Auftragnehmer all jener Schützen und Trainer, die in vielen Jahren gemeinsamer Arbeit Fragen gestellt und häufig auch zu deren Beantwortung entscheidend beigetragen haben. In Absprache mit Ihnen wurden deshalb folgende inhaltliche Schwerpunkte aufgenommen:





Leistungsbestimmende psychische Komponenten im Sportschießen und Möglichkeiten ihrer Vervollkommnung





Ein effektives und wissenschaftlich begründetes Training setzt die Kenntnis der leistungsbestimmenden Eigenschaften voraus. Sowohl der Trainer als auch der Schütze müssen wissen, welche wesentlichen Eigenschaften auf welche Weise und zum richtigen Zeitpunkt ausgebildet werden müssen. Nur dann ist ein zielgerichtetes Training möglich.





Psychologische Trainingsverfahren zur Entwicklung, Stabilisierung und Wiederherstellung der individuellen Handlungsfähigkeit



 



Für das Training der leistungsbestimmenden Eigenschaften steht eine Vielzahl von Methoden zu Verfügung, die bisher nur von wenigen Schützen systematisch und regelmäßig eingesetzt werden. Der Ruf nach psychologischem Training erfolgt immer dann, wenn es Probleme gibt, z.B. eine deutliche Diskrepanz zwischen Trainings- und Wettkampfleistungen, eine Stagnation der Leistungsentwicklung, Motivationsprobleme oder Schwierigkeiten bei der Erregungssteuerung. „Feuerwehreinsätze“ zur Behebung offensichtlicher Defizite führen aber nur selten zum Erfolg. Trainieren wir Kraft und Kondition denn nicht ständig, nicht nur, wenn sie unzureichend entwickelt sind? Gleiches gilt natürlich auch für die psychischen Leistungsvoraussetzungen. Das psychologische Training muss gerade im Sportschießen, wo die geistige Leistungsfähigkeit letztlich den Erfolg bestimmt, ganz normaler Bestandteil des täglichen Trainings sein. Nur dann ist die erforderliche und auch zeitlich vertretbare Entwicklung und Ausbildung leistungsbestimmender psychischer Eigenschaften möglich.





Psychische Belastung und Belastbarkeit und ihre Berücksichtigung im Trainings- und Wettkampfprozess





Eine optimale Belastungsgestaltung erfordert nicht nur die Beachtung der physischen und psychischen Aspekte der zu realisierenden Trainingsanforderungen, sondern darüber hinaus auch die Berücksichtigung personaler Bedingungen (z.B. biologisches Alter, Trainingsalter, individuelle Leistungsfähigkeit, Trainierbarkeit) sowie außerhalb des Trainings liegender physischer und psychischer Belastungen. Fundierte Kenntnisse auf diesem Gebiet und deren Umsetzung in der Sportpraxis bestimmen in erheblichem Maße die Trainingseffektivität und tragen im weiteren Sinne zur Verbesserung des Ausbildungsprozesses insgesamt bei.





Wettkampfvorbereitung und -durchführung





Ein gesondertes Kapitel „Wettkampfvorbereitung“ wurde nach vielen Gesprächen mit Schützen und Trainern aufgenommen, da die adäquate Bündelung unterschiedlicher Trainingsmaßnahmen im Vorfeld des Wettkampfes unabdingbar für die Ausprägung individueller Höchstleistungen ist. Viele der aufgeführten psychologischen Trainingsmaßnahmen sind Bestandteil der langfristigen Wettkampfvorbereitung. Die entscheidende Phase unmittelbar vor einem Wettkampf erfordert aber eine besondere Aufmerksamkeit, werden doch hier die Fehler gemacht, die entscheidend das Wettkampfergebnis beeinflussen. Es kommt darauf an, gemeinsam mit den Schützen eine individuelle Strategie zu erarbeiten, welche in der aktuellen Vorbereitung und Durchführung des Wettkampfes die Berücksichtigung der konkreten Bedingungen und Leistungsvoraussetzungen ermöglicht. Die Vorbereitung am Wettkampftag, die Phase vor dem eigentlichen Wettkampf oder vor dem Finale entscheidet letztlich darüber, ob der Sportler das langfristig im Training erarbeitete Leistungsniveau auch im Wettkampf umsetzen kann.





Psychologische Aspekte der Kampfrichtertätigkeit





Die meisten Trainer und auch viele Schützen (Wurfscheibenschützen in der Regel) sind als Kampfrichter tätig - eine bei der Auflistung der Aufgaben eines Trainers (und auch Sportlers) oft vergessene und auch unterschätzte Facette seiner Tätigkeit. Wenn hier ein gesondertes Kapitel der Arbeit des Kampfrichters und den damit zusammenhängenden psychologischen Problemen gewidmet wird, dann auch deshalb, um diesen wichtigen Bereich des Sportschießens zu würdigen. Was wären wir ohne Kampfrichter? Viele ehemalige Schützen bleiben auch nach ihrer aktiven Zeit als Kampfrichter dem Sportschießen erhalten, viele sind Schützen und Kampfrichter so lange es ihnen möglich ist. Ohne sie wäre die Durchführung und Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Schießbetriebs gar nicht möglich. Die Ausführungen sollen auch dazu beitragen, die Kampfrichter als Förderer der eigenen Leistung zu sehen. Der Kampfrichter gewährleistet nicht nur den reibungslosen und regelgerechten Ablauf eines Wettkampfes, er übernimmt zwangsläufig auch wesentliche Aufgaben bei der Erziehung und Ausbildung unserer Schützen.





Fragen aus der Praxis - Antworten für die Praxis





Das abschließende Kapitel wurde erst nach der Vorstellung oben skizzierter Inhalte dieses Buches konzipiert. Teilnehmer an Trainerweiterbildungen haben in den unterschiedlichsten Veranstaltungen immer wieder konkrete Fragen gestellt, die dann auch in die Aus- und Fortbildung eingeflossen sind. Da viele der angesprochenen Themen immer wiederkehrten, wurde eine Auswahl der disziplinübergreifenden Probleme in diesem Kapitel zusammengefasst, wohl wissend, dass es darüber hinaus noch weitere Fragestellungen gibt, aber auch in der Hoffnung, dass die Ausführungen eine Hilfe bei der Lösung so manchen praktischen Problems sein können.



Wir hoffen, mit den skizzierten Inhalten wesentliche Interessen aller im Schießsport tätigen Schützen und Trainer getroffen zu haben. Uns ist bewusst, dass die vorliegende Broschüre auch Lücken, sowohl im Wissen als auch hinsichtlich einsetzbarer und wirksamer Maßnahmen, offenbart. Hier liegen unsere künftigen Forschungsaufgaben, aber auch Ansatzpunkte, die als Anreiz für einen gemeinsamen Erfahrungsaustausch, verbunden mit der Suche nach Bewältigungsmöglichkeiten dienen könnten. Damit ist gesagt, dass die Ausführungen über die Bedürfnisse der Sportler und Trainer hinaus auch auf eine Förderung und Qualifizierung der psychologischen Arbeit im Schießsport insgesamt gerichtet sind.






2. Leistungsbestimmende psychische Komponenten im Sportschießen

„Praxis ohne Theorie ist blind, Theorie ohne Praxis unfruchtbar“

John Desmond Bernal

2.1. Einige, nicht ganz so theoretische Vorbemerkungen



Spitzenschützen zeichnen sich durch eine besondere geistige Leistungsfähigkeit aus. Diese Aussage lässt sich anhand von Beurteilungen erfahrener Praktiker sowie vieler sportpsychologischer Untersuchungsergebnisse belegen. Zwischen leistungsstarken und weniger leistungsstarken Schützen existieren im körperlichen Bereich (zum Beispiel körperbauliche Merkmale, Kraft) keine oder nur geringfügige Unterschiede, dafür aber bei bestimmten psychischen Leistungsvoraussetzungen deutliche. Es steht außer Zweifel, dass die geistige Leistungsfähigkeit letztlich den Erfolg eines Schützen bestimmt.



Wenn das so ist, kommt es darauf an, im sportlichen Training sowohl die notwendigen körperlichen als auch die geistigen (psychischen) Leistungsvoraussetzungen zu entwickeln. Das kann ein Trainer oder Sportler aber nur, wenn er genau weiß, was eigentlich ausgebildet werden soll. Im sporttechnischen oder athletischen Bereich gibt es da kaum Probleme. Jeder Schütze könnte sofort Eigenschaften (z.B. Kraft, Kondition, sporttechnische Fertigkeiten) und dazugehörige Trainingsmittel aufführen, die zur Ausbildung konkreter sporttechnischer Fertigkeiten oder athletischer Voraussetzungen geeignet sind.



Aber welche psychischen Leistungsvoraussetzungen sollen entwickelt werden? Gibt es dafür bereits bewährte Methoden? In der Fachliteratur finden wir eine verwirrende Vielfalt der Beschreibung verschiedenster psychischer Eigenschaften, deren Bedeutung für das Sportschießen jedoch oftmals nicht ausreichend begründet wird. Einige Beispiele: Mobilisationsfähigkeit, Steigerungsfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit, Wahrnehmungstempo, Mut, psychische Stabilität. Diese Reihe ließe sich ohne Schwierigkeiten fortsetzen.



Es existieren Eigenschaftslisten für das Sportschießen mit mehr als 50 sogenannten leistungsbestimmenden oder -beeinflussenden Eigenschaften. Aber wer weiß schon, was sich hinter den Begriffen verbirgt, welche Unterschiede zwischen einzelnen Eigenschaften bestehen und welche schließlich wirklich die wesentlichsten sind. Diese eher vorwissenschaftlichen Eigenschaftszusammenstellungen (oft auch Anforderungsprofile genannt) liefern kaum Informationen. Im Gegenteil, sie tragen zur allgemeinen Verwirrung bei.



Voraussetzung für die Ermittlung der leistungsbestimmenden Eigenschaften ist eine gründliche Analyse der sportlichen Tätigkeit, in unserem Falle der schießsportlichen Disziplinen:



❶ Es steht zunächst die Frage, welche Anforderungen stellt die jeweilige Disziplin an den Schützen? Das werden im Gewehrschießen sicher andere sein als in den Wurfscheiben-Disziplinen. Diese objektiven Leistungsvoraussetzungen existieren unabhängig vom Schützen.



❷ Die zweite Frage ist die nach den subjektiven Leistungsvoraussetzungen. Diese entscheiden letztlich darüber, ob und in welcher Qualität die geforderte sportliche Leistung erbracht werden kann. Verfügt der Schütze zum Beispiel über die notwendige Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit?



❸ Die sportliche Leistung ist immer unter bestimmten Bedingungen zu erbringen. Dabei unterscheiden wir unveränderliche Bedingungen (Regeln/Vorschriften) und veränderliche (Umweltbedingungen: Temperatur, Wind, Lichtverhältnisse). Insbesondere letztere sind bei der Ableitung wichtiger Eigenschaften zu beachten, da diese die Anforderungen entscheidend erhöhen können: Wechselnder Wind stellt höhere Anforderungen an die Konzentration (Gewehr) oder Reaktion (Wurfscheibe).








Die Abbildung 1 verdeutlicht die dreifache Abhängigkeit der sportlichen Leistung, die bei einer umfassenden Tätigkeitsanalyse beachtet werden muss. Es genügt also nicht, am