Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Da stand der Oberst auf, trat auf Va­ter Mi­lon zu und sprach mit mil­de­rer Stim­me:

– Hört mich an, Al­ter, viel­leicht gibt es noch ein Mit­tel, Euch das Le­ben zu ret­ten, wenn Ihr…

Aber der hör­te nicht. Er starr­te dem Of­fi­zier des sieg­rei­chen Hee­res fest in die Au­gen, wäh­rend der Wind in sei­nem dün­nen Haar­flaum spiel­te, und schnitt eine schau­der­haf­te Gri­mas­se, dass sein zer­haue­nes Ge­sicht sich furcht­bar ver­zerr­te. Dann blies er die Brust auf und spie dem Preu­ßen mit al­ler Ge­walt ins An­ge­sicht.

Der Oberst er­hob wü­tend die Hand, aber da spie er schon wie­der…

Die Of­fi­zie­re wa­ren sämt­lich auf­ge­sprun­gen und brüll­ten Kom­man­dos durch­ein­an­der.

Ehe noch eine Mi­nu­te ver­ging, war der wa­cke­re Kerl, der noch im­mer un­ge­rührt schi­en, an die Mau­er ge­stellt und er­schos­sen. Sei­nem äl­tes­ten Soh­ne, sei­ner Schwie­ger­toch­ter und den bei­den Klei­nen, die ver­zwei­felt zu­sa­hen, hat­te er noch zu­ge­lä­chelt.

*

Am Frühlingsabend

Jean­ne soll­te ih­ren Vet­ter Jac­ques bald hei­ra­ten. Sie kann­ten sich schon von Kind­heit an, und dar­um hat­te die Lie­be zwi­schen ih­nen nicht je­nes ze­re­mo­ni­el­le Ge­prä­ge an­ge­nom­men, wie es sonst bei Braut­leu­ten be­ob­ach­tet wird. Sie wa­ren zu­sam­men groß ge­wor­den, ohne zu ah­nen, dass sie sich lieb­ten. Das jun­ge Mäd­chen, das et­was ge­fall­süch­tig war, hat­te zwar ein paar un­schul­di­ge Tän­de­lei­en ver­sucht; sie fand den jun­gen Mann über­dies recht nett und hielt ihn für brav, und je­des Mal, wenn sie sich wie­der­sa­hen, küss­te sie ihn recht von Her­zen. Aber sie küss­ten sich doch ohne je­den Schau­der, der den Kör­per von den Fin­gern bis zu den Ze­hen durch­rie­sel­t…

Er dach­te ganz ein­fach: sie ist ein net­tes Ding, mei­ne klei­ne Cou­si­ne; und wenn er an sie dach­te, so ge­sch­ah dies mit je­ner in­stink­ti­ven Zärt­lich­keit, die je­der Mann ei­nem hüb­schen jun­gen Mäd­chen ge­gen­über emp­fin­det. Wei­ter gin­gen sei­ne Ge­dan­ken je­doch nicht.

Doch da hat­te Jean­ne ei­nes Ta­ges durch Zu­fall ge­hört, wie ihre Mut­ter zu ih­rer Tan­te sag­te – Tan­te Al­ber­ta, denn Tan­te Li­son war le­dig ge­blie­ben –: »Ich kann dir ver­si­chern, sie wer­den sich so­fort lie­ben, die­se Kin­der; das sieht man ja. Und Jac­ques ist ganz der Schwie­ger­sohn nach mei­nem Her­zen.«

Von die­sem Tage an hat­te Jean­ne ih­ren Vet­ter Jac­ques an­ge­be­tet. Seit­her er­rö­te­te sie bei sei­nem An­blick und ließ ihre Hand in der des jun­gen Man­nes zit­tern, Ihre Au­gen senk­ten sich scham­haft, wenn ihre Bli­cke sich be­geg­ne­ten, und wenn er sie küss­te, tat sie, als ob sie sich sträub­te, – und dies al­les so gut, dass er’s merk­te… Er hat­te ver­stan­den, und in ei­nem hol­den Au­gen­bli­cke, wo ihn die ge­schmei­chel­te Ei­tel­keit nicht we­ni­ger hin­riss, als die wah­re Nei­gung, hat­te er sei­ne Cou­si­ne fest in die Arme ge­schlos­sen und ihr ein »Ich lie­be dich! Ich lie­be dich!« ins Ohr ge­haucht.

Seit­her herrsch­te ein zärt­li­ches Gir­ren und ar­ti­ges Tän­deln in al­len Ton­ar­ten der Lie­be; die ver­trau­te Be­kannt­schaft von Kind­heit an mach­te ihr Be­neh­men dop­pelt zwang­los und un­ge­bun­den. Im Wohn­zim­mer küss­te Jac­ques sei­ne Zu­künf­ti­ge un­ge­niert vor den drei al­ten Da­men, sei­ner Mut­ter und ih­ren bei­den Schwes­tern, Tan­te Al­ber­ta und Tan­te Li­son. Ta­ge­lang ging er mit ihr al­lein in den Wald, am Flüss­chen ent­lang oder durch die Wie­sen, de­ren Gras­tep­pich schon von den ers­ten Früh­lings­blu­men durch­wirkt war. So er­war­te­ten sie den fest­ge­setz­ten Tag ih­rer end­li­chen Ve­rei­ni­gung ohne all­zu große Un­ge­duld; viel­mehr schwam­men sie in ei­tel Se­lig­keit und ge­nos­sen den pri­ckeln­den Reiz der ver­hal­te­nen Lieb­ko­sun­gen, der war­men Hän­de­drücke und lan­gen, glü­hen­den Bli­cke, in de­nen ihre See­len zu ver­schmel­zen schie­nen… Das un­be­stimm­te Ver­lan­gen nach in­ni­ge­ren Umar­mun­gen quäl­te sie mit sü­ßer Pein, und auf ih­ren Lip­pen, die sich such­ten, lag eine lau­ern­de, war­ten­de, ver­hei­ßen­de Un­ge­duld…

Manch­mal, wenn sie den gan­zen Tag im schwü­len Dunst­krei­se die­ser pla­to­ni­schen Zärt­lich­kei­ten zu­ge­bracht hat­ten, spür­ten sie abends eine läh­men­de Star­re am Her­zen und seufz­ten aus tiefs­ter Brust, ohne zu wis­sen, warum, ohne zu ver­ste­hen, dass es die Er­war­tung war, die ihre Seuf­zer schwell­te.

Die bei­den Müt­ter und ihre Schwes­ter, Tan­te Li­son, sa­hen die­ser jun­gen Lie­be mit zärt­li­chem Lä­cheln zu; be­son­ders Tan­te Li­son war be­wegt, wenn sie die bei­den zu­sam­men sah.

Sie war ein klei­nes Däm­chen, sprach we­nig, war meist für sich al­lein, stets ge­räusch­los, und er­schi­en ei­gent­lich nur zu den Mahl­zei­ten, um gleich nach­her wie­der auf ihr Zim­mer zu ge­hen, wo sie sich be­stän­dig ein­schloss. Sie hat­te ein gu­tes, ält­li­ches Ge­sicht und sanf­te, trau­ri­ge Au­gen; von der Fa­mi­lie wur­de sie kaum be­ach­tet. Die bei­den ver­wit­we­ten Schwes­tern, die in der Welt doch et­was vor­ge­stellt hat­ten, sa­hen sie als et­was ganz Be­deu­tungs­lo­ses an. Man be­han­del­te sie mit größ­ter Ver­trau­lich­keit und mit ei­ner leicht ver­ächt­li­chen Nach­sicht ge­gen die alte Jung­fer… Ei­gent­lich hieß sie Lise; sie war jung ge­we­sen, als Béran­ger Frank­reich be­herrsch­te. Als man aber sah, dass sie nicht hei­ra­te­te, dass sie ganz ge­wiss nicht mehr hei­ra­ten wür­de, än­der­te man ih­ren Na­men in Li­son um und nann­te sie Tan­te Li­son. Jetzt war sie ein al­tes, be­schei­de­nes, et­was ei­ge­nes Däm­chen, und höchst ängst­lich ge­gen die Ih­ri­gen, de­ren Zu­nei­gung zu ihr sich aus Ge­wohn­heit, Mit­leid und wohl­wol­len­der Gleich­gül­tig­keit zu­sam­men­setz­te.

Die Kin­der ka­men nie zu ihr her­auf, um sie zu küs­sen. Nur das Mäd­chen be­trat zu­wei­len ihre Schwel­le. Wenn man mit ihr spre­chen woll­te, ließ man sie ho­len. Man wuss­te kaum, wo das Zim­mer­chen lag, in dem die­ses arme, ein­sa­me Le­ben ver­floss… Sie hat­te durch­aus kei­ne Stel­lung. Wenn sie nicht zu­ge­gen war, war von ihr nie die Rede. Man dach­te auch nie an sie. Sie ge­hör­te zu je­nen ver­ges­se­nen We­sen, die selbst ih­ren nächs­ten An­ge­hö­ri­gen un­be­kannt und gleich­sam un­ent­deckt blei­ben, de­ren Tod in ei­nem Hau­se kei­ne Lücken reißt, und die nicht ver­ste­hen, in das Da­sein und die Ge­wohn­hei­ten oder in die Lie­be ih­rer Mit­menschen ein­zu­drin­gen.

Sie ging im­mer mit klei­nen ei­li­gen und ge­dämpf­ten Schrit­ten; sie mach­te nie ein Geräusch, stieß nie an et­was an und schi­en den Din­gen die Ei­gen­schaft ab­so­lu­ter Laut­lo­sig­keit mit­zu­tei­len. Ihre Hän­de hät­ten von Wat­te sein kön­nen: so leicht und be­hut­sam fass­te sie al­les an.

Wenn man »Tan­te Li­son« sag­te, so er­weck­ten die­se zwei Wor­te in der Vor­stel­lung der Hö­rer kei­nen an­de­ren Ein­druck, als ob man »die Kaf­fee­kan­ne« oder »die Zucker­do­se« sag­te. Die Hün­din Lou­che hat­te ent­schie­den eine aus­ge­spro­che­ne­re Per­sön­lich­keit; sie wur­de fort­wäh­rend ge­lieb­kost und ge­ru­fen: »Komm, mein lie­bes Louch­e­chen, mein schö­nes klei­nes Louch­e­chen!« Man hät­te ihr un­gleich mehr nach­ge­weint.

Der Vet­ter und die Cou­si­ne soll­ten Ende Mai hei­ra­ten. Die jun­gen Leu­te leb­ten nur noch Aug’ in Auge und Hand in Hand; sie wa­ren be­reits ein Herz und eine See­le. Es wur­de die­ses Jahr erst spät und nur zö­gernd Früh­ling. In den hel­len Frost­näch­ten und mor­gens in den Früh­ne­beln war es noch zum Zäh­ne­klap­pern. Dann plötz­lich kam der Lenz mit Macht. Ein paar war­me, et­was duns­ti­ge Tage hat­ten ge­nügt, um den Saft, der noch in der Erde schlief, in Be­we­gung zu set­zen. Die Blät­ter ent­fal­te­ten sich wie durch ein Wun­der, und über­all schweb­te ein be­rau­schen­der, er­mat­ten­der Duft von Knos­pen und er­blü­hen­den Blu­men.

End­lich, ei­nes Nach­mit­tags, hat­te die Son­ne die um­her­trei­ben­den Düns­te auf­ge­so­gen und war mit sieg­rei­chem Pran­gen über der Ebe­ne auf­ge­gan­gen. Ihre hei­te­re Klar­heit durch­ström­te das gan­ze Land und durch­drang al­les, Pflan­zen, Tie­re und Men­schen. Die Vö­gel schwirr­ten lo­ckend und su­chend um­her und schlu­gen mit den Flü­geln. Jac­ques und Jean­ne sa­ßen den gan­zen Tag lang bei ein­an­der auf ei­ner Bank vor dem Schloss­por­tal. Das neue Glück be­ängs­tig­te sie; sie wa­ren furcht­sa­mer als ge­wöhn­lich. Sie fühl­ten, wie es sich in ih­nen reg­te, ganz wie in den Bäu­men, und wag­ten nicht al­lein hin­aus­zu­ge­hen. Ihre Au­gen ruh­ten un­be­stimmt auf dem Teich, der dort un­ten lag und auf dem die großen Schwä­ne sich ver­folg­ten.

Erst als es Abend ward, fühl­ten sie sich er­leich­tert und ru­hi­ger; nach dem Es­sen lehn­ten sie im of­fe­nen Fens­ter des Wohn­zim­mers und plau­der­ten ver­liebt, wäh­rend die bei­den Müt­ter in dem Licht­krei­se, den der run­de Lam­pen­schirm ab­schloss, ihr Pi­ket spiel­ten und Tan­te Li­son für die Orts­ar­men St­rümp­fe strick­te.

Fern hin­ter dem Tei­che brei­te­te ein ein­zel­ner Baum sei­ne ho­hen Wip­fel, und plötz­lich brach durch das kaum ent­spross­te Blät­ter­grün das sil­ber­ne Mond­licht. Lang­sam wan­del­te die lich­te Schei­be durch die Äste, die sich fein­ge­zähnt da­ge­gen ab­ho­ben, zu den Hö­hen des Him­mels em­por, und die Ster­ne um­her er­lo­schen. Über alle Welt er­goss sich der ma­gi­sche Schim­mer, in dem die Düns­te und die Träu­me der Be­trüb­ten, der Dich­ter und Lie­ben­den sich wie­gen…

Die jun­gen Leu­te hat­ten dem auf­ge­hen­den Mon­de zu­ge­schaut; dann, als die wei­che Mil­de der Nacht sie um­floss und der Däm­mer, der auf den Wie­sen und über den Baum­mas­sen web­te, sie lo­ckend ver­zau­ber­te, wa­ren sie hin­aus­ge­gan­gen und wan­del­ten lang­sa­men Schrit­tes auf dem großen, mond­wei­ßen Ra­sen­platz bis zum schil­lern­den Tei­che.

 

In­zwi­schen hat­ten die bei­den Müt­ter ihre all­abend­li­chen vier Par­ti­en Pi­ket be­en­det und die Au­gen be­gan­nen ih­nen zu­zu­fal­len; sie sehn­ten sich nach Ruhe.

– Wir müs­sen die Kin­der ru­fen, sag­te die eine.

Mit schnel­lem Bli­cke durch­flog die an­de­re den Teil des Gar­tens, in dem die zwei Schat­ten­ge­stal­ten sich lang­sam er­gin­gen.

– Lass sie doch noch! riet sie. Es ist ja so schön drau­ßen. Li­son kann auf sie war­ten. Nicht wahr, Li­son?

Die alte Jung­fer hob un­ru­hig die Au­gen und ant­wor­te­te mit ängst­li­cher Stim­me:

– Ge­wiss, ich wer­de auf sie war­ten.

Da­rauf gin­gen die bei­den Schwes­tern zu Bet­te.

Als sie her­aus wa­ren, stand Tan­te Li­son auch auf, ließ die an­ge­fan­ge­ne Ar­beit samt der Wol­le und der großen Na­del auf dem Arme des Lehn­stuhls lie­gen und leg­te sich mit den El­len­bo­gen ins Fens­ter, um die lieb­li­che Nacht zu ge­nie­ßen.

Die bei­den Lie­ben­den gin­gen im­mer noch über den Ra­sen­platz, vom Teich bis zur Trep­pe und von der Trep­pe bis zum Tei­che. Sie drück­ten sich die Hän­de und hat­ten auf­ge­hört, zu spre­chen, als wä­ren sie ganz ent­rückt und bil­de­ten nur noch einen Teil die­ses Mär­chen­zau­bers, der auf der Welt lag. Jean­ne er­blick­te plötz­lich im Fens­ter­rah­men den Schat­ten der al­ten Dame, der sich scharf ge­gen das Lam­pen­licht ab­hob.

– Halt, sag­te sie ste­hen blei­bend, Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns.

Jac­ques blick­te auf.

– In der Tat, Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns.

Sie gin­gen dann un­ge­stört wei­ter, wie vor­her, und träum­ten und lieb­ten, wie vor­her. Doch das Gras war vol­ler Tau. Es war kühl und sie frös­tel­ten.

– Wol­len wir nicht hin­ein ge­hen? schlug Jean­ne vor.

Jac­ques nick­te und sie gin­gen wie­der ins Haus.

Als sie ins Wohn­zim­mer tra­ten, saß Tan­te Li­son wie­der über ihre Ar­beit ge­beugt und strick­te; ihre klei­nen, dür­ren Fin­ger zit­ter­ten ein we­nig, wie von Über­mü­dung.

Jean­ne trat nä­her.

– Wir wol­len jetzt zu Bet­te ge­hen, Tan­te.

Das alte Däm­chen schlug die Au­gen auf. Sie wa­ren rot, als hät­te sie ge­weint. Doch Jac­ques und sei­ne Braut ach­te­ten nicht dar­auf. Der jun­ge Mann merk­te nur, dass die dün­nen Le­der­schu­he sei­nes Mäd­chens von Tau trief­ten. Ängst­lich frag­te er:

– Hast du nicht kalt an dei­nen lie­ben klei­nen Füß­chen?

Plötz­lich be­gan­nen die Fin­ger der al­ten Tan­te so hef­tig zu zit­tern, dass die Ar­beit ih­nen ent­fiel und das Woll­knäu­el weit über den Bo­den roll­te. Sie ver­barg das Ge­sicht in den Hän­den und fing an zu wei­nen; es war ein hef­ti­ges, krampf­haf­tes Schluch­zen.

Die bei­den Kin­der stürz­ten auf sie zu; Jean­ne knie­te nie­der und nahm ihr die zit­tern­den Hän­de von den Au­gen.

– Was ist dir, Tan­te Li­son? Wa­rum weinst du?

– Weil… Weil… stot­ter­te die alte Dame; ihre Stim­me schi­en in Trä­nen zu zer­flie­ßen, und ein kramfhaf­tes Zit­tern ging durch ih­ren Kör­per, Weil er dich frag­te… hast du nicht kal­t… an dei­nen lie­ben klei­nen Füß­chen… Das… hat mir nie ei­ner ge­sag­t… mir nie!…

*

Der Blinde

Wa­rum freu­en wir uns doch so sehr über die ers­te Lenz­son­ne? Wa­rum er­füllt uns die­ses Licht, das die Erde be­scheint, so mit neu­em Le­bens­glück? Der Him­mel ist so blau, die Flur so grün, die Häu­ser so weiß; und uns­re Au­gen fan­gen die­se Far­ben mit Ent­zücken auf, um sie in See­len­freu­de um­zu­set­zen. Und uns wan­delt die Lust an, zu tan­zen, zu lau­fen und zu sin­gen; uns­re Ge­dan­ken sind so glück­lich und leicht; un­ser Herz wei­tet sich so zärt­lich; wir möch­ten die Son­ne um­ar­men…

Nur die Blin­den sit­zen stumpf in den Tü­ren, von ewi­ger Nacht um­fan­gen. Sie sind ru­hig, wie im­mer, auch in­mit­ten die­ses la­chen­den Froh­sinns, und alle Mi­nu­ten hei­ßen sie ih­ren Hund, der mit sprin­gen und ja­gen möch­te, sich ru­hig zu ver­hal­ten; sie ver­ste­hen ja nicht… Erst wenn sie bei sin­ken­der Son­ne am Arm ei­nes jün­ge­ren Bru­ders oder ei­ner klei­nen Schwes­ter ins Haus zu­rück­keh­ren und das Kind sagt: »Ach, heu­te war es schön drau­ßen!«, dann ant­wor­ten sie wohl: »Ich hab’ es wohl ge­merkt, dass es schön war; Lou­lou woll­te gar­nicht still­sit­zen«.

Ich kann­te einen sol­chen Men­schen, für den das Le­ben eine der grau­sams­ten Mar­tern war, die sich den­ken las­sen. Er war ein Bau­er, der Sohn ei­nes Päch­ters aus der Nor­man­die. So­lan­ge Va­ter und Mut­ter leb­ten, wur­de ei­ni­ger­ma­ßen für ihn ge­sorgt, so­dass er nur an sei­ner ent­setz­li­chen Blind­heit zu tra­gen hat­te, aber seit die Al­ten tot wa­ren, be­gann sein Mar­ty­ri­um. Eine Schwes­ter nahm ihn zu sich, aber je­der­man im Hofe be­han­del­te ihn wie einen Bett­ler, der an­de­rer Leu­te Brot aß. Kei­ne Mahl­zeit ver­ging, bei der man ihm nicht sei­ne Nah­rung miss­gönn­te, ihn Faul­len­zer und Klet­te schalt; und trotz­dem sein Schwa­ger sich sei­nes Erb­teils be­mäch­tigt hat­te, gab man ihm kaum so viel Sup­pe, dass er nicht ver­hun­ger­te.

Sein Ge­sicht war ganz fahl; zwei große wei­ße Au­gens­ter­ne wa­ren wie Obla­ten hin­ein­ge­drückt. Er blieb gleich­gül­tig ge­gen die Schelt­wor­te und so in sich ge­kehrt, dass man nicht wuss­te, ob er sie über­haupt emp­fand. Er hat­te ja auch nie ihr Ge­gen­teil ken­nen ge­lernt. Sei­ne Mut­ter hat­te ihn im­mer et­was un­sanft be­han­delt und lieb­te ihn nicht eben sehr; denn auf dem Lan­de gilt al­les, was un­nütz ist, für schäd­lich, und die Bau­ern tä­ten es am liebs­ten den Hüh­nern nach und bräch­ten, wenn sie könn­ten, alle Ge­brech­li­chen um.

So­bald er sei­ne Sup­pe her­un­ter hat­te, stand er auf und setz­te sich – im Som­mer vor die Haus­tür, im Win­ter an den Ofen, und von dort rühr­te er sich nicht mehr bis zum Abend. Er blieb ohne Ge­bär­den, ja ohne Be­we­gun­gen sit­zen; nur sei­ne Au­gen­li­der durch­lief oft ein ner­vö­ses Zu­cken, wäh­rend sie über sei­ne wei­ßen Au­gäp­fel her­ab­fie­len. Hat­te er Geist, Ver­stand und deut­li­ches Le­bens­be­wusst­sein? Die­se Fra­ge leg­te sich nie ei­ner vor.

So ging es ei­ni­ge Jah­re lang. Doch sein Stumpf­sinn und mehr noch sei­ne ab­so­lu­te Un­brauch­bar­keit er­bit­ter­ten schließ­lich sei­ne An­ge­hö­ri­gen und er wur­de bald zur Ziel­schei­be des Spot­tes, zum Mär­ty­rer-Po­panz, zur will­kom­me­nen Beu­te der an­ge­bo­re­nen Nie­der­tracht und bar­ba­ri­schen Freu­de sei­ner bru­ta­len Um­ge­bung. Alle Pos­sen, die sei­ne Blind­heit er­mög­lich­te, wur­den mit ihm an­ge­stellt. Und um sich für das, was er aß, be­zahlt zu ma­chen, trie­ben sei­ne An­ver­wand­ten wäh­rend der Mahl­zeit ih­ren Spott mit ihm und fopp­ten ihn zum Ver­gnü­gen der Nach­barn und zur Qual für den Wehr­lo­sen.

Alle Bau­ern aus der Nach­bar­schaft er­schie­nen zu die­sen Be­lus­ti­gun­gen; man sag­te sich von Tür zu Tür Be­scheid, und die Kü­che des Pacht­ho­fes war je­den Tag ge­drängt voll. Zu­nächst setz­te man einen Hund oder eine Kat­ze auf den Tisch vor den Tel­ler, aus dem der Un­glück­li­che sei­ne Fleisch­brü­he löf­fel­te. Das Tier, das die Schwä­che des Es­sers bald her­aus hat­te, kam sach­te her­an­ge­schli­chen und schleck­te in stil­lem Be­ha­gen mit, bis ein zu lau­tes Zun­gen­schnal­zen die Auf­merk­sam­keit des ar­men Teu­fels schließ­lich er­reg­te: dann mach­te es sich be­hut­sam da­von und wich dem Löf­fel, mit dem der Blin­de plan­los vor sich hin­schlug, ohne viel Mühe aus.

Lau­tes Ge­läch­ter, Ge­drän­ge und Ge­tram­pel der Zuschau­en­den, die dicht ge­drängt an den Wän­den stan­den, folg­te die­ser Pro­ze­dur, wäh­rend der Gef­opp­te, ohne ein Wort zu sa­gen, wie­der zu es­sen be­gann, und mit der vor­ge­hal­te­nen Lin­ken sei­nen Tel­ler be­schütz­te und ver­tei­dig­te.

Dann gab man ihm Pfrop­fen, Holz, Blät­ter und schließ­lich Dreck zu es­sen, was er nicht un­ter­schei­den konn­te. Und schließ­lich, da auch das lang­wei­lig wur­de und die Spä­ße nicht mehr zo­gen, be­gann der Schwa­ger in sei­ner Wut, dass er ihn er­näh­ren muss­te, ihn mit Püf­fen und Schlä­gen zu trak­tie­ren und lach­te über die ver­geb­li­chen An­stren­gun­gen des Un­glück­li­chen, die Schlä­ge zu pa­rie­ren oder hin­aus­zu­ge­ben. Daraus wur­de dann ein neu­es Spiel, das Maul­schel­len­spiel: Och­sen- und Pfer­de­knech­te, Mäg­de, al­les zog ihm fort­wäh­rend die Hän­de durchs Ge­sicht, und sei­ne Li­der zuck­ten dann noch hef­ti­ger. Er wuss­te nicht, wo­hin er sich vor ih­nen ret­ten soll­te, und ging dar­um im­mer mit vor­ge­streck­ten Ar­men, da­mit ihm kei­ner zu nahe käme.

End­lich zwang man ihn, zu bet­teln. An Markt­ta­gen stell­te man ihn auf die Stra­ßen, und so­bald das Geräusch von Schrit­ten oder das Na­hen ei­nes Wa­gens hör­bar ward, muss­te er sei­nen Hut zie­hen und sein: »Bit­te um ein klei­nes Al­mo­sen!« her­be­ten.

Aber der Bau­er ist knicke­rig, und so ver­gin­gen oft Wo­chen, wo er nicht einen Sou heim­brach­te. Seit­dem wuchs der Hass ge­gen ihn ins Gren­zen­lo­se, Er­bar­mungs­lo­se. Und dies war sein Tod.

Ein­mal im Win­ter, als die Erde dicht ver­schneit und es mör­de­risch kalt war, führ­te ihn sein Schwa­ger am frü­hen Mor­gen weit fort auf eine Land­stra­ße, wo er um Al­mo­sen bet­teln soll­te. Dort ließ er ihn den gan­zen Tag über ste­hen, und als es Nacht wur­de, er­klär­te er sei­nen Leu­ten, er hät­te ihn nicht wie­der­ge­fun­den. »Nee«, setz­te er hin­zu, »um Den brau­chen wir uns kei­ne Sor­ge zu ma­chen. Es wird ihn schon ei­ner mit­ge­nom­men ha­ben, wenn ihm kalt war. I wo, der ist nicht drauf­ge­gan­gen. Der wird mor­gen schon wie­der kom­men und sei­ne Sup­pe wol­len.«

Er kam aber nicht wie­der.

Stun­den­lang hat­te er ge­stan­den und ge­war­tet. Dann, als er fühl­te, dass er er­frie­ren wür­de, war er blind­lings drauf los­ge­gan­gen. Er konn­te den ver­schnei­ten Stra­ßen­zug un­ter der Schnee­de­cke nicht er­ken­nen und stürz­te in ver­schnei­te Grä­ben, ar­bei­te­te sich wie­der hoch und such­te still­schwei­gend nach ei­nem Hau­se.

Aber der ei­si­ge Schnee durch­käl­te­te ihn all­mäh­lich im­mer mehr, und als ihn sei­ne schwa­chen Bei­ne nicht mehr tra­gen konn­ten, setz­te er sich mit­ten auf einen Acker, von dem er nicht mehr auf­stand.

Bald hat­ten die wei­ßen Schnee­flo­cken ihn ganz zu­ge­deckt. Sein steif ge­wor­de­ner Kör­per ver­schwand un­ter ih­rer dich­ten De­cke, die sich be­stän­dig er­höh­te, und bald ver­riet nichts mehr die Stel­le, wo der Leich­nam lag.

Sei­ne Ver­wand­ten stell­ten zum Schei­ne Nach­for­schun­gen an und such­ten acht Tage. Sie wein­ten so­gar. Aber der Win­ter war rau und es thau­te erst spät. So fand sich vor­der­hand nichts.

Als die Päch­ters­leu­te ei­nes Sonn­tags zur Mes­se gin­gen, sa­hen sie, wie ein großer Ra­ben­schwarm un­abläs­sig über der Ebe­ne kreis­te und sich dann wie eine schwar­ze Re­gen­wol­ke auf einen be­stimm­ten Fleck nie­der­ließ, wie­der auf­flog und im­mer wie­der zu­rück­kehr­te.

Die Wo­che dar­auf wa­ren sie im­mer noch da, die un­heim­li­chen Vö­gel. Der Him­mel war schwarz von ih­rem Ge­wim­mel, als wä­ren sie von al­len vier Win­den zu­sam­men­ge­flo­gen; sie lie­ßen sich mit lau­tem Ge­krächz auf den glän­zen­den Schnee nie­der, wühl­ten hart­nä­ckig dar­in her­um und be­fleck­ten ihn ei­gen­tüm­lich.

Ein Bursch lief hin, um nach­zu­se­hen, was sie da mach­ten, und ent­deck­te den Ka­da­ver des Blin­den; er war zer­hackt und schon halb auf­ge­fres­sen. Sei­ne wei­ßen Au­gäp­fel wa­ren von den ge­frä­ßi­gen Schnä­beln her­aus­ge­hack­t…

Und je­des Mal, wenn ich die Le­bens­freu­de der ers­ten Son­nen­ta­ge spü­re, kommt mir die trü­be Erin­ne­rung und der weh­mü­ti­ge Ge­dan­ke an die­sen Ent­erb­ten des Le­bens wie­der, des­sen schau­er­li­cher Tod für alle, die ihn kann­ten, eine Er­lö­sung war.

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