Das letzte Schwurgericht

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10

Die Person stand am Wohnzimmerfenster im obersten Stock des Achtfamilienhauses am Friedrich-Ebert-Ring und sah hinaus auf den Ringpark, der sich vor dem Haus erstreckte. Durch die erhöhte Lage der Mietwohnung befand sich die Person zum Teil über den Baumwipfeln des Parks. Die Sonne schien von einem azurblauen Himmel und erzeugte, jetzt, um die Mittagszeit, hochsommerliche Temperaturen zwischen den Häuserschluchten der Stadt. Die Bäume und Sträucher hatten schon seit Monaten das frische Grün des Frühlings verloren und zeigten das stumpfere Dunkelgrün dieser Jahreszeit.

Die Person am Fenster nahm das alles nicht bewusst wahr. Ihre Gedanken waren weit weg, während sie mit stierem Blick einen unbestimmten Punkt irgendwo in den Baumwipfeln fixierte. Ihr Herz war erfüllt von Hass und Wut. Dort gab es keinen Platz für Helligkeit und Frohsinn. Auf dem Wohnzimmertisch lag die aufgeschlagene Tageszeitung, obenauf stach ein Artikel über einen zweiten ungeklärten Todesfall in Würzburg ins Auge:

Mysteriöser Mord im Steinbachtal

Bereits vor einigen Tagen berichteten wir über den mysteriösen Mordan Dr. Wilhelm Kürschner, dem ehemaligen Vorsitzenden des Schwurgerichts des Landgerichts Würzburg. Nun hat sich im Guttenberger Forst ein weiteres Tötungsdelikt an einem Mann ereignet, das hinsichtlich der grausamen Merkmale bei der Durchführung mit dem ersten Fall große Ähnlichkeit aufweist. Die Polizei hat auf Nachfrage unserer Redaktion bisher keine Einzelheiten genannt und auch keine Erklärung abgegeben, ob zwischen diesen beiden Tötungsdelikten ein Zusammenhang besteht. Wir werden weiter berichten.

Die Person nahm diesen Artikel mit Genugtuung zur Kenntnis. Die Mühlen ihrer Gerechtigkeit begannen zu mahlen.

11

Der Dienstag war extrem anstrengend gewesen. Simon Kerner hatte zwei große Schöffengerichtsverfahren durchgezogen und dabei insgesamt elf Zeugen vernommen. Insbesondere das zweite Strafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung, das am Nachmittag auf der Sitzungsliste stand, erforderte viel Geduld, weil sich die Zeugen nur teilweise an die beobachtete Tat erinnern konnten.

Kerner verließ das Gericht um 18 Uhr und fuhr direkt nach Partenstein. Steffi, seine Freundin, war schon zu Hause und hatte ein kleines Abendessen vorbereitet.

»Essen wir gemütlich auf der Veranda oder willst du heute noch auf die Jagd?« Sie sah ihn dabei mit einem speziellen Blick an, aus dem er das Versprechen auf eine besonders liebevolle Nachspeise heraushören konnte.

Kerner lächelte sie an. »Ich bin heute ziemlich geschafft. Ein gemütlicher Abend mit dir und einem schönen Glas Wein, das ist genau das, was ich heute für mein Glück benötige.« Er öffnete die Verandatür und trat ins Freie. Die Terrasse lag hinter dem Haus und gab den Blick auf den nahen Waldrand frei. Wenn man Glück hatte, konnte man sogar hin und wieder ein Reh beobachten, das sich an den Hecken der Baumgrenze gütlich tat.

Kerner deckte den Gartentisch. Steffi brachte aus der Küche zwei dampfende Filetsteaks, deren Duft Kerners Nase kitzelte. Jetzt erst bemerkte er seinen Hunger. Dazu trug Steffi eine Schüssel Salat auf, während Kerner eine Flasche Silvaner Spätlese aus dem Kühlschrank holte.

Eine Weile aßen sie schweigend.

»Schatz, die Steaks sind wieder auf den Punkt genau so gebraten, wie ich sie gerne mag«, unterbrach Kerner schließlich das Schweigen und lächelte sie an.

»Freut mich«, erwiderte sie, hob ihr Glas und prostete ihm zu.

Nachdem sie angestoßen hatten, fragte er: »Wie war dein Tag?«

Steffi erzählte ihm ein paar Episoden aus der Physiopraxis, in der sie arbeitete, dann wollte sie wissen »Und wie war es heute bei dir?«

Kerner zuckte mit den Schultern, während er den restlichen Bratensaft auf seinem Teller mit einem Stück Weißbrot auftupfte.

»Wir haben heute wieder ein paar unerfreulichen Zeitgenossen einige Jahre Staatspension verschafft.« Er steckte das Brot in den Mund und fuhr kauend fort: »Weißt du, es ist manchmal etwas mühsam. Gelegentlich habe ich das Gefühl, als würde ich versuchen, eine Hydra zu bekämpfen. Wenn man einen Gesetzesbrecher wegsperrt, wachsen zehn andere nach.«

Steffi schüttelte den Kopf. »So darfst du das nicht sehen. Wenn es keine Gerichte gäbe, würde die blanke Anarchie ausbrechen. Aber das weißt du auch. Du bist nur müde und musst dich entspannen.« Sie nahm den Bocksbeutel und schenkte ihm nach.

»Zündest du bitte eine Kerze an? Ich würde mich gerne ein bisschen auf die Hollywoodschaukel setzen und kuscheln. Es ist ein wunderbarer Abend. Und ab sofort, kein Wort mehr vom Job!« Sie hob drohend den Finger.

Kerner holte ein Gasfeuerzeug aus der Hosentasche und zündete eine dicke Kerze an. Er lächelte. Steffi hatte wirklich eine wunderbare Begabung, ihn immer wieder den Stress seines Berufs vergessen zu lassen. Nachdem sie das Geschirr abgetragen hatten, machten sie es sich auf der Schaukel bequem. Sie schmiegten sich aneinander und genossen den Wein. Beide waren in einer sehr entspannten Schmusestimmung. Langsam brach die Dämmerung herein.

Simon Kerner war anscheinend etwas eingeschlummert. Jedenfalls schrak er fürchterlich zusammen, als plötzlich ein lautes Klirren ertönte, dem eine Reihe von scheppernden Geräuschen folgte. Steffi stieß einen spitzen Schrei aus, und Kerner fuhr ruckartig von der Schaukel in die Höhe. Unwillkürlich griff er an seine Hüfte, aber da war natürlich keine Waffe. Sein Gehirn rief in solchen Schrecksekunden noch immer die während seiner Militärzeit tausendfach antrainierten Bewegungsabläufe ab, die in Gefahrensituationen lebensrettend gewesen waren.

»Um Gottes willen, was ist los?«, rief er hellwach und warf seiner Freundin einen besorgten Blick zu. Mittlerweile war es ziemlich dämmerig geworden, und die Veranda wurde nur vom Schein der Kerze ein wenig erhellt.

Steffi war ebenfalls aufgesprungen und hielt eine Hand erschrocken vor den Mund. Dabei starrte sie auf einen Haufen Scherben, die von einem größeren, tönernen Pflanzentopf stammten, der auf der Veranda auf einem metallenen Blumenständer gestanden hatte. Jetzt lag er zertrümmert auf den Steinplatten, Pflanze und Erde zwischen den Scherben zerstreut.

Kerner spürte die Gefahr und rief Steffi zu: »Los, schnell, rein ins Haus!« Er fasste sie beim Arm und schob sie durch die Verandatür ins Haus.

»Mein Gott, was ist denn los?«

»Ich weiß auch nicht genau«, erwiderte Kerner, »jedenfalls zerreißt es keinen Blumentopf von allein.« Er eilte zu einem Fenster und spähte hinter den Gardinen hervor in Richtung Waldrand. Kerner wollte Steffi nicht ängstigen, aber wie es aussah, hatte jemand auf den Blumentopf geschossen, obwohl man keinen Knall gehört hatte.

Steffi näherte sich mit der Hand dem Lichtschalter.

»Nein! Nicht! Lass das Licht bitte aus!«, verlangte er bestimmt. Seine Freundin sah ihn betroffen an. Kerner gab keine Erklärung ab, stattdessen schloss er alle Jalousien an den Fenstern, auch die zur Veranda, dann erst schaltete er das Licht ein.

»Was war das? Ein Anschlag?« In Steffis Stimme schwang Panik. Ihr Gesicht war bleich.

»Beruhig dich«, gab Kerner mit ernster Miene zurück, »ich mache das nur rein vorsorglich. Wir werden herausfinden, was das sollte.«

Steffi aber war keineswegs beruhigt. Eher das Gegenteil, da sie das Gefühl hatte, er wich einer konkreten Antwort aus.

»Ich werde jetzt Eberhard Brunner verständigen«, erklärte Kerner, »egal, was der Grund für diesen Vorfall ist, er muss auf jeden Fall untersucht werden.«

Er verließ das Wohnzimmer, eilte in sein Arbeitszimmer und wählte Brunners Telefonnummer.

»Guten Abend, Eberhard«, meldete sich Kerner, als sein Freund nach kurzem Läuten abnahm. »Tut mir leid, dass ich dich belästigen muss, aber ich benötige deine Hilfe. Es sieht so aus, als wäre soeben auf Steffi und mich geschossen worden!«

In der Leitung herrschte Stille. Brunner benötigte einen Moment, um diese Nachricht zu verdauen, dann erwiderte er: »Was ist geschehen? Wurde jemand verletzt?« Er zweifelte keine Sekunde an der Ernsthaftigkeit von Kerners Aussage.

Simon Kerner beruhigte seinen Freund und schilderte ihm kurz, was passiert war.

»Gott sei Dank wurden wir nicht verletzt. Ich habe zwar keinen Schuss gehört, aber so wie dieser Blumentopf zersplittert ist, gibt es eigentlich keine andere Erklärung. Ein Sprengkörper hätte eine wesentlich heftigere Wirkung gehabt, mal abgesehen vom Explosionsknall. Dann wäre uns der Topf sicher richtig um die Ohren geflogen. Wir saßen nur ein paar Meter davon entfernt. Außer dem Schrecken ist uns nichts passiert. Steffi ist natürlich sehr verstört.«

»Alles klar, Simon«, gab Brunner kurz zurück. »Ich werde ein paar Experten zusammentrommeln, dann kommen wir sofort nach Partenstein. Am besten bleibt ihr beiden so lange im Haus. Und bitte, lasst alles so, wie es ist.«

Kerner bestätigte, dann legte er auf. Anschließend ging er in sein Jagdzimmer und öffnete den Waffenschrank. Er nahm seinen Revolver heraus, lud die Waffe und legte sie in eine Schublade seines Schreibtisches, so dass er schnell auf sie zugreifen konnte. Kerner wollte sie nicht am Körper tragen, weil er dadurch Steffi noch mehr beunruhigt hätte. Da er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit und in Verbindung mit dem Emolino-Fall nach wie vor als gefährdete Person eingestuft war, hatte er noch immer einen dienstlichen Waffenschein. Sicher war eine Schusswaffe keine Lösung, aber nachdem sie ihm einmal das Leben gerettet hatte, hielt er es für angebracht, nach den Geschichten mit den Krähen und diesem Anschlag jetzt, sie rein vorsorglich griffbereit zu haben.

 

Steffi hatte die traumatischen Erlebnisse ihrer Entführung durch den Emolino-Klan vor Jahren noch immer nicht ganz verwunden. Sie war eine intelligente, junge Frau und ihr war klar: Dieses Ereignis heute Abend war kein Scherz. Da gab es auch nichts zu beschönigen. So wie der Schorf einer Wunde bei falscher Bewegung wieder aufbrechen konnte, brach die Erinnerung an die damaligen traumatischen Erlebnisse in diesem Moment plötzlich wieder voll durch. Steffi setzte sich zitternd in eine Ecke der Couch und schlang schützend die Arme um ihren Oberkörper.

»Ist das denn niemals vorbei?«, flüsterte sie leise, als Kerner wieder den Raum betrat.

Schnell setzte er sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern.

»Du musst keine Angst haben«, versuchte er, sie zu beruhigen, »Eberhard wird bald da sein. Wahrscheinlich wollte mich nur jemand erschrecken. Als Strafrichter macht man sich nur selten Freunde.«

Sie wusste natürlich, dass er sie nur trösten wollte. »Kann das mit der …, mit der Mafiasache von damals zu tun haben?«

Kerner wusste natürlich, was sie meinte. Sein erster Gedanke, als er die toten Krähen gefunden hatte, war auch in diese Richtung gegangen. Konnte dies eine Botschaft der Mafiafamilie sein, zu deren Ende er maßgeblich beigetragen hatte? Auch wenn das Landeskriminalamt die Strukturen der Main-Spessart-Familie angeblich zerschlagen hatte, gab es vielleicht immer noch einzelne Familienmitglieder, die nicht vergessen konnten, wem sie ihren Untergang zu verdanken hatten. Sein Gefühl sagte ihm aber, dass die Ursache anderswo lag.

»Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen«, gab Kerner daher zurück. So saßen sie fast eine Stunde. Kerner hielt seine Freundin im Arm und versuchte, ihr die Angst zu nehmen.

Sie atmeten beide auf, als sie vor dem Haus endlich den Motor eines Autos hörten, das vor dem Eingang des Grundstücks stoppte. Kerner ließ Steffi los und eilte zur Haustür.

»Danke, dass du so schnell gekommen bist«, begrüßte er seinen Freund.

Hinter Brunner standen zwei Männer mit Metallkoffern, in denen sich, wie Kerner wusste, die Ausrüstung für die Spurensicherung befand.

»Die Kollegen Meuser und Feser«, stellte Brunner die beiden Beamten kurz vor, die mit ihm die Wohnung betraten.

Brunner begrüßte Steffi, die sich sichtlich erleichtert von der Couch erhob, dann ging er zur Verandatür. Er war schon des Öfteren bei Kerner zu Besuch gewesen, daher kannte er sich aus. Der Kriminalbeamte öffnete die Jalousie mit der Kurbel und betätigte den Schalter für die Außenbeleuchtung. Mit einem Schlag wurde die Veranda in helles Licht getaucht. Er schob die Glastür auf und trat hinaus. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er den zerstörten Blumentopf. Nachdem Kerner noch einmal den Tatablauf geschildert hatte, machten sich die Spurenexperten an die Arbeit.

Sehr schnell war unter den zahlreichen Tonscherben diejenige gefunden, die den Einschuss aufwies. Von dieser Stelle ausgehend, war der Blumentopf massiv zersplittert.

»… und es war tatsächlich kein Schuss zu hören?«, wollte Brunner wissen.

Steffi, die ja auf der Hollywoodschaukel nicht geschlafen hatte, schüttelte heftig den Kopf. »Es gab einen lauten Knall, aber der stammte von dem auseinanderfliegenden Blumentopf. Ich weiß, wie ein Schuss klingt. Schließlich war ich schon oft genug mit Simon auf der Jagd.«

Als einer der Beamten die buschige Pflanze hochhob, die, nachdem sie den Halt des Tontopfes verloren hatte, einfach zur Seite gekippt war, gab er einen überraschten Laut von sich.

»Was ist denn das?«, wunderte er sich und holte zwischen den Blättern einen toten, schwarzen Vogel hervor. Brunner und Kerner traten einen Schritt näher.

»Ich fasse es nicht!«, stieß Kerner betroffen aus. »Das ist eine Rabenkrähe.« Er machte dem Beamten ein Zeichen. »Halten Sie sie doch bitte mal an den Flügeln hoch.«

Der Mann fasste den Vogel an den Schwingen, zog diese auseinander und hielt ihn so vor sich, dass die anderen die Brustseite sehen konnten.

»Verdammt noch mal, das ist die Krähe, von der ich dir bei unserem letzten Treffen erzählt habe! Die man mir an die Tür der Toilette meiner Jagdhütte genagelt hatte.«

Brunner zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe. »Wie kannst du da so sicher sein?«

Kerner trat näher heran und betrachtete das Tier genauer. »Nein, ich irre mich. Das ist nicht derselbe Vogel.« Er zeigte mit dem Finger auf den Kopf. »Diesem Tier hat man zwar auch die Augen ausgestochen, aber das Blut ist noch ziemlich frisch.« Er ging nahe heran und zog die Luft ein. »Es riecht auch noch nicht. Das andere Exemplar hat schon nach Verwesung gestunken.« Kerner suchte das Brustgefieder ab. »Hier ist ein Einschuss.« Er gab dem Beamten ein Zeichen, die Krähe umzudrehen. »… und hier der Ausschuss.« Er wies auf das kleine blutige Loch.

Brunner sah sich die Krähe genauer an. »Total pervers!«, murmelte er.

»Das kannst du laut sagen! Da macht sich offenbar jemand viel Mühe, mich einzuschüchtern«, stellte Kerner fest. »Dieser Vogel ist vor noch nicht langer Zeit getötet worden.«

Brunner bat seinen Kollegen, den Vogel einzutüten und als Beweisstück später einzufrieren. Nachdem Brunner und Kerner wieder im Wohnzimmer waren, meinte der Kriminalbeamte nachdenklich: »Simon, so wie es aussieht, hat heute jemand im Laufe des Tages dein Grundstück betreten und diesen Vogel dort in dem Blumentopf versteckt. Dann hat er hier in der Nähe gewartet. Als ihr es euch auf der Veranda gemütlich gemacht habt, hat er auf den Blumentopf geschossen. Wahrscheinlich hat er ein Projektil verwendet, das eine stark zerstörerische Wirkung hat, damit der Topf auch richtig auseinander fliegt.« Brunner zeigte in die Dunkelheit, wo sich der Waldrand befand. »Der Schuss muss von dort abgegeben worden sein. Nachdem ihr keinen Knall gehört habt, wahrscheinlich mit einem schallgedämpften Gewehr.«

»Du meinst, er wollte uns erschießen?« Steffis Stimme zitterte, als sie diese Frage stellte.

Brunner schüttelte entschieden den Kopf. »Das glaube ich nicht. So wie ihr mir gesagt habt, seid ihr beide auf der Hollywoodschaukel gesessen, ein ganzes Stück von dem Blumentopf entfernt. Selbst ein mittelmäßiger Schütze hätte euch da leicht treffen können. Nein, ich denke, dass dies eine ganz bewusste Provokation war. Auf den Blumentopf wurde ganz gezielt geschossen. Der Kerl wollte euch klarmachen, dass er euch hätte töten können, wenn er gewollt hätte. Ich würde das als Psychoterror bezeichnen. Und die Krähe ist darüber hinaus eine Botschaft. Simon, irgendjemand will dir damit etwas sagen. Was anderes kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen. Auf jeden Fall solltest du vorsichtig sein. Das ist kein Scherz! Die Verwendung eines schallgedämpften Gewehrs deutet auf einen Profi hin. Legal sind Schalldämpfer nur mit Ausnahmegenehmigungen zu bekommen, und die werden praktisch nicht erteilt.«

Steffi begann leise zu weinen. »Nimmt das denn kein Ende.«

Kerner nahm sie tröstend in die Arme. »Sie meint, dass wieder die Mafia dahinter stecken könnte.«

Brunner wiegte seinen Kopf. »Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Diese ganze Geschichte mit der Krähe ist eher untypisch. Ein Mafiakiller würde seinen Job machen und dann verschwinden. Aber ich werde auf jeden Fall morgen beim Landeskriminalamt nachfragen und mich nach eventuellen neuen Aktivitäten der Mafia im Main-Spessart-Bereich erkundigen. Sollte es da Hinweise geben, werde ich dafür sorgen, dass ihr Personenschutz bekommt.« Er legte Steffi seine Hand beruhigend auf den Arm, dann verabschiedete er sich. »Lasst hier bitte alles so liegen, wie es ist. Wir werden morgen wiederkommen und bei Tageslicht alles genau nach Spuren absuchen. Vielleicht finden wir das Projektil. Nachdem es den großen Blumentopf mit der vielen Erde durchschlagen hat, kann es nicht mehr weit geflogen sein. Vielleicht finden wir dort im Wald auch die Stelle, von der aus der Täter geschossen hat. Simon, seid auf jeden Fall vorsichtig!«

Kerner brachte die Beamten und Brunner zur Tür.

»Ich mache mir Sorgen um Steffi«, sagte er leise. »Du kannst sicher nachvollziehen, dass dieser Anschlag eine massive psychische Belastung für sie darstellt. Sie nimmt sich zwar zusammen, aber ich befürchte, dass bei ihr wieder die ganzen alten Ängste aufbrechen, die sie in der letzten Zeit weitgehend abgebaut hatte.«

»Kannst du sie nicht für einige Zeit in Urlaub schicken, bis wir den Fall aufgeklärt haben?«

Kerner hob die Schultern. »Ich werde mal mit ihr sprechen. Sehr zuversichtlich bin ich da aber nicht. Du kennst sie doch.«

»Versuch es«, gab Brunner eindringlich zurück, dann hob er grüßend die Hand und ging.

Kerner sah den abfahrenden Dienstfahrzeugen eine Weile nachdenklich hinterher, bis die Rücklichter hinter der nächsten Kurve verschwanden, dann schloss er die Tür und ging zurück ins Haus. Dort ließ er sofort wieder die Jalousie zur Veranda herunter.

»Du denkst, wir werden beobachtet?«, fragte Steffi mit leiser Stimme. Ihre Blicke verfolgten jede seiner Bewegungen. Kerner merkte, dass sie sich alle Mühe gab, ihre Angst nicht zu zeigen; das leichte Zittern in ihrer Stimme war aber nicht zu überhören.

»Schatz, das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, mehr nicht.«

Als sie endlich zu Bett gingen, war es zwei Uhr. Kerner nahm Steffi in die Arme und versuchte, ihr ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Nach einiger Zeit wurde ihr Atem gleichmäßiger, und sie war eingeschlafen. Es war allerdings kein erholsamer Schlaf. Immer wieder gab sie stöhnende Laute von sich und zuckte am ganzen Körper.

Kerner machte die ganze Nacht kein Auge zu. Durch die geschlossenen Jalousien war es im Zimmer stockdunkel. Vor seinem geistigen Auge lief jedoch ein Film ab, der in dieser Nacht kein Ende nehmen wollte. Es war der Film, der ihm damals vom Mafiapaten zugestellt worden war und der zeigte, wie man der entführten Steffi mit Gewalt Heroin gespritzt hatte, um ihn zu erpressen.

12

Es war später Freitagnachmittag. Der Tag der Aussegnung Dr. Wilhelm Kürschners. Seit seiner Ermordung war einige Zeit vergangen, da der Tote zu Untersuchungszwecken im Institut für Rechtsmedizin gelegen hatte. Vorgestern hatte ihn die Staatsanwaltschaft nun zur Bestattung freigegeben.

Simon Kerner parkte seinen Defender auf dem Parkplatz des Würzburger Waldfriedhofs. Mit ihm im Fahrzeug saß Roswitha Memmel, Richterin am Amtsgericht Gemünden am Main und seine ständige Vertreterin im Amt des Direktors dieses Gerichts.

Kerner sah sich kurz um. Der Parkplatz war fast voll. Zwischen den Fahrzeugen konnte er viele bekannte Gesichter erkennen. Die Justiz war mit vielen hochkarätigen Persönlichkeiten vertreten.

Immer wieder nach der Seite grüßend und viele Hände schüttelnd, näherten sich Kerner und seine Kollegin der Aussegnungshalle. Kurz vor dem Eingang entdeckte er Eberhard Brunner. Kerner entschuldige sich bei seiner Begleiterin, die schon mal die Halle betrat, und näherte sich dem Kommissar.

»Du bist auch hier?«

»Bei Mordopfern gehe ich gerne mal mit zur Beisetzung. Vielleicht kann man doch die eine oder andere Beobachtung machen, die einem weiterhilft. Geh ruhig rein, ich werde mich im Hintergrund halten.«

Kerner nickte. »Sehen wir uns noch nach der Zeremonie? Ich habe allerdings meine Vertreterin dabei und muss Rücksicht auf sie nehmen.«

»Simon, vielen Dank, aber ich habe keine Zeit. Es gibt einen zweiten Mord, der uns ziemlich auf Trab hält. Wir telefonieren.«

Sie schüttelten sich die Hände, dann ging Kerner in die Aussegnungshalle. Bei einem kurzen Rundblick stellte er fest, dass für die Mitglieder der Justiz drei Stuhlreihen hinter der ersten Reihe reserviert waren, in der die Angehörigen Platz genommen hatten. Frau Memmel winkte ihm dezent zu, sie hatte einen Platz für ihn freigehalten.

 

Die Aussegnungsfeier nahm geraume Zeit in Anspruch, denn es wurden diverse Reden gehalten. Alle Redner gingen mehr oder weniger ausführlich auf den brutalen Tod des Verstorbenen ein. Nachdem der Priester die letzten Gebete gesprochen hatte, versank der Sarg des Verstorbenen zu den Klängen von Mozarts Requiem im Boden der Aussegnungshalle. Der letzte Weg Dr. Kürschners würde ins Krematorium führen.

Langsam verließen die Trauergäste den sakralen Raum und traten ins Freie. Die ernste Stimmung welche die würdige Zeremonie erzeugt hatte, löste sich im strahlenden Sonnenschein, der die Menschen außerhalb der Halle erwartete. Viele Juristen, die sich schon längere Zeit nicht mehr gesehen hatten, standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Überall war der gewalttätige Tod des Verstorbenen Gegenstand des Gesprächs. Andere wiederum, die weniger Zeit hatten, eilten zu ihren Fahrzeugen und fuhren davon. Auch Brunner lenkte sein Fahrzeug vom Parkplatz, wie Kerner beiläufig beobachten konnte.

In diesem Augenblick wurde Kerner von der Würzburger Landgerichtspräsidentin und dem Leitenden Oberstaatsanwalt Armin Rothemund, seinem ehemaligen Mentor, angesprochen.

»Wie ich gesehen habe, ist Kollegin Memmel auch hier«, stellte die Landgerichtspräsidentin fest. Sie blickte sich dabei suchend um.

»Eben hat sie sich noch mit einem Kollegen aus Bamberg unterhalten«, erklärte Kerner, während er die Menschen in der Nähe musterte.

Da entstand an der Seite der Aussegnungshalle, die von Kerner nicht eingesehen werden konnte, plötzlich Unruhe. Erregte Stimmen ertönten. Kerner und seine beiden Gesprächspartner blickten sich erstaunt an, dann eilten sie in stiller Übereinstimmung zum Ort des Geschehens.

Um den Zugang zu den Toiletten hatte sich eine Menschentraube gebildet, die ständig größer wurde. Kerner drängte sich nach vorne.

Durch die geöffnete Tür konnte man innerhalb der Toilette eine menschliche Gestalt erkennen, die regungslos auf den Fliesen des Raumes lag.

Kerner trat einen Schritt näher und beugte sich über den mit einem schwarzen Anzug bekleideten Mann. Erschrocken richtete er sich wieder auf. Trotz der Verletzungen erkannte er den Mann. Es handelte sich um den jungen Rechtsanwalt Konrad Redelberger. Sein Jackett war offen, und man konnte in der Brust zwei Einschusslöcher erkennen. Seine Augen waren zwei blutige Seen.

»Ich habe schon den Notarzt verständigt«, erklärte ein Trauergast von draußen, der ein Mobiltelefon in der Hand hielt.

»Vielen Dank«, erwiderte Kerner, »aber da dürfte nichts mehr zu machen sein. Der Mann ist tot.«

Durch die Gruppen der Umstehenden ging ein Raunen.

Der Leitende Oberstaatsanwalt erfasste die Situation sofort und wandte sich an die umstehenden Menschen.

»Meine Herrschaften, würden Sie bitte zurücktreten, das ist ein Tatort.«

»Ich rufe Brunner an, damit er zurückkommt«, erklärte Kerner und verließ die Toilette. Der Kriminalbeamte war sicher erst auf halbem Weg in die Stadt. Er erreichte Brunner sofort. Mit wenigen Sätzen informierte er seinen Freund, der daraufhin umdrehte. Zehn Minuten später rollte er wieder auf den Parkplatz. Um die Toilette hatte sich mittlerweile eine kleine Menschentraube gebildet.

»Brunner, Kriminalpolizei, bitte machen Sie Platz! Lassen Sie mich durch!«, rief der Leiter der Mordkommission in die Menge, die sich daraufhin teilte und den Blick auf die offene Tür der Herrentoilette freigab. Kerner war seinem Freund gefolgt.

Brunner zog sich Gummihandschuhe an und beugte sich über den Toten. Auf der Brust des Mannes hatte sich mittlerweile ein großer Blutfleck gebildet, der sich noch immer ausdehnte und einen schaurigen Kontrast zu dem weißen Hemd bildete, das er trug. Die umstehenden Menschen traten langsam zurück und gingen auf Distanz. Es entstanden heftige Diskussionen. Brunner hatte mittlerweile sein Handy am Ohr und verständigte die Spurensicherung und seine Mitarbeiter. Nachdem er geendet hatte, trat er vor die Tür und rief: »Meine Damen und Herren, wenn Sie sich bitte zur Verfügung halten, wir müssen jeden von Ihnen vernehmen. Jede Aussage kann uns weiterhelfen.«

Kerner war in der Nähe Brunners stehen geblieben. »Das ist der junge Rechtsanwalt Redelberger«, erklärte er. »Sag mal, diese Schüsse in die Augen. Sind das nicht die gleichen Verletzungen, die Dr. Kürschner hatte?«

Brunner zeigte eine ernste Miene. »Das ist innerhalb von einer Woche das dritte Opfer, das nach demselben Muster getötet wurde.«

Kerner warf Brunner einen fragenden Blick zu. »Wieso drei Opfer? Ich weiß nur von Dr. Kürschner.«

»Vorgestern hatten wir einen Leichenfund im Guttenberger Forst. Die gleichen Merkmale wie bei Dr. Kürschner und dem Opfer hier.« Er fragte: »Kennst du den Mann näher?«

Kerner nickte knapp. »Es handelt sich um Rechtsanwalt Konrad Redelberger. Er ist Mitglied der Rechtsanwaltssozietät Andreotti, Redelberger und Partner, Fachanwalt für Strafrecht. Ein noch junger Kollege, der häufig als Pflichtverteidiger bestellt wurde.«

Kerner sah seinen Freund nachdenklich an, dann flüsterte er mit gesenkter Stimme, damit es die Umstehenden nicht hören konnten. »Drei Opfer! Das sieht mir ganz nach einem Serientäter aus. Oder was meinst du?«

Brunner atmete tief durch. »Verdammt, du hast recht, das ist ein Serientäter! Alles deutet darauf hin. Wir haben allerdings noch keine Ahnung, nach welchen Kriterien er seine Opfer aussucht. Er mordet offenbar nicht immer nach dem gleichen Muster, schießt ihnen aber immer in beide Augen. Er tötet so erschreckend kurz hintereinander, dass uns bisher kaum Zeit geblieben ist, die einzelnen Morde genau zu analysieren. Das ist eine Katastrophe!«

Kerner rieb sich das Kinn. »Er scheint auf jeden Fall sehr kaltblütig zu sein. Es gehört schon etwas dazu, jemanden am Rande einer Beisetzung zu töten, wo viele Menschen beisammen sind, die ihn möglicherweise sehen können.«

Brunner nickte zustimmend. Bevor er noch etwas erwidern konnte, wurde er abgelenkt, denn es fuhren drei Fahrzeuge auf das Gelände. Eines war der auffällig gekennzeichnete Wagen des Notarztes. In den anderen beiden saßen die angeforderten Beamten der Spurensicherung und Brunners Kollegen aus dem Morddezernat.

Der Notarzt kniete sich neben dem Toten nieder und suchte pro forma an der Halsschlagader nach dem Puls. Nach einigen Sekunden schüttelte er den Kopf und erhob sich. »Tut mir leid, aber das ist offensichtlich ein Fall für die Kollegen von der Rechtsmedizin.«

»Sind schon verständigt«, gab Brunner zurück und gab dem Notarzt die Hand, der anschließend wieder zu seinem Fahrzeug eilte und den Friedhof verließ.

Brunner gab seinen Kollegen ein paar Anweisungen, worauf sich eine Frau und zwei Männer daran machten, systematisch die Personalien der wartenden Zeugen zu erfragen.

Kerner verabschiedete sich kurz von Brunner. Der hatte nun alle Hände voll zu tun. »Wir telefonieren!«, rief er ihm zu, dann wandte er sich ab, um seine Kollegin zu suchen. Frau Memmel stand etwas abseits des Geschehens und machte Kerner winkend auf sich aufmerksam.

»Mein Gott, was ist denn da passiert? Ich habe nur einen kurzen Blick auf die Leiche geworfen.«

»Ich erzähle es Ihnen auf der Rückfahrt«, erklärte Kerner. Wenig später fuhren sie vom Parkplatz.

Brunner stellte sich zu den Zeugen und bat um Aufmerksamkeit. »Meine Damen und Herren, hat jemand von Ihnen hier in der Nähe der Toilette etwas beobachtet, was ihm im Nachhinein verdächtig erscheint? Ich denke dabei an eine Person, die aus der Toilette gekommen ist und sich dann, vermutlich eilig, entfernt hat.«

Es dauerte einen Moment, dann trat eine gut gekleidete, ältere Dame einen Schritt vor.

»Ich habe vorhin die Damentoilette aufgesucht. Als ich sie verließ, kam ein jüngerer Mann aus der Herrentoilette. Ich habe ihm natürlich keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, aber mir ist aufgefallen, dass er es ziemlich eilig hatte. Sein Gesicht hatte er abgewandt, so dass ich es nicht sehen konnte. Er ist dann irgendwo zwischen den Menschen verschwunden.«

»Ist Ihnen etwas an ihm aufgefallen? Können Sie ihn beschreiben?«

Die Frau überlegte einen Augenblick, dann erklärte sie: »Er war schlank, schwarz gekleidet und hatte ungefähr Ihre Größe. Sein Haar war brünett, und er trug eine dunkle Sonnenbrille. Ich habe ihn zuvor weder bei der Aussegnungsfeier noch danach unter den Trauergästen gesehen. Mehr kann ich leider nicht sagen.«

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