Krähen über Niflungenland

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Krähen über Niflungenland
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„Das Leben erkennt man an seiner Ekstase.“

Vilhelm Grønbech


1. Auflage August 2017

Copyright © 2017 by Edition Roter Drache.

Edtion Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Titelbild: Rannug

Buch- und Umschlaggestaltung: Holger Kliemannel

Gesamtherstellung: Wonka Druck

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-964260-08-6

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog (Winter 471/472)

1 (Sommer 477)

Sigfrid kommt

Vergessen, verlieren

Brautwerbung

Kalte Ekstase

2 (Herbst 472, fünf Jahre zuvor)

Das Schwert der Schwerter

Albenränke

Liebesschwüre

3 (Frühjahr 481)

Der Streit der Königinnen

Gott der Lust, Gott der Toten

Andvaranaut

4 (Winter 482)

Neue Hoffnung?

5 (Altweibersommer 488)

Schicksalsrunen

Schwarzer Eiter

Neidingswerk

Wolfszeit

Die Leere zwischen den Sternen

Epilog (Winter 498 / 499)

Anhang

Dramatis Personae

Glossar

Nachwort

Der Autor



Grimhild trieb ihre Stute an, die sich mühsam durch zum Teil mannshohe Schneewehen kämpfte. Pferd und Reiterin hinterließen kurzlebige Atemwolken in der Luft. Die schwache Sonne reichte nicht aus, um die klirrende Kälte zu vertreiben, nicht einmal, um sie erträglicher zu machen. Grimhild fröstelte, obwohl sie einen dicken Wollmantel über ihrem leinenen Unterhemd trug, und zog den Umhang fester um ihre Schultern. Weder die Wickelbänder um ihre Beine noch die Schnürstiefel, in denen ihre Füße steckten, konnten verhindern, dass die Kälte ihren Körper heraufkroch. Ihr silberblondes Haar, zu einem Zopf zusammengebunden, fiel ihr schwer in den Nacken und fühlte sich unangenehm klamm an. Das Mädchen rieb die Handflächen aneinander, formte die Hände zu einer Schale und hauchte hinein. Es nutzte nicht viel.

Unter der verharschten Decke erwies sich der Schnee als trocken und feinkörnig, was das Vorankommen leidlich erleichterte, aber die Stute musste trotz allem kräftig arbeiten, weil sie immer wieder in Schneewehen versank. Sie schnaufte bereits vor Anstrengung und bewegte sich nur unwillig fort, dabei war Fála das gutmütigste Pferd im Stall der Niflungen.

Die Anstrengungen des Rittes schienen Grimhild nichts auszumachen. Aufrecht saß sie im Sattel, den Rücken gestreckt. Trotz ihrer Jugend lag in ihrer Haltung bereits etwas Selbstbewusstes, das Männer veranlasste, sich nach ihr umzudrehen. Schon jetzt konnte man in dem schmächtigen Mädchen die Frau ahnen, die sie einmal werden würde. Grimhild war nicht besonders groß, dennoch hatte man stets den Eindruck, ihr auf gleicher Höhe zu begegnen, was sie ihren herausfordernden grünen Augen verdankte. Es gab nicht viele, die ihrem Blick standhalten konnten. Gislher, ihr Lieblingsbruder, hatte ihr den Spitznamen »Schmiedeauge« gegeben, weil er der Ansicht war, ihre Blicke könnten Steine erweichen und Herzen zum Schmelzen bringen.

Auf einem Hügel hielt Grimhild an und gab Fála Gelegenheit zu verschnaufen. Sie tätschelte den Hals der Stute, während sie ihren Blick schweifen ließ. Der Anblick von Niflungenland erfüllte sie stets aufs Neue mit Freude, besonders in der friedlichen Stille der Wintertage. Bäume bogen sich unter der Last des Schnees, Wälder und Felsen warfen Schatten in zartem Blau. Das Land schien in tiefem Schlaf zu liegen. Die einzigen Anzeichen von Leben waren die Schnürspur eines Fuchses und das Werk der Zähne von Mäusen und Kaninchen, die in Ermangelung von Grünfutter die Rinden der Baumstämme benagt hatten. Die klare Luft machte es möglich, einen Blick auf den Rhein zu erhaschen, der sich in der Ferne als gewundenes Band dahinschlängelte, ein Anblick, der unweigerlich Grimhilds Herz zum Klopfen brachte. Der Fluss und die Täler ringsumher waren für sie der Inbegriff von Geborgenheit. Sie besaß keine Erinnerung an die Zeit, bevor ihr Vater das Land links des Rheins erobert hatte. Für sie war dies das Land ihrer Sippe.

Grimhild drehte sich um und konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Tolbiacum, das einstige vicus der Römer, das sich die Niflungen zum Herrschersitz erkoren hatten, war längst hinter bewaldeten Bergrücken verschwunden. Niemand verfolgte sie, obwohl ihr heimlicher Ausflug nicht unbemerkt geblieben war. Volker, der Skop, hatte sie gesehen, als sie sich ihre Stute holte. Aber es war ihr gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass sie nur einen Spazierritt unternahm, und nachdem sie eine Weile mit ihm gescherzt und ihm erlaubt hatte, ihr ein paar Komplimente zu machen, hatte er sie gehen lassen. Es war leicht, einen Mann dazu zu bringen, ihr gefällig zu sein. Männer waren jungen Mädchen gern behilflich, zumal einem hübschen.

Zweifellos setzte sie sich Gefahren aus, wenn sie allein durch das Land ritt. Die Wege waren unsicher, allerlei Gesindel trieb sich in der Gegend herum. Hin und wieder sandte König Aldrian, ihr Vater, eine Eskorte aus, um die Straßen zu sichern und Wegelagerer zu vertreiben, aber es nützte nicht viel, sie kamen immer wieder. Der Hunger trieb sie dazu, besonders in diesem strengen Winter. So manch einer wurde nach dem Verzehr von schlechtem Mehl vom Heiligen Feuer heimgesucht, litt unter Krämpfen und bekam Brandblasen oder gar brandige Glieder. Ihre Mutter hatte ihr den Pilz am Getreide gezeigt, der die Schuld daran trug. Und Menschen waren nicht die Einzigen, die Hunger litten. Auch Wölfe näherten sich neuerdings den Siedlungen und umschlichen die Wehrzäune in der Hoffnung, etwas Essbares zu erwischen. Aber Grimhild hatte sich noch nie von einer Gefahr oder einem Verbot zurückhalten lassen zu tun, was sie für richtig hielt.

Sie warf einen letzten Blick umher und nickte befriedigt. Niemand würde sie suchen. Dass sie sich vom Webstuhl fortgestohlen hatte, war nichts Ungewöhnliches. Und wem sollte es auch auffallen? Ihr Vater weilte bei Didrik von Bern, um Beistand zu erbitten, falls der schwelende Grenzkonflikt mit Jarl Elsung zum Ausbruch kommen sollte. Ihre Mutter hatte alle Hände voll zu tun, die Herstellung neuer Holzfässer zu überwachen, nachdem sie heute früh entdecken mussten, dass einige der gelagerten Weinfässer leck waren, weil irgendjemand am Pech gespart hatte. Und ihre Brüder kümmerten sich nicht um sie. Vor dem Abendessen würde ihre Abwesenheit kaum bemerkt werden.

Sollte allerdings doch jemand dahinter kommen, dass sie ohne Erlaubnis fortgeritten war … aber selbst dann hatte sie nicht viel zu befürchten. Da ihr Vater nicht daheim war, würde Gunter versuchen, sie für ihren Ungehorsam zu bestrafen. Grimhild grinste. Als künftiger König glaubte er gelegentlich, ihr Befehle erteilen zu können. In der Regel beachtete sie ihn einfach nicht, was ihn maßlos ärgerte. Ob er mehr Durchsetzungskraft haben würde, wenn er erst König war? Aldrian besaß Autorität, seinen Befehlen gehorchte jeder widerspruchslos. Gunter … nun, er war einfach zu still. Die Leute mochten ihn, und meist gehorchten sie ihm auch, doch mehr, weil sie ihn gern hatten, als aus Respekt. Grimhild rieb ihre kalten Hände aneinander. Sie mochte ihren ältesten Bruder, aber sie stand ihm nicht nahe. Sie fühlte sich mehr zu Männern der Tat hingezogen.

 

Und das brachte sie wieder zu dem Grund ihres Ausrittes. Grimhild fluchte über ihre Trödelei und trieb das Pferd an. Sie durfte nicht zu lange verweilen, wenn sie vor Anbruch der Dunkelheit zurück sein wollte. Die Tage waren kurz, und sie hatte noch ein gutes Stück Weges vor sich. Sie würde sich nicht lange bei Thiota aufhalten können, aber für ihre Zwecke musste es genügen. Die Blätter der Schafgarbe, die sie jede Nacht auf ihre Augenlider legte, hatten ihr einen Traum beschert, den sie nicht zu deuten wusste. Die Seherin musste ihr helfen, Klarheit zu gewinnen. Sicher würde sie sich wieder zieren und sie ermahnen, sich vor Fragen zu hüten, deren Antwort sie gar nicht wissen wolle, und dass es Unglück bringe, die Zukunft zu kennen, und dergleichen mehr. Grimhild verzog das Gesicht. Alle glaubten ständig, ihr Ratschläge geben zu müssen und behandelten sie wie ein kleines Kind. Dabei war sie schon elf!

Und ihr Traum war wichtig. Immerhin ging es darum, eine Vision von ihrem zukünftigen Mann zu erhalten! Doppelt wichtig sogar, wenn man bedachte, wie langweilig die meisten Männer in Tolbiacum waren. Na schön, da gab es Hagen, den Waffenmeister, der zu den Wenigen gehörte, die gegen den Zauber ihrer Augen immun zu sein schienen. Trotz seiner Hässlichkeit, trotz seiner Verschlossenheit – oder gerade deswegen – faszinierte er sie. Jedenfalls war er der einzig interessante Mann in der Niflungenburg, wenn man von Volker, dem Sänger absah, aber der umwarb jede Frau und war daher keine Herausforderung. Flüchtig dachte sie an ihren Vetter Irung, einen reizbaren, schnell beleidigten Krieger, der sich neuerdings darum bemühte, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Wenn er nur nicht ständig versuchen würde, sein struppiges Haar mit Butter zu glätten! Grimhild mochte ihn mit zerzausten Haaren lieber, er sah dann immer richtig verwegen aus. Aber er schien zu glauben, dass er den Frauen imponieren könne, wenn er mit ranzigem Fett eingeschmiert herumlief. Männer!

Fála scheute plötzlich und schnaubte. Hatte die Stute etwas gewittert? Grimhild tätschelte ihr beruhigend den Hals und sah sich aufmerksam um. Nicht weit voraus entdeckte sie die Spuren zweier Pferde. Sie schienen aus verschiedenen Richtungen gekommen und an dieser Stelle zusammengetroffen zu sein. Eine kurze Strecke liefen sie friedlich nebeneinander her, aber zwei Steinwürfe entfernt war der Schnee wie von einem Kampf zerwühlt. Eine Blutspur führte in ein nahe gelegenes Gehölz.

Grimhild biss sich auf die Lippen. Sie wusste, sie sollte nicht hier sein. Unschlüssig drehte sie sich hin und her. Sollte sie weiterreiten, als ob nichts geschehen wäre? Undenkbar! Also blieben ihr nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte umkehren, ihrer Sippe Bericht erstatten und sich wie ein kleines Mädchen für ihren Ungehorsam ausschelten lassen. Oder sie konnte herausfinden, was geschehen war. Gescholten werden würde sie auf jeden Fall. Aber wenn sie der Sache auf den Grund ging, würde sie sich zumindest den Respekt ihrer Sippe erwerben. Außerdem, und das gab am Ende den Ausschlag, mochte es ja sein, dass der Anlass für die blutige Fährte harmlos war, und in diesem Fall brauchte sie gar nichts zu sagen. Aber daran glaubte sie selbst nicht.

Mit einem Schnalzen brachte sie Fála dazu, der roten Fährte zu folgen. Vor einer Gruppe von Büschen wurde das Pferd langsamer und scharrte nervös mit den Hufen. Grimhild schluckte. Was immer der Grund für die Blutspur war, gleich würde sie ihn zu Gesicht bekommen. Ihr hugi, der Teil ihrer Seele, der Neigung und Instinkt in sich trug, warnte sie, aber sie ignorierte seine Stimme und unterdrückte das Zittern ihrer Glieder. Vorsichtshalber zog sie ihr Messer. Dann atmete sie tief durch und trieb Fála durch einen Schenkeldruck weiter.

Sie war nicht vorbereitet auf das, was sich ihren Augen darbot, und im ersten Moment fühlte sie sich, als würde sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst. Sie erkannte den Toten sofort, trotz seiner grauenvollen Lage und obwohl alles, aber auch alles von Blut nur so triefte: die verkrümmt daliegende Gestalt, der Felsen, auf dem man sie ausgebreitet hatte, sogar das umliegende Gesträuch und der Schnee ringsumher. Der Anblick erinnerte sie an das Schlachten von Schweinen.

Der steifgefrorene Krieger war eindeutig einer Blutrache zum Opfer gefallen. Jemand hatte ihm den Blutaar geritzt: Sein Rücken war vom Kreuzbein bis zum Nacken aufgeschlitzt, die Rippen sorgfältig vom Rückgrat abgetrennt und wie Adlerschwingen auseinandergefaltet worden. Anschließend hatte man die Lungenflügel herausgezogen. Dass der Hingerichtete während dieser grausamen Prozedur noch am Leben gewesen war, bewiesen die abgerissenen Fingernägel; offenbar hatte er versucht, sich zu wehren, während er Qualen erlitt, die sich das erschütterte Mädchen nicht annähernd vorzustellen vermochte.

Es dauerte eine Ewigkeit, bevor Grimhild ihr Zittern unter Kontrolle bekam und den Mut aufbrachte, vom Pferd zu steigen. Der Blutgeruch verursachte ihr Übelkeit, doch sie kämpfte erfolgreich gegen den Wunsch an, sich zu übergeben. Vor dem Leichnam sank sie auf die Knie.

»Vater!«, flüsterte sie erstickt.


Sigfrid kommt
1.

Das Scheppern von Metall auf Metall hallte über das freie Gelände vor den umwehrten Höfen der Niflungen, Kampfgeschrei begleitete jeden Schlag. Hagen, der Waffenmeister, hielt seine täglichen Übungen mit dem zwölfjährigen Gislher, dem jüngsten von Aldrians Söhnen, ab. Die beiden trugen ihre Brünnen, eng anliegende Hemden aus zusammengeketteten Eisenringen, und waren schweißgebadet.

Hagen war ein Krieger, der überall Aufsehen erregt hätte. Niemand würde ihn einen schönen Mann nennen, aber er besaß eine Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen konnte. Er überragte die meisten Männer um Haupteslänge, was ihn an und für sich schon zu einer Furcht einflößenden Erscheinung machte, der schwarze Bart, die Narben und die tief hängenden Brauen taten ein Übriges, seine düstere Natur zu unterstreichen. Zudem war er einäugig. Wo sich das linke Auge befunden hatte, gähnte ein Loch. Er sprach nie davon, bei welcher Gelegenheit er das Auge verloren hatte, und wenn man an seinem Leben hing, tat man gut daran, ihn nicht danach zu fragen. Meist verbarg er die unheimliche Höhle unter einer Augenklappe, nur in der Schlacht nahm er die Bedeckung ab, weil er genau wusste, welche Wirkung er damit unter seinen Feinden erzielte. Und Hagen war zu klug, um sich einen Vorteil wie diesen nicht zunutze zu machen.

Das Training dauerte bereits den halben Tag. Trotz seiner Behinderung war Hagen ein guter Lehrer. Es gab keinen besseren Kämpfer weit und breit. Endlos probte er mit Gislher das Parieren eines bestimmten Hiebes und den darauf folgenden Gegenangriff, bis die Muskeln des Jungen die Kombination derart verinnerlicht hatten, dass sie von selbst reagierten. Die Übungen wurden mit der Spatha abgehalten, einem zweischneidigen Langschwert, das links getragen wurde. Es waren stumpfe Waffen, natürlich, doch auch so schmerzte ein Treffer noch genug, zumal Hagen seinen Schüler nicht schonte und die Schläge mit aller Kraft führte.

Wie gewöhnlich beendete der Waffenmeister seinen Unterricht mit einem Scheinkampf. »Wir nehmen das Sax und den Schild«, entschied er. Das Breitsax mit der kurzen Griffangel war eine Mehrzweckwaffe, sowohl für den Hieb als auch zum Zustoßen geeignet.

Ohne besondere Aufforderung zog Gislher seine Brünne aus und legte Helm und Beinschienen beiseite. »Beweglichkeit ist alles in einem Kampf«, pflegte Hagen zu sagen. »Wenn du dich mit einer Brünne schützt, bedeutet das, dass du dir nicht vertraust. Das ist so gut, als würdest du dich von vornherein für verloren geben.«

Die nackten Oberkörper der Kontrahenten glänzten in der Sonne, als sie sich gegenseitig belauerten. Wie Hagen es ihm beigebracht hatte, beobachtete der Junge seinen Lehrmeister auf der Suche nach einer Blöße. Er war fest entschlossen, ihn diesmal zu besiegen. Seit den Tagen, da er als Kind mit Stockfechten auf den Schwertkampf vorbereitet wurde, träumte er davon. Er bewunderte den Waffenmeister; ihm im Kampf überlegen zu sein, schien Gislher das erstrebenswerteste Ziel auf der Welt.

Hagen stand breitbeinig, die Füße leicht auswärts gestellt. Seine Arme hingen entspannt an ihm herab, die rechte Hand umfasste locker den Griff des Schwertes, dessen Spitze auf den Boden zeigte. Sein gesundes Auge war eher beiläufig auf seinen Gegner gerichtet. Alles in allem bot er ein Bild der Selbstversunkenheit, doch Gislher ließ sich nicht täuschen. Er bemühte sich, es seinem Lehrer nachzutun und eine selbstbewusste Haltung einzunehmen, war dabei allerdings nicht sehr erfolgreich. Mehrmals zuckten seine Muskeln, weil das unerwartete Brüllen eines Ochsen ihn erschreckte oder ein Windstoß durch Hagens Haare fuhr und ihm Bewegung vorgaukelte, wo keine war.

»Du hast alles vergessen, was ich dich gelehrt habe«, sagte Hagen verdrossen.

Gislher spürte, wie er rot wurde. »Was meinst du?«, fragte er, obwohl er die Antwort kannte.

»Du zappelst herum wie ein neugeborener Säugling. Dies ist kein Spiel. Konzentriere dich!«

»Ich bin konzentriert.«

Hagen beachtete seinen Einwand nicht. »Du hast den Kontakt zu deinem megin verloren.«

Beschämt senkte Gislher den Kopf. Natürlich hatte sein Lehrmeister recht. Und wenn er im nächsten Jahr auf dem Thing als freier Mann und Krieger in den Kreis der Sippe aufgenommen werden wollte, tat er besser daran, auf ihn zu hören. Der Junge atmete tief durch und bemühte sich, die Anspannung loszulassen. Nach und nach lockerten sich seine Muskeln, der Druck in seinem Bauch ließ nach. Schließlich konnte er es wieder spüren, sein megin, die Kraft, die aus der Essenz seiner Seele gespeist wurde. Jetzt war er bereit.

Unvermutet stürmte er vor und zielte auf Hagens Kopf. Der Waffenmeister blockte den Hieb mit einer sparsamen Bewegung ab, ohne seinerseits anzugreifen. Gislher trat nach dem ungeschützten Unterleib seines Lehrers, doch der stand längst an einer anderen Stelle, reglos, als habe er sich nicht gerührt. Er unternahm keinen Versuch, mit dem Schwert nach Gislhers Bein zu schlagen, aber der Niflunge wusste auch so, dass der Waffenmeister es gekonnt hätte. Hagens scheinbare Schutzlosigkeit hatte ihn verleitet, die Deckung aufzugeben. Es ärgerte Gislher, dass seine Reaktionen so vorhersehbar waren. Verbissen drang er auf seinen Lehrer ein und traf doch immer nur dessen Schild. Das war das Frustrierendste an einem Kampf mit Hagen: dass dieser seine wütenden Attacken mit spielerischer Leichtigkeit parierte. Es schien ihn nicht einmal außer Atem zu bringen. Wo Gislher mit dem Eifer eines Knaben auf ihn eindrosch, konterte Hagen mit der Kunst eines Schwertmeisters.

Keuchend hielt der Niflunge inne und rang nach Atem. Das war der Moment, auf den Hagen gewartet hatte. Wie ein Gewitter kam er über den Jungen und hieb von links und rechts auf ihn ein. Gislher taumelte rückwärts und konnte die Schläge gerade noch mit seinem Schild abfangen, zu einem Gegenangriff sah er sich außerstande. Die Hiebe fielen so schnell, so hart und so präzise, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als immer weiter zurückzuweichen. Der Waffenmeister trieb ihn vor sich her wie ein Kaninchen. Gislhers linkes Handgelenk, das den hölzernen Rundschild hielt und die Wucht des Angriffs auffangen musste, schmerzte; jeden Stoß spürte er bis in die Schulter.

Unvermittelt blieb Hagen stehen und gab Gislher, der noch zwei, drei Schritte weiter taumelte, Gelegenheit, sich wieder zu fangen. Das Gesicht des Jungen lief dunkelrot an. Er fühlte sich gedemütigt. Zornig sprang er nach rechts und hieb nach seinem Lehrer. Es war der plumpe Versuch, Vorteil aus Hagens Einäugigkeit zu ziehen und ihn aus der Deckung seines blinden Flecks heraus zu besiegen. Gislher versuchte es nicht zum ersten Mal, und wie gewöhnlich funktionierte es nicht. Hagen war ein viel zu guter Kämpfer, um sich nicht über seine eigenen Schwächen im Klaren zu sein. Er hatte lange trainiert, um sein fehlendes räumliches Wahrnehmungsvermögen durch Instinkt zu ersetzen und einen Angriff von links blind abzuwehren.

 

Stahl traf auf Stahl. Blitzschnell packte der Waffenmeister Gislhers Schwerthand. »Tu niemals in einem Kampf das Offensichtliche«, sagte er. »Dein Gegner rechnet damit.« Er ließ den Jungen los, und als dieser das Schwert hob, um noch einmal zuzuschlagen, rammte er ihm den Schild in den Magen.

Gislher ging in die Knie und würgte. Als es ihm gelang, sich wieder zu erheben, war er wütend. »Ein Schild ist zum Verteidigen da«, grollte er, »nicht zum Angriff.«

»Willst du überleben? Dann solltest du dich nicht von eingefahrenen Verhaltensweisen beherrschen lassen. Wenn du auf einen unterlegenen Mann triffst, genügt Erfahrung, im Kampf gegen einen Schwertmeister liegt deine einzige Hoffnung in der Überraschung.«

Das Tor des Wehrzauns, der die Häuser der Niflungen umschloss, öffnete sich. Gunter kam heraus. Er hatte die Schwertschläge vernommen und wollte in Erfahrung bringen, welche Fortschritte Gislher machte. Aus den Augenwinkeln musterte er Gernholt, seinen anderen Bruder, der gegen die Pfahlwand lehnte und Hagens Technik studierte. Gernholt hatte offenbar einen guten Tag erwischt, sein Gesicht zeigte Farbe, und er nahm seine Umwelt mit wachem Interesse wahr. »Wie macht er sich?«, fragte Gunter, während er sich neben ihm niederließ.

»Das Übliche. Er kämpft kraftvoll und mutig, aber er ist zu ungeduldig und vernachlässigt die Verteidigung.«

Gislher hatte einen schweren Stand gegen seinen Lehrmeister; das frustrierte ihn und machte ihn wütend, wodurch er seine Schläge immer unpräziser ausführte.

»Konzentriere dich!«, befahl Hagen und hieb nach der Hüfte des Jungen. Gislher schützte sich mit dem Schild und schlug seinerseits zu. Mühelos blockte der Waffenmeister den Schlag ab und zielte erneut auf die Hüfte. Unmerklich zwang er seinem Gegner einen Rhythmus auf: Schlagen – Senken des Schildes – Schlagen. »Denk an meine Worte«, sagte er, »eingefahrene Verhaltensweisen sind dein Tod.«

Erst als sein Lehrer das Schwert nach oben riss, als wolle er ihm den Schädel spalten, während er selbst seinen Schild wieder gesenkt hatte, begriff Gislher, worauf der Waffenmeister hinauswollte. Verzweifelt riss er den Schild nach oben, um den Hieb abzufangen. Seine Bewegung war von Panik diktiert, deshalb nahm er sich für den Bruchteil eines Herzschlages die Sicht. Als er seinen Fehler erkannte, als ihm klar wurde, dass Hagen, der listenreiche Taktiker, eine Finte in einer Finte versteckt hatte, war es zu spät. Hagens Schwert beschrieb eine Kurve und bremste knapp vor dem ungeschützten Bauch des Jungen. »Lass dir niemals von einem Feind eine Kampfweise aufzwingen!«

Gislher gab sich geschlagen. »So gut wie du werde ich nie im Leben«, sagte er. »Vielleicht sollte ich lieber Felder bestellen.«

»Ein solcher Gedanke ist deiner unwürdig.«

»Ach, Hagen, sei nicht immer so ernst! Es war doch bloß ein Scherz.«

Sie steckten die Schwerter ein und gingen zu den Zuschauern hinüber.

»Gut gemacht, alter Kämpe!« Gunter gab dem Waffenmeister einen freundschaftlichen Hieb auf die Schulter. »Und du wirst auch immer besser, Gislher.«

Wie Aldrians Söhne so beieinander standen, wurde ihre Verschiedenartigkeit deutlich. Die drei Brüder hätten ungleicher nicht sein können. Gislher war von heiterer, ungestümer Natur, und seine Hände und Füße standen keinen Augenblick still. Gunter war das genaue Gegenteil, nachdenklich, zögernd. Trotz der kräftigen Statur verlieh ihm sein grüblerisches Wesen eine Unscheinbarkeit, die so gar nicht der Vorstellung entsprach, die man sich von einem König machte. Gernholt passte überhaupt nicht zwischen die beiden, nicht nur, weil sein kurz geschnittenes Haar, die Bartlosigkeit und die Form seiner Nase ihm ein römisches Aussehen verliehen, was er noch dadurch unterstrich, dass er sich bevorzugt in tunikaartige Hemdröcke kleidete, sondern mehr noch durch sein abweisendes Verhalten.

Gernholt war vierzehn gewesen, als er verkrüppelt wurde. Bei einem der Kämpfe um den Besitz von Niflungenland hatte er seinen Schwertarm verloren und zu allem Unglück auch noch eine Verletzung am linken Bein davongetragen. Seitdem hinkte er. Mit eisernem Willen hatte er gelernt, das Schwert mit der linken Hand zu führen, aber das war doppelt schwer, wenn einen das Bein, das dabei das meiste Gewicht tragen musste, im Stich ließ. Die Verkrüppelung hatte ihn launisch gemacht. Man konnte nie vorhersagen, in welcher Stimmung er sich gerade befand. Die meisten Menschen gingen ihm deshalb aus dem Weg, was ihm durchaus recht war. Es gab Zeiten, da konnte er keine Gesellschaft ertragen. Am allerwenigsten die eigene.

Die Auswertung der Waffenübung wurde durch die Ankunft zweier Reiter unterbrochen, die langsam über die Viehweide geritten kamen. Anführer schien ein kaum achtzehnjähriger Jüngling zu sein, der einen auffälligen Fuchsschecken ritt. Auf den ersten Blick konnte man sehen, dass er großes Heil besaß. Alles an ihm drückte Selbstbewusstsein aus, das Selbstbewusstsein eines Mannes, dem nichts fehlschlug. Sein untersetzter Begleiter machte den Eindruck, dass er den Annehmlichkeiten des Lebens nicht abgeneigt war, doch die niemals stillstehenden Augen legten ein beredtes Zeugnis seiner Wachsamkeit ab.

Vor den Niflungen zügelten die Reiter ihre Pferde und sprangen ab. Sie waren staubig von der Reise, aber gut gekleidet. Der Blonde hob den Arm zu einem Gruß. »År ok friðr!«, sagte er mit nordischem Akzent. »Jungherr Sigfrid von Tarlungenland und sein Gefolgsmann Eckewart bitten um Eure Gastfreundschaft.«

Die Brüder sahen sich an, nur Hagen hatte sich so weit unter Kontrolle, dass bis auf ein Zucken seiner Wangenmuskeln nichts die Gefühle verriet, die der Name in ihm hervorrief. Natürlich kannten sie den Sachsen. Die Geschichte von seinem Kampf mit dem Drachen war Gesprächsstoff von Wilzenland bis Hesbanien, von der Heimat der Nordmänner bis zu den Überresten des Römischen Reiches. Neugierig musterten sie den Mann, dessen Taten sie so oft in den Liedern der Skopen gehört hatten.

Sigfrids Haut war dunkel und verhornt, aber sein Gemüt so sonnig wie das blond gelockte Haar, das ihm in den Nacken fiel. Er trug ein weißes Leinenhemd und Hosen, die an den Waden mit Lederriemen umwickelt waren. An seinem Gürtel hing ein zweischneidiges Langschwert, vermutlich das viel besungene Mimung. Obwohl sein Körper durchtrainiert und in zahllosen Schlachten gestählt war, fehlte ihm die ständige Alarmbereitschaft, die kampferprobten Kriegern eigen war. Das hervorstechendste Merkmal war jedoch sein gewinnendes Lachen. Es fiel schwer, ihn nicht auf Anhieb zu mögen.

Die Sachsen ihrerseits nahmen unterdessen die Niflungen in Augenschein. Eckewarts Aufmerksamkeit galt vor allem dem Einäugigen. Ob es zutraf, was man sich erzählte? Dass der Waffenmeister zur Hälfte ein Schwarzalbe war? Er hätte ihn gern danach gefragt, aber ein Blick in das grimmige Gesicht belehrte ihn, dass es vermutlich gesünder war, dies zu unterlassen.

Hagen konnte die Gedanken des Dicken lesen wie das Runen-Futhark und spürte, wie sich der altbekannte Zorn in seinem Magen sammelte. Stellt die Frage, schrie es in ihm, und ich werde sie Euch mit meinem Schwert beantworten! Aber der Sachse schien zu spüren, was gut für ihn war, und wandte den Blick ab.

Gunter hieß die Gäste willkommen und führte sie in das Innere des Wehrzauns.

Das ehemalige Kastell Tolbiacum war den Bedürfnissen der Rheinfranken angepasst worden. Beackerte Felder und Viehweiden breiteten sich innerhalb der Festungsmauern aus, das impluvium eines Hauses, das einst einem reichen Bürger Roms gehört hatte, diente nun als Viehtränke. Von der Pracht römischer Baukunst war nicht viel geblieben, obwohl König Aldrian sich Mühe gegeben hatte, einige Ruinen instand zu setzen.

Sigfrid war beeindruckt, dass die Niflungen in steinernen Häusern wohnten, aber es kam ihm auch unnatürlich vor. Im Stein zu leben war etwas für Wölfe und Schwarzalben. Der Ort selbst allerdings war gut gewählt. Mit dem Blick des Kriegers hatte Sigfrid schon während sie sich Tolbiacum näherten die strategisch günstige Lage des vicus im Kreuzungspunkt der alten römischen Fernstraßen erkannt. Und nicht nur der taktische Aspekt kennzeichnete die kluge Wahl, auch die Fruchtbarkeit des Bodens war nicht zu übersehen. Die Macht der Erde war stark im Land der Niflungen.

Ivo, der Stallbursche, kam herbeigeeilt und nahm die Pferde in seine Obhut. Er war ein schmutziger Junge mit vorstehenden Zähnen, aber es gab niemanden weit und breit, der größeres Heil im Umgang mit Tieren besaß. Die Pferde schienen es zu spüren und ließen sich willig von ihm in den Stall führen.

Gislher, der Sigfrid bislang nur in stummer Verehrung angestarrt hatte, konnte sich nicht länger bezähmen. »Ist das das berühmte Schwert?«, fragte er, auf Mimung deutend.

»Ja. Mimes Meisterschwert. Wollt Ihr es sehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten legte Sigfrid die Hand um den goldverzierten Griff. »Geben kann ich es Euch nicht, denn es hat ein eigensinniges Wesen, das durch keinen Zauber gebannt wurde. Aber sehen sollt Ihr es.« Mit einem Ruck zog er das Schwert aus der Scheide.

Wie immer spürte er die gewaltige Macht, die es durchströmte, zusammen mit der Auflehnung gegen seinen Besitzer. Mimung hatte einen unersättlichen Hunger nach Blut und konnte nicht unterworfen werden. Es war leichtsinnig von ihm, das Schwert grundlos herauszufordern, aber es bereitete ihm jedes Mal Vergnügen, sich mit der Klinge zu messen. Ihr Singen und Funkeln war von atemberaubender Schönheit und suchte ihren Herrn in seinen Bann zu ziehen, um ihn zum Töten zu verleiten. Es war ein Kampf Wille gegen Wille, und es brauchte Sigfrids ganze Kraft, um Mimung im Zaum zu halten. Gewaltsam zwang er das protestierende Schwert in die Scheide zurück.