Das war's. Letzte Worte mit Charles Bukowski

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IV

Nach San Pedro.

- Auf Pilgerfahrt -

Dennoch, wie begegnet man einem Mann, der den Toten bereits näher ist als uns Lebenden? Wie vor allem spricht man mit ihm über das Sterben? Zum letzten Mal treffe ich Charles Bukowski am 15. August 1993. Es ist ein sonniger Sommersonntag und der Tag vor Charles Bukowskis dreiundsiebzigstem Geburtstag.

“Den nächsten wird er wohl nicht mehr erleben”, sagt Michael Montfort. Der Verkehr auf dem Hollywood Freeway gleicht sämiger Brühe. Montfort fährt schneller als der Strom, und hinter der Brille schwimmen in seinen Augen die Tränen. Viel kann er nicht mehr sehen. “Hank hat den Tod immer wieder vertrieben. Immer wieder. Aber diesmal schafft er es nicht.”

Michael Montfort ist Bukowskis größter Fan. Derselbe Superlativ dürfte für die Sammlung von Manuskripten, Buchausgaben, Bildern und Memorabilien stimmen, die der Fotograf in seinem kleinen grauen Haus in den Hollywood Hills, hoch über dem Smogsuppenbecken von Los Angeles, zusammengetragen hat. Jahr ein, Jahr aus schleuste er Schreiber des deutschen Journalismus durch Bukowskis Bude und half so, den Ruhm des Autors in dem Land zu mehren, das seine Eltern verlassen hatten, als er gerade zwei Jahre alt war. Im Laufe ihrer langen Freundschaft wurde Michael Montfort, zwanzig Jahre nach Bukowski ebenfalls in Deutschland geboren, dem Objekt seiner Bewunderung immer ähnlicher. Mehr als ein Fan des Dichters verwechselte den Fotografen auf den ersten Blick mit dem gemeinsamen Idol. Montfort lebt ein Stück weit für und von Bukowski, und er lebt auch wie Bukowski.

“Verdammt, Michael hat mich im Supermarkt ertappt, wie ich eine Wassermelone in den Fingern hatte, verstehst du?” erzählte Bukowski schon 1977 Jörg Fauser: “Michael hatte seinen Schiebekarren randvoll mit Büchsen Bier und Kartoffelchips, und was hatte ich drin? Pfirsiche! Trauben! Kopfsalat! Und grade verging ich mich an einer Wassermelone! Ich spielte natürlich den coolen Daddy und grinste ihn an, aber zum Teufel, er durchschaute mich! Bukowski flippt!”

Die Kran-Gerippe, die neben dem Freeway auftauchen, drehen sich untätig im sanften Küstenwind. Ein paar Containerschiffe dümpeln in den Docks. Und am Ende des Horizonts paaren sich die weißen Wolken mit den leeren Wellenkämmen des Pazifik. Wir nähern uns dem Hafen von San Pedro.

“Als Hank 1978 hierher zog, dachten wir alle wirklich, er sei verrückt geworden!” sagt Michael Montfort: “Daß er in San Pedro lebte, schien mir verdammt unpraktisch. Wenn er mal bei ‘Musso and Frank’s’ essen gehen wollte, seinem Stammlokal am Hollywood Boulevard, war er im Auto über eine Stunde unterwegs. Hank war plötzlich zum Vorstädter geworden, zu einer Art Vergnügungs-Pendler.”

Die möblierten Müllhaufen links und rechts der Straße verschwinden, nachdem wir vom Freeway abgefahren sind. Dieser Teil von San Pedro sieht aus, als hätten die Einwohner die Straßen blank geschrubbt, die Häuser abgeseift und sich anschließend in heiße Luft aufgelöst. Eine sonntägliche Geisterstadt, freundlich und friedlich und ein bißchen langweilig.

“Hank verdiente damals gerade das erste richtige Geld”, erzählt Montfort weiter: “Und sein Finanzberater meinte, er müsse steuerlich was unternehmen. Am besten sich eine Immobilie zulegen.” Montfort lacht. “Hank haßte es, die Häuser anderer Leute zu besichtigen. Also kaufte er kurzerhand das zweite, in das ihn sein Makler schleppte.”

Wenige Wagen sind unterwegs, und Fußgänger gibt’s sowieso nicht. Wir sind im gutbürgerlichen Niemandsland zwischen wohlhabend und reich. Stäbe mit den blauweißen Schildchen der privaten Wachgesellschaften säumen die Auffahrten und Vorgärten wie Garde-Gartenzwerge.

“Hank ist ... eigentlich ...”, sagt Michael Montfort und wühlt vergeblich in seinen Gefühlen nach Worten.

In der ruhigen Nebenstraße riecht es nach Sonntagsbraten. “And there is nothing short of dying”, singt Johnny Cash in meinem Kopf: “Half as lonesome as the sound on the sleepin’ city sidewalks, Sunday mornin’ comin’ down ...”

Charles Bukowskis Eigenheim ist ein gemütliches Zwanziger-Jahre-Häuschen, das in den Siebzigern modernisiert und erweitert wurde. Der Eingang liegt versteckt hinter hohen Bäumen am Ende einer langen engen Einfahrt. Kaum daß der Motorenlärm unseres Wagens verklingt, winkt in der Auffahrt ein gebückter und recht schmaler älterer Herr. Seine Bewegungen sind schildkrötenhaft langsam, die Bewegungen eines Überlebenden.

Michael Montfort winkt zurück, strahlt und weiß wieder, was er sagen wollte:

“Hank ist eigentlich viel zu gutmütig. Ein Seelchen.”

V

Beim Schaf im Wolfspelz.

- Erster Wortwechsel -

“Tolle Gegend, was?”

Charles Bukowski lächelt müde, müder denn je, lebensmüde, als er uns begrüßt. Sein bulliges, in langen Nächten verwittertes Gesicht ist schmal geworden, sein gewaltiger Bierbauch verschwunden, sein Händedruck fast sanft. Buk trägt Tennisschuhe, eine hellblaue Leinenhose mit ausgebeulten Taschen, die um seinen dünn gewordenen Leib schlabbert, und darüber ein weites, grünblau kariertes Hemd.

“Yeah, toll hier”, wiederholt er tief durchatmend, “besser als in einem verrotteten Apartment in East-Hollywood. Du kannst einen Haufen anstellen, bevor die Nachbarn nach der Polizei rufen.”

Das Lachen dazu ist kurz und schadenfreudig. Die charakteristische Melodie seiner Stimme klingt immer noch, wie Bob Dylan singt; falsch und richtig zugleich. Die Gesten, die seinen knurrenden Spott begleiten, kommen jedoch mit der minimalen Verzögerung einer Satellitenübertragung - als hätten die Befehle, die seine Gliedmaßen steuern, ihren Ursprung jenseits unseres Planeten.

“Aber laßt euch von der Fassade nicht täuschen”, sagt Bukowski. “Wir haben unsere Abenteuer. Neulich nachts sind um die Ecke im mexikanischen Ghetto zweihundert Schüsse gefallen.”

Er bedeutet uns vorwegzulaufen und folgt mit vorsichtig schleppenden Schritten.

“Ich meine, in LA kümmert sich natürlich keiner groß um so was. In San Pedro reicht das als Gesprächsstoff für Wochen. Dabei gab’s nicht mal Tote.”

Wir gehen an den beiden dunklen Acura-Coupés vorbei, die in der Einfahrt stehen. Charles Bukowski muß sich an ihnen abstützen. Und als er es tut, gleicht er für Augenblicke einem, der dem Sterben ins Auge sieht, wie es die Menschen nur bei Hemingway tun.

Das Elend im Duell mit dem Tod ist vom Schicksal des Pferdewetters nicht sehr verschieden. In beiden Fällen fürchten auch erfolgreiche Spieler so lange, zu verlieren, bis es geschieht. 1992, mit zweiundsiebzig Jahren, bekam Charles Bukowski Leukämie. Die Chemotherapie ließ seine Haare ausfallen. Er verlor Gewicht, seine Bewegungen wurden langsam, langsamer, als sie es ohnehin seit Jahren waren, und seine Haltung gebückter. Bukowski gewöhnte sich an, einen Hut zu tragen. Auf den Rat der Ärzte stellte er von einem Tag auf den anderen das Rauchen ein. Er trank keinen Tropfen Alkohol mehr und orderte zum Abendessen eiskalt heißen Kräutertee. Kaum waren die Haare halbwegs nachgewachsen, ergab der regelmäßige Bluttest wiederum erhöhte Werte. Bukowski unterzog sich einer zweiten Chemotherapie, die ihn noch mehr zum Greis machte als die erste.

Niemand weiß das besser als Charles Bukowski selbst; und nichts beweist dieses Wissen besser als seine demonstrative Gelassenheit. “Zeit ist da, um vergeudet zu werden”, hat er einmal geschrieben. Je knapper seine Zeit nun wird, desto großzügiger scheint er mit ihr umzugehen. Früher zeigte sein Blick bisweilen eine hektische Leere, dem 00:00-Blinken eines Videorecorders gleich, der seine Programmierung verloren hat. Heute scheint Bukowski ruhiger und entspannter denn je.

“Ich hatte nie viel Glück”, sagt er. “Bis ich fünfzig wurde. Da begann meine gute Phase. Hat ziemlich lange gehalten.”

Seine Augen gleiten über Linda Bukowski, die gerade die Treppe aus dem ersten Stock herunterkommt. Der Blick verrät, daß diese Frau, die ihn seit 1976 mit Vitaminen vollstopft und umsorgt, mit seiner Glückssträhne und dem relativen Frieden seiner letzten Jahre einiges zu tun hat.

“Ich habe keine Ahnung, ob ich für Linda gut bin”, hat er mal gesagt, “aber ohne sie wäre ich nicht hier.”

Linda ist schmal, zierlich und schaut ein wenig verloren drein. In seinem Roman “Hollywood” hat Bukowski sie als eine Ehefrau nach Art der klugen Nora Charles beschrieben (aus den “Dünne Mann”-Screwball-Filmen, die in den dreißiger Jahren nach Dashiell Hammetts gleichnamigem Krimi gedreht wurden). Trinkfest und schlagfertig, wie sie ist, konnte Linda mit Bukowski all die Jahre gut mithalten. Das Kleid, das sie heute trägt, läßt Taille und Hüfte frei und weckt Gedanken, die mit Literatur und Tod kaum zu tun haben.

“Es ist gemütlich. Wie bei einem Bauunternehmer nach Feierabend”, schrieb Matthias Matussek im “stern”, nachdem er Bukowski vor Jahren in San Pedro besuchte. Mich erinnert das Haus eher an das bürgerliche Heim eines älteren amerikanischen Professors.

Der Boden im offenen Küchenbereich ist dunkelrot gekachelt. Den Blick zum Wohnzimmer hin hemmt ein hohes Bücherregal, gefüllt mit Bukowskis Werken in exotischen Sprachen wie Japanisch und Deutsch. Im Rest des Erdgeschosses dominieren über dem dicken grünen Teppich dunkle Farben. Ein paar schwarz angemalte Rattanstühle, Polstersessel und die Couch. Sie steht vor dem Kamin. Keine Spermaflecken, keine Reste von Hämorrhoiden-Salbe. Dafür ein großes Stofftier. Ein Wolf im Schafsfell. Bei mir ist es Begierde auf den ersten Blick.

“Yeah”, sagt Bukowski. “Jeder, der das Viech sieht, will es haben.”

Er nimmt das Stofftier auf den Schoß. Das Bild gleicht einer eigentümlich dialektischen Pieta: ein Wolf im Schafspelz, im Arm gewiegt von Bukowski, der wohl eher ein Schaf im Wolfspelz ist.

 

“Wir sollten die Dinger en masse herstellen. Wir könnten reich werden.”

Die wegwerfende Bewegung, die er dem Satz nachschickt, ist eindeutig. Der Wunsch geriet ihm aus einem anderen Leben auf die Zunge. Charles Bukowski braucht kein Geld. Schon eine ganze Weile nicht mehr, und erst recht nicht für die paar Monate, die ihm bleiben.

Woran er gerade arbeitet? Bukowski, der bis zu diesem Tag über vierzig Bücher veröffentlicht hat, Romane, Kurzgeschichten und ein gutes tausend Gedichte, hebt abwehrend die rechte Hand, in der er immer noch den Wolf samt Schafspelz hält.

“Die Verbrechensrate, unsere Alarmanlagen, die ewige Belästigung durch Raucher - darüber reden wir hier in San Pedro. Nicht über Literatur und Hemingway.”

Er stockt und beobachtet, wie ich einen Block aus meiner Jackentasche fingere.

“Verdammt!” sagt Bukowski zu allen und niemandem. “Ich wette, der Kerl hat auch ein Tonband!”

Viele, die ihn trafen, haben den desperat-amüsierten Gesichtsausdruck beschrieben, mit dem Bukowski auf literarische Fragen zu reagieren pflegt. “Ein paar Freunde und ich hatten ihn in die Ecke gedrängt”, erinnert sich etwa David Baker an einen Partyabend mit “Saint Hank of Hollywood” in den frühen siebziger Jahren: “Wir wollten mit ihm über Literatur reden. Er schaute drein, als wolle er davonkriechen in irgendeinen dunklen, ruhigen Raum und dort sterben wie ein verwundetes Tier ... ”

Schlimmer als von pubertierenden Jung-Poeten angehauen zu werden, ist in Bukowskis Augen nur noch eins: Interviews zu geben. Diesen Ritus des faktenversessenen Journalismus haßt er wie so viele Autoren. Eine Zeitlang verschreckte er potentielle Fragesteller mit der Forderung: “Tausend Dollar die Stunde.” Die Runde in den Talkshows zu machen, hat er stets abgelehnt. Und Sean Penn empfahl er, und zwar, als der ihn interviewte: “Also, wenn du was über mich wissen willst, lies nie ein Interview. Und ignoriere das hier ....” Denn: “Sowas macht mich verlegen. Weshalb ich nicht immer die Wahrheit sage. Ich albere lieber herum und mache Quatsch, behaupte also einen Haufen falsches Zeug, nur so zum Spaß und um Scheiße zu bauen.”

Wer schreiben kann, findet wenig Grund, rohe Texte in ein Mikrophon zu sprechen. Das letzte größere Frage-und-Antwortspiel, auf das er sich einließ, hat Bukowski daher schriftlich absolviert.

Warum er dann und ausgerechnet heute ...

“Na, gewiß nicht, um Bücher zu verkaufen.” Bukowski lächelt. “Ich meine, es wäre doch viel schöner, wir könnten hier einfach sitzen und uns unterhalten, was essen und so.”

Der alte Mann verzieht den Mundwinkel in einem Unwillen, der sichtlich gespielt ist.

“Aber ich feiere Geburtstag. Ich muß nett sein.”

Er grinst zu Michael Montfort hinüber. Ein Vater-zum-Sohn-Lachen.

“Außerdem sollen die Leute mal nett über mich reden ... Ich meine, soweit die Leute zu sowas überhaupt in der Lage sind.”

VI

“Wie eine Spinne ihr Netz webt.”

- Bukowski übers Schreiben -

“‘Die Sonne steht in Agoniiie / über Saint Louiiis!’- und anderen Schwachsinn dieses Kalibers. Sowas habe ich, als ich anfing, oft nachträglich in die Gedichte reingeschrieben, weil ich wußte, daß die Redakteure ihre Poesie am liebsten poetisch hatten und nicht so hart wie meine Zeilen. Ich habe ihnen die Zeilen als Köder hingeworfen und gedacht: Lutscht das aus! Hätte ich vielleicht nicht tun sollen. Aber so wurde ich mein erstes Zeug los ... War’s das? Können wir aufhören?”

“Ich habe noch gar keine Frage gestellt ...”

“Okay, dann mach weiter ...”

Wir sitzen in dem Vorgarten-Park, den Charles Bukowski seinen “Garten Eden” nennt. Ein paar Meter weiter dreschen, angetrieben vom Wind, zwei hölzerne Silhouetten-Boxer aufeinander ein. Das luftige Spielzeug ist Michael Montforts Geburtstagsgeschenk für Bukowski. Der schaut dem rastlosen Duell zu und grinst.

“Wahrscheinlich willst du als nächstes wissen, warum ich überhaupt schreibe? Ja? Natürlich. Habe ich mir gedacht ... Also, ich schreibe, um nicht verrückt zu werden. Das ist heute so, wie es früher war. Inzwischen werde ich aber gut bezahlt. Damals hat mir keiner was dafür gegeben.”

“Fürs Schreiben bezahlt zu werden”, hat er behauptet, “ist so, als ginge ich mit einer wunderschönen Frau ins Bett, und hinterher steht sie auf, geht zu ihrem Portemonnaie und gibt mir eine Handvoll Geld. Ich nehm’s natürlich.”

“Ist das Geld”, frage ich, “auch gut für das, was du schreibst?”

“Natürlich ist es besser, ein bißchen was zu haben”, sagt Bukowski. “Ich habe lange genug gehungert. Und gehungert. Und gehungert. Ich meine, zu hungern ist nicht so schlimm. Doch auf Dauer geht es an die Substanz. Du wirst dünn. Und deine Zähne fallen aus. Ich konnte mir die Dinger einfach aus dem Mund ziehen. Hab’ sie auf den Boden geworfen.” Er schweigt einen Augenblick. “Okay, ich habe also genug gehungert. Und heute, wo ich es nicht mehr tue, fühle ich mich nicht schuldig. So einfach ist das ...”

“Du hast gesagt, du schreibst, um nicht durchzudrehen ...”

“Um nicht verrückt zu werden. Yeah ...”

“Und?” frage ich: “Hat’s geholfen?”

“Du meinst, ich sei verrückt? Daß es nicht geholfen hat?” Bukowski lacht müde: “Das ist gut! Aber stell dir vor, ich hätte nicht all das Zeug geschrieben, ich meine ... Wahrscheinlich steckte ich heute in einer Gummizelle. Glaube ich jedenfalls. Schreiben ist eine Entspannung, eine Erlösung ... War’s das? Nein?”

Er atmet durch und zeigt auf Michael Montfort, der um uns herumturnt und den Motor seiner Kamera surren läßt.

“Wenn der was Gutes sagt, tu einfach so, als wäre der Spruch von mir.”

“Klar”, nicke ich. “Andererseits ist das nicht so wichtig. Ich erfinde die Zitate sowieso.”

“Gut”, sagt Bukowski, “dann bin ich beruhigt. Aber paß auf, für den Fall, daß dir nichts einfallen sollte, erzähl ich dir jetzt eine Geschichte, wie das mit dem Schreiben ist ...” Mit einer müden Handbewegung wischt er die Fliege beiseite, die über seinen altersfleckigen Handrücken kroch. “Vor Jahren hockte ich total pleite in so einer Bretterbude in Atlanta. Ich hatte nicht mal eine Schreibmaschine, und ich hatte Hunger. Auf dem Boden zwischen einem Haufen alter Zeitungen hab’ ich ‘nen Bleistiftstummel gefunden. Mit dem kritzelte ich auf die weißen Ränder der alten Zeitungen. Anderes Papier hatte ich nicht. Ich wußte genau, daß kein Mensch je eine Zeile davon lesen würde. Aber ich mußte es trotzdem tun. Automatisch, zwanghaft, wie eine Spinne ihr Netz webt. Verstehst du das? Ich bin ein geborener Schreiber. Ich kann dagegen nichts machen. Außer eben zu schreiben. Und dann geht’s mir besser.”

“Weißt du noch, was du damals geschrieben hast?”

“In der Bretterbude? Um Gottes willen! Nicht ein Wort ...”

“Ich kannte einen Schriftsteller, der hatte 1940 auf der Flucht vor den Nazis in einem französischen Lager gesessen”, erzähle ich, “und da schrieb er seine Gedichte wie du mit einem Bleistiftstummel auf Papierfetzen. Und ein halbes Jahrhundert später, als er fast neunzig und altersblind war und die geretteten Texte archiviert wurden, da konnte niemand mehr die Schrift lesen ...”

“Da siehst du’s”, sagt Charles Bukowski, “hat keinen Sinn, so Zeugs aufzuheben ...”

“Die Geschichte geht weiter: Der alte Mann, er hieß Hans Sahl, wußte jede Zeile auswendig. ‘Was man mit einem Bleistiftstummel geschrieben hat auf einem Block, für den man im Lager zwei Zigaretten tauschen mußte’, hat er gesagt, ‘das vergißt man nicht.’”

“Gut”, sagt Bukowski und lächelt kein bißchen. “Ich meine, der war gut dran. Ich vergesse alles, was ich schreibe.”

“Ist das nicht der Grund, warum wir was aufschreiben?”

“Yeah. Es fällt einem leichter, es abzuhaken. Die Leute fragen mich immer nach irgendwelchen Sätzen in meinen Büchern. Ich sage: ‘Was? Hab’ ich das geschrieben?’ Meiner Meinung nach ist es das beste, du reinigst deinen Kopf von dem alten Kram, so daß du die neuen Sachen schreiben kannst. Es ist, wie ein neues Leben zu beginnen ...”

Charles Bukowski rutscht unruhig auf dem Gartenstuhl hin und her und schiebt seinen Strohhut, der ihn vor der kalifornischen Sonne schützt, tiefer ins Gesicht.

“War’s das endlich?”

“Ich frage mich, wie oft ich dich das fragen lasse, bevor ich ja sage ...”

“Yeah. Das frage ich mich auch ...” Bukowski lacht gutmütig: “Also gut, was jetzt? Hemingway?”

“Noch nicht. Der ist die letzte Zuflucht. Falls mir nichts mehr einfällt.”

“Naja”, sagt Bukowski, “da haben wir wenigstens was, worauf wir uns freuen können.”

VII

Mischwesen aus Mann und Buch.

- Bukowski, der Mythos -

“Wenn ich über Hemingway schreibe, mache ich das meistens aus Verarschung”, sagte Charles Bukowski 1993, “aber ich schulde ihm vermutlich mehr, als mir lieb ist und als ich zugeben kann.”

Hemingway erkundete, in der Regel als Journalist, die Orte und Charaktere seiner Bücher solange, bis sie zu einem Teil seiner Biographie geworden waren. Er und Henry Miller, der sich ein Leben lang als Forschungsreisender in Sachen Spiritualismus und Sex umtrieb, sind die beiden amerikanischen Autoren, die bei der Suche nach Bukowskis würdigeren Vorgängern am häufigsten aufgeboten werden.

“Ernest Hemingway und Henry Miller leben noch, wenn auch krank, und sie hausen in einem billigen Zimmer in East Hollywood - das kann man jedenfalls denken, wenn man diese Sammlung von sechsunddreißig Kurzgeschichten gelesen hat”, schrieb Michael F. Harper 1983 in seiner Rezension von “Hot Water Music”: “Schmutzig, obszön und gewalttätig, gleicht Bukowskis Los Angeles mehr Millers Paris als dem Hemingways, aber unser Führer durch diese Unterwelt zeigt Hemingways lakonischen Stoizismus, nicht Millers apokalyptisches Rhapsodentum.”

Wolf Wondratschek sprach vom “neuen Schreib-Weltmeister im Schwergewicht, Gewichtsklasse Hemingway”. Wilhelm Bittorf, dem “Papa Buk” vor fünfzehn Jahren segnend die Hand auf die Glatze legte, nannte ihn einen “Hinterhof-Hemingway” und deutete damit an, daß Bukowski für die Elendsviertel getan habe, was Hemingway für edlere Stadtteile und Anliegen leistete. Bukowskis Haltung und Tonfall schienen ihm zudem weniger getragen und ernst: “Was Buk produziert, ist nicht Männlichkeitswahn, sondern dessen Parodie ... Wie der Reiter der Rosinante entlarvt auch ‘Buk’ durch groteske Übertreibung, was bei seinen Vorgängern, was bei Miller und Mailer, bei Hemingway und Bogart besser kaschiert war.” Und Jörg Fauser, von dem Charles Bukowski bis heute schwört: “Der Kerl war mehr Bukowski, als ich es jemals war!” -, Fauser also fragte:

“Man nennt Sie oft in einem Atemzug mit Henry Miller?”

“So?” antwortete Bukowski. “Gut für ihn.”

Vergleiche mit anderen Autoren hat Charles Bukowskis ungewöhnliche und ungewöhnlich populäre Prosa unablässig herausgefordert; nicht zuletzt in legitimatorischer Absicht. Neben Hemingway und Miller wurde eine beachtliche Versammlung von Schreibern aufgeboten. Norman Mailer: Bukowski gleiche einem “Mailer on steroids”. Saroyan und Kerouac: “literarische Vorläufer in den Genres der Arbeiter- und Außenseiter-Literatur [seien] Autoren wie Henry Miller, William Saroyan und Jack Kerouac”. Céline: Bukowski “steht in einer Reihe mit Henry Miller und dem französischen Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline, unsentimentalen Beobachtern der ranzigen Unterseite der guten Gesellschaft. Aber Céline wurde verrückt, und Miller verwandelte sich in einen Macho-Angeber. Bukowski ist so sachlich wie Armut; er ist zu hart und zu selbstgenügsam, um angeben zu müssen”. Hammett: “Bukowski haut seine Dialoge so trocken und hart aufs Papier wie der Boxer die Fäuste beim Training in den Punchingball. Seine schnörkellose Prosa ist eine Mischung aus Dashiell Hammett und Henry Miller ...” Dostojewski: Bukowski sei “ein exhumierter Dostojewski, der wie ein Verrückter über seine arglosen amerikanischen Brüder herfällt”. Und last not least Jack London: Bukowskis Texte, hieß es, böten “eine Mischung aus Jack Londons Aggressivität und Henry Millers Erotizismus”.

Während im deutschen Sprachbereich der Vergleich mit Hemingway an Häufigkeit alle anderen übertrifft, dominiert im amerikanischen der Verweis auf Henry Miller. Die beiden Autoren waren über Jahrzehnte hinweg kalifornische Nachbarn und korrespondierten miteinander. Bukowski schätzte Miller, fand manchen seiner Romane allerdings über Strecken langweilig. Schuld daran trugen Millers intellektuelle Aspirationen. Bukowski selbst zeigt kaum Neigung zum reflektierenden Umgang mit den abendländischen Bildungsgütern.

 

“Die zwei schlimmsten Orte, wo man dich hinschicken kann”, meint er, “sind das College und die Kirche. Beide fressen deine Gehirnzellen auf. Steck einen Mann ins College oder steck ihn in die Kirche, und du kannst ihn vergessen.”

Seinem Haß aufs Intellektuelle hat er als dezidierter Anti-Akademiker ebenso Lauf gelassen wie seiner Lust zur Provokation bildungsbürgerlicher Leser.

“Ich habe seit zehn Jahren kein Buch mehr gelesen”, erklärte er 1987 einem perplexen Fragesteller: “Ich kann nicht mehr lesen. Du legst es mir in die Hand, und schon fällt es heraus. Bringt mir einfach nichts. Ich mag den ‘National Enquirer’ und den ‘Herald Examiner’, und das ist es dann. Das meine ich ernst.”

Nicht wenige haben es ihm geglaubt. Er schreibe als ein “unbelehrbar Ungebildeter”, hieß es etwa in der “New York Review of Books”, “der uns wegen unserer Ansprüche auf ein höheres Sein verachtet”.

So verschieden ihre Haltung zur abendländischen Tradition ist, gemeinsam ist beiden Autoren, Charles Bukowski und Henry Miller, jedoch die Amoralität ihres Erzählens. Im artifiziellen Kontext von Fiktion pflegt solch monströse Un-Ethik eher genußfähig zu bleiben. Im Umfeld autobiographischen Schreibens mit seinen identifizierbaren Realitätsfragmenten muß sie provozieren und polarisieren.

Wie einst Millers Werke treffen daher auch Bukowskis beim Publikum auf offenliegende Nervenstränge und wecken extreme Reaktionen. Was er schreibt, wird blind geliebt oder in blinder Wut gehaßt. Die es gelesen haben, sind entweder Fans oder Feinde. Die einen macht die Wut auf Bukowskis Themen, auf den brutalen Sex und die nackte Gewalt, dieses Leben auf “Schwundstufe” und das Schwelgen im “Sexualklamauk”, blind für die keineswegs unrhetorischen Qualitäten seiner radikal reduzierten Prosa: “Er ist gut, nehme ich an, wenn man es mag, über Toiletten und Hurenhäuser zu lesen.” Die anderen verehren seine symbolfreien “Klartexte” kultisch, nehmen sie eulenspiegelhaft beim Wort und wollen zwischen den geschilderten Abenteuern und ihrer selbstironischen Literarisierung keinen Unterschied erkennen.

Was für das Gros seiner Leser stimmen dürfte - daß sie in Bukowskis Texten die Grenze zwischen Realität und Fiktion nicht akzeptieren -, stimmt gewiß fürs Gros der Kritik. “Erst lebe ich, dann mache ich einen Kommentar dazu”, zitierte Walter Gerlach 1971 den tschechischen Schriftsteller Bohumil Hrabal und meinte: “Für keinen Schriftsteller trifft das mehr zu als auf Charles Bukowski.” Andere sahen in all seinen Büchern “wilde, ungeformte Brocken einer Autobiographie”, nannten Bukowski deshalb einen “Romancier ohne Geheimnis” und hätten seine Prosa am liebsten aus der Rubrik “fiction” in die “non-fiction” abgeschoben: “Wie in seinem gesamten Werk”, meinte etwa Adrian Dannatt in der Londoner “Times” über Bukowskis “Hollywood”, “ist die Gattungsbezeichnung ‘Roman’ lediglich ein Vorwand für diese ungewöhnlich unverstellte Autobiographie.”

Die Ineinssetzung von Leben und Werk bildete die solide Basis, auf der “Bukowski, der Mythos” gedieh - rückhaltloser als in den USA noch in Deutschland. Dem europäischen Bukowski-Publikum lag der Westküsten-Underdog-Alltag nicht nur sozial fern. Geographische wie kulturelle Distanz machte es nahezu unmöglich, die textuelle Spannung zwischen der ohnehin exotischen Realität und Bukowskis Stilisierungen und Fiktionalisierungen wahrzunehmen. Je weniger man von dem wirklichen Bukowski wußte, desto mehr glaubte man, ihn zu kennen: Kumpel Buk, permanent betrunken, permanent hinter einer Frau her oder schon in ihr drin; kein ferner Gott oder König, sondern ein Narbengesicht, in dessen Nachbarschaft man sich wünschte.

“Ich war baßerstaunt, wie freundlich und höflich dieser angeblich ‘wilde Mann’ war”, erinnert sich der Schriftsteller John Rechy an seine erste Begegnung mit Bukowski: “Ich ging mit der Einsicht, daß Bukowskis rauhes Image so sorgfältig gepflegt war wie der Glamour-Schein um Andy Warhols ‘darling’-Truppe ...” Er blieb nicht der einzige, den Bukowski überraschte. Renee Tajima koproduzierte den Dokumentarfilms “Best Hotel on Skid Row”, zu dem Bukowski den Kommentar schrieb und sprach. “Er war wirklich unglaublich”, sagt sie. “Ich dachte, er würde sich wie ein Monster benehmen, weil er doch über sich selbst schreibt, als wäre er der totale Frauenfeind, ein komplettes Monster, aber in Wirklichkeit ist er ein wunderbarer, ein einfach wunderbarer Mensch.”

Die meisten, Kritiker wie Fans, die ihm persönlich begegneten, machten irritierend normale Erfahrungen wie diese. Nachdem “Bukowski, der Mythos” erst einmal etabliert war, drohte der Autor zum Gefangenen seiner eigenen Texte und auch Inszenierungen zu werden - weshalb er selbst früh die Demontage seines Mythos betrieb.

“Ich habe nie gesagt, ich wäre der schreibende Bogart oder der beste seit Hemingway. Das besorgen die Zeilenschinder”, sagte er bereits 1977, “es ist ihr Geschäft, und wahrscheinlich leben sie nicht schlecht dabei.”

So einfach und direkt hätte sich “Bukowski, der Mythos” vielleicht dementieren lassen, stellte er einzig ein Kunstprodukt dar, entstanden aus der geschickten Zusammenarbeit zwischen Dichter und Medien. Doch mehr als auf seinem - reichlich veröffentlichten - Privatleben beruhte Bukowskis Ruf auf seinen Texten. Die “autobiographische Falle”, in der er sich gefangen fand, hatte er herbeigeschrieben. Allerdings nicht aus Versehen oder Ungeschick. Mit der literarischen Fiktionalisierung des Privaten geht zwangsläufig die Mythisierung und damit Neukonstruktion der realen Autorenperson in einem intertextuellen Kaleidoskop einher. Sich selbst von dem (Zerr-) Bild verletzt zu finden, das die eigenen Texte entwerfen, stellt gewissermaßen eine Berufskrankheit dar. Unter ihr leiden Schriftsteller, die sich in das Genre der autobiographischen Fiktion wagen, wie Bergleute unter Staublunge.

Als literarische Schreibweise ist autobiographische Fiktion neueren Datums, weitgehend ein Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts. Autoren wie Marcel Proust und Céline haben sie in der europäischen Moderne entwickelt. In den amerikanischen Kulturbereich wurde sie von Amerikanern in Paris eingeführt, von Hemingway und stärker noch von Henry Miller. Die Konsequenzen, die sich aus ihr - verstärkt durch die wachsende Medialisierung des Alltags - ergeben, haben beide am eigenen Leib erfahren müssen; wie ein paar Jahrzehnte später Bukowski. Ihm gelang es, für eine Weile immerhin, ironisch zu bewältigen, was Hemingway an sich hatte zweifeln und zuguterletzt verzweifeln lassen. Dabei mag Bukowski das spezifische Verhältnis geholfen haben, in dem sein Leben und Schreiben zueinander standen. Während Hemingway die Fiktion autobiographisierte, unternahm es Bukowski, seine Autobiographie zu fiktionialisieren. Die Konsequenzen, die dieses Unternehmen für seine eigene Person hatte, gleichen dem Schicksal von Henry Miller.

“Er begann sein Leben als ein menschliches Wesen”, schreibt dessen Biograph Robert Ferguson, “und nach einer Serie von überraschenden und manchmal gewagten Abenteuern erfüllte er die selbstgestellte Aufgabe und verwandelte sich in ein seltenes Mischwesen aus Mann und Buch.”

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