Geschichte der deutschen Literatur. Band 1

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Irenik

So erweist sich Opitz mit seiner Literaturreform als Vertreter einer Haltung, die spätestens seit Erasmus von Rotterdam aus der Welt des Humanismus nicht mehr wegzudenken ist und die man mit einem Begriff, der vom griechischen „eirene“ (Frieden) abgeleitet ist, Irenik nennt.38 Für Erasmus gibt es so etwas wie eine Friedenspflicht des Intellektuellen, der in jenem Streit der Meinungen, ohne den kulturelles Leben und gesellschaftliche Dynamik nicht zu haben sind, stets der Vorrang gebührt. Die Diskurse der gebildeten Humanisten sollen sich schon allein dadurch vom Gelehrtenstreit der Scholastik, vom Mönchsgezänk, von den Diskursen der Kontroverstheologie und den Haßpredigten des Konfessionsstreits unterscheiden, daß sie frei von Scharfmacherei sind; daß sich dort, wo den Disputanten die Argumente ausgehen und sich keine gemeinsame Position abzeichnet, ein jeder in Demut und Respekt vor dem anderen zurückzieht. Im Licht dieser „Irenik“ müssen die Bestrebungen des Humanismus vollends als Friedenswerke erscheinen.

Literaturreform und Sprachgesellschaften

Der Erfolg gab Opitz Recht. Aber wie groß waren die Erfolge wirklich, die er mit seiner Literaturreform erzielte? Wie schon erwähnt, blieb deren Wirkung zunächst auf die evangelischen Territorien beschränkt; die Grenze zu den katholischen Fürstenstaaten konnte sie nicht überwinden. Immerhin konnte Opitz mit ihr einen Teil­erfolg verbuchen; denn eine Grenze, die seinerzeit nicht weniger tief war als die zwischen Katholiken und Nichtkatholiken, die zwischen Lutheranern und Calvinisten, übersprang sie doch. Dabei kam ihr eine neue Institution des literarischen Lebens zugute, die sich ausdrücklich dem Ziel verschrieben hatte, Lutheraner und Calvinisten zusammenzubringen, die dieses Ziel wie Opitz mit einem Engagement für die deutsche Sprache und Literatur zu fördern suchte, das von huma­nistischen Interessen lebte, und die von daher zur wichtigsten

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Plattform für die Umsetzung seiner Literaturreform wurde: die Institution der Sprachgesellschaften.39

Bereits 1617 hatte der Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen in Weimar die wichtigste dieser Sprachgesellschaften, die „Fruchtbringende Gesellschaft“, gegründet. Dem folgten 1643 die „Teutschgesinnete Gesellschaft“ von Philipp von Zesen (1619 –1689) – der seinen Namen trotz seiner „teutschen“ Gesinnung bald auf gut humanistische Art zu ­Caesius latinisierte – 1644 der „Pegnesische Blumenorden“ zu Nürnberg, deren führende Mitglieder Georg Philipp Harsdörffer (1607 –1658) und Johann Klaj (latinisiert: Clajus, 1616 –1656) waren, und manch andere Gesellschaft mehr. Sie alle gaben sich ein Statut, wie man es von dem Vorbild der „Accademia della Crusca“ in Florenz her kannte, hatten also eine feste Organisationsform, und das verschaffte ihnen eine gewisse Schlagkraft und einen Einfluß auf das kulturelle Leben um sie her, was sie eben zu einer idealen Plattform für die deutsche Barockliteratur machte. Zugleich legen sie auf besonders augenfällige Weise Zeugnis von dem Gedanken ab, daß sich mit literarischen Aktivitäten im Geist des Humanismus der Streit der Konfessionen wo nicht überwinden, so doch zumindest zeitweise beiseiteschieben ließe, daß sich mit ihrer Hilfe ein Raum von Interessen erschließen ließe, der nicht von Kontroverstheologie beherrscht wäre – ein Gedanke, dessen Strahlkraft freilich nicht in die katholische Welt hineinreichte.

Bedeutung und Grenzen von Opitz’ Literaturreform

So machten Reformation und Gegenreformation, machte der Konfessionalismus aus Deutschland ein Land, das sich kulturell in zwei Räume aufspaltete, in denen die literarische Entwicklung jeweils einen anderen Verlauf nahm. Das hatte Folgen bis weit ins 18., ja bis ins 19. Jahrhundert hinein. Wie die katholischen Territorien im 17. Jahrhundert kaum einen Anteil an der Barockliteratur hatten, so im 18. Jahrhundert auch nicht an der Literatur der Aufklärung; erst spät, in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, setzte sich die Aufklärung im katholischen Süddeutschland, in den österreichischen Landen des deutschen Kaiserhauses der Habsburger und am Rhein durch – zu spät

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für die Literatur. Und so hatte das katholische Deutschland zunächst auch keinen Anteil an Sturm und Drang, Klassik und Romantik. Erst als sich die Romantik dem Mittelalter und mittelalterlichen Formen von Frömmigkeit zugewandt, sozusagen zum Katholizismus bekehrt hatte, konnte sie in den katholischen Territorien Fuß fassen und diese damit an die literarische Entwicklung anschließen.

Mit seinem wichtigsten kulturpolitischen Anliegen, dem Versuch, die Grenzen zwischen den Konfessionen aufzubrechen, war Opitz also nur ein Teilerfolg beschieden. So ist hinter das stolze Wort vom „Vater der deutschen Dichtung“ ein Fragezeichen zu setzen, unbeschadet dessen, daß auch von Späteren immer wieder an es erinnert worden ist und es sich überhaupt im kulturellen Gedächtnis festgesetzt hat. Nicht alles, was es nach Opitz in Deutschland an literarischen Aktivitäten gab, hat sich an seinem Programm orientiert. Richtig ist allerdings, daß Opitz’ Literaturreform die entscheidende Weichenstellung für jene Entwicklung war, die vom Barock über die Aufklärung zur „Weimarer Klassik“ führte, der man ja immer noch ein besonders enges Verhältnis zum Erbe der Antike nachgesagt hat. Deshalb hat sich die Vorstellung von Opitz als „Vater der deutschen Dichtung“ vor allem dort erhalten, wo man diesen Entwicklungsbogen im Auge hatte.40 Wenn man aber an das romantische Interesse denkt, das sich in der gleichen „Goethezeit“ mit Macht zu Wort meldete und das in eben der Popularliteratur, die Opitz hatte überwinden wollen, in „Volksliedern“ und „Volksbüchern“ die Basis und Substanz aller wahrhaft deutschen Dichtung erblicken wollte, dann muß man weitere Abstriche an Opitz’ Vaterschaft machen; denn der Vater dieser Art von Dichtung war Opitz nicht, hatte er weder sein können noch wollen.

Das Weiterleben von Popularliteratur und neulateinischer Literatur

So hat Opitz mit seiner Literaturreform zwar eine humanistische Dichtung in deutscher Sprache auf den Weg gebracht, damit aber keineswegs allem, was nach ihm an Literatur entstanden ist, seinen Stempel aufdrücken können. Der Aufstieg der Barockliteratur bedeutet weder das Ende der alten Popularliteratur noch der

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neulateinischen Dichtung. Hans Sachs wurde zwar nach Opitz kaum noch gelesen. Aber „Volksbücher“ wie die Geschichten vom „hürnen Seyfried“ – von dem aus dem „Nibelungenlied“ bekannten Drachentöter – von der Meerfee Melusine, der schönen Magelone und der frommen Genoveva, vom Herzog Ernst und von dem Magier Faust, von Till Eulenspiegel und den Schildbürgern wurden bis tief ins 18. Jahrhundert hinein immer wieder aufgelegt, fanden hier immer noch ihr Publikum. Ja eine Entwicklung wie die des Romans, insbesondere die Entwicklung des Picaro- oder Schelmenromans ist ohne die fortdauernde Präsenz der Popularliteratur nicht zu denken. Das gilt gerade auch für das Werk des bekanntesten deutschen Autors des 17. Jahrhunderts, Grimmelshausen, ein Werk, das durch eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen humanistischer und Popularliteratur gekennzeichnet ist.

Und auch die neulateinische Literatur blieb im 17. Jahrhundert weiterhin in Blüte. Viele Autoren des Barock haben sowohl in Deutsch als auch in Latein geschrieben, allen voran Opitz selbst. Hieraus ist der germanistischen Forschung ein Problem erwachsen, dem sie sich nur ungern gestellt hat, im 19. und frühen 20. Jahrhundert zunächst aus ideologischen, später dann eher aus pragmatischen Gründen. Es versteht sich von selbst, daß man das Gesamtwerk eines solchen Autors nur dann angemessen beurteilen kann, wenn man dessen lateinische Arbeiten in seine Untersuchungen mit einbezieht. Man muß hier also eigentlich auch die neulateinische Literatur studieren, um die Geschichte der deutschen Literatur schreiben zu können – eine Aufgabe, der sich erst die neuere Forschung wirklich gestellt hat.

Etliche Autoren des 17. Jahrhunderts haben überhaupt nur in lateinischer Sprache geschrieben. Das gilt vor allem für Autoren aus den katholischen Territorien, etwa aus dem besonders katholischen Bayern, dessen Herzöge sich politisch als Wortführer der Gegenreformation profilierten, oder aus den Rheinlanden mit seinen geistlichen Kurfürsten; es gilt zum Beispiel für einen der angesehensten und meistgelesenen Lyriker der Zeit, den Jesuiten und bairischen Hofprediger Jakob Balde (1604 –1668), einen Autor, dessen Gedichte noch ­Goethe gekannt und geschätzt hat. Ja ganze Gattungen haben eine weite Strecke ihres Wegs im Medium des Neulateinischen zurückgelegt, so daß man auch deren Geschichte im Grunde nur unter Einbeziehung ihrer

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neulateinischen Beiträger schreiben kann.41 Das sei hier kurz an zwei Gattungen erläutert, die, jede auf ihre Weise, eine prominente Rolle in der Geschichte der modernen Literatur spielen: am utopischen Roman und an der Tragödie.

Der utopische Roman

Unter Utopie versteht man bekanntlich den Versuch, ein Bild von idealen Lebensverhältnissen zu entwerfen, das Modell eines idealen Staats, einer idealen Gesellschaft, das den jeweils herrschenden realen Verhältnissen als Gegenentwurf entgegengehalten werden kann, und unter einem utopischen Roman einen Roman, in dessen Mittelpunkt die Vergegenwärtigung eines solchen idealen Gemeinwesens mit den Mitteln fiktionalen Erzählens steht. Der utopische Charakter der fingierten idealen Zustände wird gerne dadurch betont, daß sie auf einer Insel weit weg von Europa angesiedelt wird, und da liegt es nahe, sie erzählerisch in der Perspektive eines Reisenden zu erschließen, den es an ferne Gestade verschlagen hat. Ersteres macht die Utopie zur Inselutopie, letzteres den utopischen Roman zum Reiseroman.42

 

Über den idealen Staat nachzudenken, war ein Lieblingsprojekt der Humanisten; hierbei konnten sie zugleich ihre Erfahrungen mit den Höfen reflektieren und sich antiken Staatsdenkern wie Platon, Aristoteles und Cicero nahe fühlen, und so ist die Frühgeschichte des utopischen Romans überwiegend im Raum der neulateinischen Literatur angesiedelt. Sie beginnt mit einem Werk von Thomas Morus, dem die Utopie auch ihren Namen verdankt und das vor allem von Platons „Politeia“ inspiriert ist; sein Titel lautet „De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia“ (1516), zu deutsch etwa: von der besten Staatsverfassung oder die neuentdeckte Insel Utopia. Dem folgen „Civitas Solis“ (1602), der Sonnenstaat, von Tommaso Campanella

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(1568 –1639), „Christianopolis“ (1619), der Christenstaat, von Johann Valentin Andreae (1586 –1654) und „Nova Atlantis“ (1627), das neue Atlantis, von Francis Bacon (1561 –1626), um hier nur die bekann­testen zu nennen.

Die Namen der Autoren belegen einmal mehr den internationalen Charakter der neulateinischen Literatur: Morus und Bacon waren Engländer, Campanella Italiener, Andreae Deutscher. Auch wenn alle diese Werke bald nach ihrem Erscheinen in die verschiedenen Volkssprachen übersetzt worden sind, haben sich ihre Autoren doch im Raum des Neulateinischen aufeinander bezogen, ist der Gattungszusammenhang zunächst einer der neulateinischen Literatur, so daß man das, was von hier aus in Werke des Barock wie den höfisch-historischen Roman eingeflossen ist und auf spätere utopische Romane wie „Die Insel Felsenburg“ (1731 –1743) von Johann Gottfried Schnabel (1692 –1750?) gewirkt hat, in diesem Raum des Neulateinischen aufsuchen muß.

Das Jesuitendrama

Ein zweites, etwas anders gelagertes, aber nicht weniger markantes Beispiel für die neulateinische Literatur und ihre Bedeutung für die Entwicklung der volkssprachlichen Literaturen ist das „Jesu­itendrama“.43 Der Orden der Jesuiten, die „Societas Jesu“, die 1534 gegründet und mit der Gegenreformation groß worden war, bildete so etwas wie die Speerspitze und Sturmtruppe dieser Gegenreformation und erlangte darüber in vielen katholischen Fürstenstaaten wie in den katholischen Ländern Europas überhaupt die Bedeutung einer kulturellen Elite des Katholizismus. Was den Orden so erfolgreich machte, war nicht zuletzt, daß es ihm dank der ausdauernden Arbeit an der Bildung seiner Mitglieder – und das hieß seinerzeit: an einer humanistischen Bildung – gelang, die Errungenschaften des Humanismus für die „propaganda fidei“, für seine Glaubens- oder vielmehr Konfessionspropaganda in Dienst zu nehmen und damit dem Katholizismus ein modernes Gesicht zu geben.44 So entwickelte er zum Beispiel bei seinen Kirchen- und Klosterbauten einen neuen

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Stil der Architektur, der alle Register der antiken Baukunst zu ziehen verstand, und er wurde damit zu einem Vorreiter der neuen Art des Bauens, der Architektur des Barock; deshalb hat man vom Barock auch gerne als vom „Jesuitenstil“ gesprochen.

In den Zusammenhang dieser Bestrebungen gehört nun auch das Jesuitendrama. Die Jesuiten haben in der Zeit von 1550 bis 1650 eine Fülle von Dramen geschrieben und zur Aufführung gebracht, in denen sie sich nicht nur die formalen Errungenschaften des Humanistendramas von der Einteilung in Akte und Szenen bis zu einer rhetorisch durchstilisierten Verssprache in griechisch-römischen Metren zunutze machten, sondern auch dessen Ansätze zu einer neuartigen Bühnentechnik aufgriffen und weiterentwickelten. So setzten sie zum Beispiel auf das neue Prinzip der Guckkastenbühne – Zuschauer- und Bühnenraum sind architektonisch getrennt, der Bühnenraum ist dank eines Bühnenrahmens für den Zuschauer nur von einer Seite, in einer Perspektive einsehbar – und ließen sich bei dessen Ausgestaltung allerlei theatralische Effekte, sogenannte „Maschinen“ einfallen, von denen zum Beispiel noch die Shakespeare-Bühne nichts wußte. Damit leisteten sie einen wesent­lichen Beitrag zur Entwicklung des modernen Illusionstheaters, wie sie sich ja auch in anderen Künsten, etwa in der Architektur und Malerei, als die großen Illusionisten des Glaubens erwiesen, die die Möglichkeiten des mimetischen Illusionismus konsequent auszuspielen wußten.

Die Sujets ihrer Dramen waren vor allem Bekehrungsgeschichten und Geschichten von Märtyrern, basierend auf der Bibel und anderen Quellen der Kirchengeschichte. Der bekannteste Autor solcher Dramen ist Jakob Bidermann (1578 –1639), von dem sich immerhin noch die Erinnerung an den „Cenodoxus“ (1602) erhalten hat,45 ein anderer Jakob Masen (1606 –1681), der sich auch als Theoretiker des Dramas hervorgetan hat. Die Sprache, in der die Stücke abgefaßt waren und zur Aufführung gebracht wurden, war nun eben Latein, war das Neulatein des Humanismus, unbeschadet dessen, daß man auf das breite Publikum, auf den „gemeinen Mann“ zielte, also auf ein Publikum, das in seiner Masse Latein nicht verstand. Das tat aber

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dem Erfolg keinen Abbruch; es gibt viele Zeugnisse dafür, wie groß der Zulauf zu den Veranstaltungen war, und wie gewaltig ihre Wirkung.

Aus heutiger Sicht ist wohl beides gleich befremdlich, kann man sich nur noch darüber wundern, daß da jemand ein Unternehmen, das auf Massenwirkung zielte, im Medium einer der Masse unverständ­lichen Sprache in Angriff nahm und daß er damit dann in der Tat die gewünschte Wirkung erzielte. Im 16. und 17. Jahrhundert konnte man derlei offenbar durchaus für aussichtsreich halten, und es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Verhältnisse des literarischen Lebens, daß dies so war. Hier ist etwa zu bedenken, daß es die Jesuiten mit einem Publikum zu tun hatten, das daran gewöhnt war, auch die Messe in dem ihm unverständlichen Latein zu erleben. Mochte ihm die Sprache des gelehrten Wissens auch verschlossen sein – sie gab dem, was da vor seinen Augen passierte, doch ein ganz anderes Ansehen, ein größeres Gewicht, so daß es sich ihm mit größerem Ernst hingeben konnte. Im übrigen war durch den Einsatz der „Maschinen“, durch die spektakulären Knalleffekte der Bühnentechnik dafür gesorgt, daß das Publikum bei der Stange blieb; nicht umsonst hat gerade das lateinische Jesuitendrama alle Register des theatralischen Illusionismus gezogen.

Dieses lateinische Jesuitendrama ist aber einer der unmittelbare Vorgänger des barocken Trauerspiels in deutscher Sprache, wie es eben um die Mitte des 17. Jahrhunderts, als die große Zeit des Jesuitendramas zu Ende ging, in Mode kam, und dies obwohl das barocke Trauerspiel wie die gesamte Barockliteratur in der Nachfolge von Opitz eher eine Sache protestantischer Autoren war. Nicht nur daß diese sich bei der Bühnentechnik und der formalen Anlage der Stücke vom Jesuitendrama inspirieren ließen – sie wären ohne dessen Vorbild auch wohl kaum auf die Idee gekommen, die Position, die in der antiken Tragödie die Helden des Mythos innehaben, mit christlichen Märtyrern zu besetzen, so wie der Lutheraner Andreas Gryphius zum Beispiel in seiner „Catharina von Georgien“ (1657).46 Die Entwicklung der deutschen Literatur des Barock ist eben ohne den Vorgang und die Nachbarschaft der neulateinischen Literatur nicht zu denken, und

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so hat man bei ihrer Erforschung stets mit in den Blick zu nehmen, was sie dieser an Vorbildern und Gattungsbegriffen, Motiven und formalen Mitteln verdankt.

2.2 Reformation und Literatur

Der Versuch, sich einen Begriff von der Bedeutung des Humanismus für die Entwicklung der deutschen Literatur im 16. und 17. Jahrhundert zu machen, hat immer wieder die zweite große kulturelle Bewegung der frühen Neuzeit neben dem Humanismus, die Reformation, in den Blick treten lassen. Dabei erzeigte sie sich als eine Macht, die die Entfaltung der humanistischen Interessen bald behindert und bald gefördert, bald in diese und bald in jene Richtung gelenkt hat. In einer Welt, deren Kultur wesentlich auf der christlichen Religion beruhte, konnte es nicht ausbleiben, daß sich eine religiöse Bewegung von der Kraft und durchdringenden Gewalt der Reformation in allen Bereichen des kulturellen Lebens bemerkbar machte, auch im literarischen Leben. So sind die Rahmenbedingungen, unter denen sich die deutsche Literatur in der frühen Neuzeit entwickelte, besonders stark durch die Reformation und ihre Folgen, durch den reformatorischen Aufbruch, die Gegenreformation und die Konfessionalisierung des kulturellen Lebens bestimmt.47

Luther-Bibel und Literatursprache

Daß die Reformation von zentraler Bedeutung für die Geschichte der deutschen Literatur gewesen sei, gehört seit jeher zu den festen Bestandstücken des kulturellen Gedächtnisses. Besonders nachdrücklich hat sich die Vorstellung erhalten, daß Luther mit seiner Übersetzung der Bibel ins Deutsche (1522 –1534) den Deutschen ihre Literatursprache gegeben habe; daß er mit ihr den entscheidenden Schritt hin zur Entwicklung einer deutschen Standardsprache, der Schriftsprache Hochdeutsch getan habe, auf deren Basis dann Opitz hundert Jahre später zum „Vater der deutschen Dichtung“ hätte werden

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könnnen, und Autoren wie Lessing, Goethe und Schiller nach weiteren hundertfünzig Jahren schließlich zu „Klassikern“ dieser deutschen Dichtung.

Dabei wurde gerne vergessen, daß Luther anders als die Huma­nisten, als etwa sein Zeitgenosse Erasmus, an der Literatur selbst kaum interessiert war; sein Interesse galt ausschließlich Fragen des religiösen Lebens. Richtig ist aber wohl, daß Luthers Bibelübersetzung und ihre weite Verbreitung durch den Buchdruck die Entwicklung hin zu einem standardisierten Hochdeutsch gefördert hat.48 Doch auch dieser Entwicklung setzte die Konfessionalisierung zunächst ihre Grenzen; denn wo die Lutherbibel nicht hinkam, im katholischen Süddeutschland, hielt sich noch bis ins 18. Jahrhundert eine andere standardisierte Schriftsprache von überregionaler Bedeutung, das sogenannte Gemeindeutsch – ein weiteres Moment, das die Ausbreitung der von Opitz reformierten Literatur nach Süden erschwerte.

Luther und die Buchkultur

Mindestens ebenso wichtig wie Luthers Beitrag zur Ausbildung der hochdeutschen Schriftsprache wurde für die Literatur noch eine zweite Leistung des Reformators, ein Vorstoß in Neuland, der den Lebensraum der Literatur zunächst eher einschränkte, ihn auf die Dauer jedoch ausweitete: Luther war der erste große „Kommunikator“, der erste, der die Möglichkeiten des Druck- und Buchwesens konsequent für eine Massenkommunikation nutzte, also für die publizistische Bearbeitung der Masse Mensch. Zwar hatte Johannes Gutenberg (1397? –1468) schon um 1450 die Technik des Druckens mit beweglichen Lettern entwickelt und damit die Möglichkeit zur Vervielfältigung und Verbreitung von Texten entscheidend erweitert, doch war die Reichweite des gedruckten Buchs zunächst auf die Zirkel der Gelehrten, der Theologen und Humanisten beschränkt geblieben. Bücher in der Volkssprache, die weitere Kreise der Bevölkerung erreichen konnten, hatten nur den kleineren Teil des Gedruckten ausgemacht; die meisten Menschen waren ja Analphabeten, und überdies fehlte ihnen das Geld für die zunächst noch überaus teuren Druckwerke.

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Luther nun erkannte im Druck- und Buchwesen eine Möglichkeit, die Reformation voranzutreiben, und er ergriff sie mit größter Entschlossenheit. Mit Hilfe von Druckschriften konnte er breite und breiteste Kreise der Bevölkerung an den kirchlichen Autoritäten vorbei unmittelbar ansprechen und mit seinen Vorstellungen bekannt machen, und so schickten er und seine Mitstreiter immer neue „Sendschreiben“ und Flugschriften in die Welt, Schriften, die sich, soweit sie in deutscher Sprache abgefaßt waren, eben nicht so sehr an die gelehrte Welt als vielmehr an den „gemeinen Mann“ richteten und diesen in der Tat auch erreichten. Denn das Interesse an religiösen Fragen, die Sorge um das Seelenheil war vital und konnte die Bevölkerung bis in die hintersten Winkel des Landes mobilisieren. Da auch die Gegenseite bald den Wert des neuen Mediums für sich entdeckte, wurde die Epoche der Reformation zu einer Zeit, in der das Druck- und Buchwesen in ungeahnte neue Dimensionen hineinwuchs. Dank der Ausweitung der Produktion wurden Druckwerke nun auch für Menschen mit geringerem Einkommen erschwinglich. Zugleich ging der Analphabetismus zurück; mehr Menschen lernten lesen, um an dem Ringen um den wahren Glauben teilnehmen zu können.49

 

Von dieser Entwicklung blieb natürlich die Literatur nicht unberührt. Zwar konnte sie im deutschen Sprachraum von ihr zunächst noch kaum einen Nutzen ziehen, vollzog sich die Ausweitung der Kapazitäten von Druck- und Buchwesen und die Erschließung breiterer Schichten der Bevölkerung für dessen Produkte hier doch ganz im Bann der religiösen Interessen. Aber auch so schritt die Alphabetisierung voran. Das Buch nahm Einzug in das Leben des „gemeinen Mannes“; viele hatten nun eine Bibel, einen Katechismus, einen Kalender und diese oder jene Flugschrift bei sich zu Hause und gewöhnten sich daran, mit Gedrucktem Umgang zu haben. Davon konnte die Literatur auf die Dauer nur profitieren; die breiteren Schichten, die nun der Lesekultur erschlossen waren, würden bald auch nach anderen

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Schriften als solchen mit religiösem Inhalt fragen und so zum Publikum der Literatur im engeren Sinne, zu Lesern von Dichtung werden.50