Geschichte der deutschen Literatur. Band 1

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Als Deutsche brauchen wir gar nicht so weit in der Geschichte zurückzugehen, müssen wir uns nur in die Jahre vor 1945 zurückbegeben, um mit Beständen konfrontiert zu sein, die an verstörender Unbegreiflichkeit kaum zu überbieten sind, und wir müssen doch zugleich erleben, daß sie von anderen unserer Identität zugerechnet werden. Und auch wenn wir von diesem tiefsten, schmerzlichsten Bruch in der Kultur der Deutschen absehen, begegnen wir überall beim Gang durch die Geschichte dem Fremden im eigenen Haus. Schon die Lebens- und Vorstellungswelt der Deutschen des 19. Jahrhunderts sind uns in vielem fremd geworden, und erst recht die noch älterer Epochen, insbesondere die der Zeit vor dem 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, in dem die entscheidenden Schritte auf die uns vertrauten modernen Lebensverhältnisse zu getan worden sind.

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So kann man aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehen, wie die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts allen Ernstes hat glauben können, ein zeitgenössischer Deutscher habe mehr mit einem Goethe, Opitz, Luther, Walther oder Arminius gemein als mit einem zeitgenössischen Franzosen oder Engländer, zumal ja auch die Literatur jener Jahre eine ganz andere Sprache spricht. Denn deutsche Autoren wie Büchner, Heine und Fontane haben bei aller Differenz im Einzelnen letztlich die gleichen Fragen beschäftigt wie die meisten französischen und englischen Autoren ihrer Zeit, wie einen Balzac oder Flaubert, Lord Byron oder Dickens, und das waren Fragen, die weniger mit den besonderen nationalen Traditionen als mit der Veränderung der Lebensverhältnisse und des Welt- und Menschenbilds zu tun hatten, die sich hier wie dort im Zuge der fortschreitenden Modernisierung bemerkbar machte.

Natürlich hat die Welt, in der wir leben, eine Geschichte hinter sich, und natürlich lernen wir sie besser kennen, wenn wir uns mit den Lebens- und Vorstellungswelten auseinandersetzen, die die verschiedenen Stationen auf dem Weg zu den heutigen Verhältnissen markieren, wenn wir in den von der älteren Literaturgeschichtsschreibung erschlossenen Bahnen Goethe, Opitz, Luther und Walther studieren und uns mit dem antiken, jüdisch-christlichen und gemeingerma­nischen Erbe befassen, das die Komparatistik in den Blick gerückt hat. Aber dieses Kennenlernen kann sich für uns, die wir uns der Kontinuitätsbrüche der deutschen und europäischen Geschichte inzwischen nur allzu bewußt sind, eben nicht mehr allein in Gestalt einer Einkehr ins Eigene vollziehen. Es wird für uns ebensosehr den Charakter einer Begegnung mit dem Fremden haben, und wir werden uns des Fremden im eigenen Haus mit um so größerer Sorgfalt annehmen, als wir uns in eine „globalisierte“ Welt hineingestellt wissen, in der wir auch von außen ständig mit Fremdem konfrontiert sind.

Momente der Fremdheit in der frühneuzeitlichen Literatur

So sollen denn einige der kulturgeschichtlichen Bestände, die einem Leser von heute bei der Annäherung an die Literatur der frühen Neuzeit besonders große Mühe machen, sogleich etwas näher beleuchtet werden. Es wird sich zeigen, daß es sich dabei vielfach um die gleichen oder jedenfalls doch um ganz ähnliche kulturelle Praktiken handelt, wie sie heute noch in einigen außereuropäischen Gesellschaften anzutreffen sind und auch bei ihnen von einem modernen Mitteleuropäer

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als befremdlich wahrgenommen werden, wie sie insbesondere den Kulturkreis kennzeichnen, der heute mehr als jeder andere als eine Herausforderung der europäischen Identität erlebt wird: in der islamischen Welt des Vorderen Orients. Und das ist kein Zufall. Denn hier wie dort haben wir es mit Gesellschaften zu tun, die im Kern noch immer traditionale Gesellschaften sind, also mit Gesellschaften, deren Leben noch nicht so sehr durch die Dynamik des Fortschritts, durch Wissenschaft und Technik bestimmt wird als vielmehr durch die Mächte der Tradition und der Religion.

Religiöser Fundamentalismus

Als besonders irritierend wird vielfach der religiöse Fundamentalismus wahrgenommen, der im Nahen Osten umgeht, der sogenannte Islamismus. Der Islamist unterteilt die Menschheit in Gläubige und Ungläubige und sucht sein Handeln in allen Belangen an diesem Unterschied auszurichten. Wo er seine Glaubenswelt durch die Ungläubigen bedroht sieht, da fühlt er sich dazu aufgerufen, sich mit kriegerischen Mitteln zu wehren und einen „Heiligen Krieg“, einen „Dschihad“ zum Schutz seiner Glaubenswerte zu führen. Hinzu kommt, daß die Gemeinschaft der Gläubigen in Konfessionen zerfallen ist, die den Islam auf unterschiedliche Weise interpretieren und leben, in Schiiten, Sunni­ten und andere Formationen, und auch diese tragen ihre Konflikte immer wieder mit der Intransingenz religiöser Überzeugungen aus.

Das alles ist einem heutigen Mitteleuropäer mehr als fremd, ist er doch an das Leben in einer Gesellschaft gewöhnt, die auf dem Weg in die Moderne einen Prozeß der Säkularisation durchlaufen und sich dabei in eine pluralistische Gesellschaft verwandelt hat, also in eine Gesellschaft, die einem Nebeneinander der verschiedenen Religionen, Weltanschauungen und Lebensstile Raum gibt, in der jeder „nach seiner Façon selig werden“ kann, wie das bekannte Diktum eines aufgeklärten Fürsten des 18. Jahrhunderts, Friedrichs II. von Preußen, lautet. Natürlich kommt es auch hier immer wieder zu Konflikten zwischen unterschiedlichen weltanschaulichen Gruppen, aber diese wachsen sich nicht mehr zu „Heiligen Kriegen“ aus; sie werden mit den Mitteln des modernen Rechtsstaats und der demokratischen Bürgergesellschaft kanalisiert und entschärft. Ohnehin ist die Kraft der Religion zur Mobilisierung und Fanatisierung der Massen im säkularisierten Europa inzwischen auf ein Minimum geschrumpft.

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In der frühen Neuzeit freilich beherrschte der religiöse Fundamentalismus auch die europäische Welt, und er tat es in einem Maße, das man sich heute kaum noch vorstellen kann. Die abendländische Christenheit befand sich im Grunde während des gesamten Zeitalters im Zustand eines „Heiligen Kriegs“. So trat sie etwa wiederholt zu Kreuzzügen gegen die Türken an, die in immer neuen Wellen nach Mitteleuropa vordrangen und ihre Glaubenswelt bedrohten. Überdies wollte sie auch die Raubzüge des europäischen Kolonialismus in Afrika, Asien und Amerika als Kreuzzüge verstanden wissen, ließ sie den Conquistadoren und Geschäftemachern doch, wo immer es möglich war, die Missionare folgen, die die einheimische Bevölkerung unter dem Schutz der Gewehre zum Christentum bekehrten. Und schließlich gab es in der frühen Neuzeit eine ganze Reihe von Kriegen, die man „heilige Bürgerkriege“ nennen könnte; der bekannteste ist der Dreißigjährige Krieg der Jahre 1618 –1648. Denn seit der Reformation war auch die Christenheit in verschiedene Konfessionen zerfallen, und Katholiken und Protestanten zögerten nicht, ihre Konflikte mit blutiger Gewalt auszutragen. Der religiöse Fundamentalismus ist aus der Geschichte Europas nicht wegzudenken – eine unbequeme, ja unbehagliche Einsicht, die aber vielleicht dazu verhilft, vergleichbare Erscheinungen in außereuropäischen Gesellschaften von heute mit anderen Augen anzusehen.

Opfertod

Die heiligen Krieger des Islam, die „Fedajin“, bekunden immer wieder ihre Bereitschaft, für ihren Glauben den „Märtyrertod“ auf sich zu nehmen, und sie zeigen sich davon überzeugt, daß sie dafür im Jenseits mit einem Leben im Paradies belohnt werden würden. Auf alle, die nicht die Kraft aufbringen, für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben einzustehen, blicken sie mit Verachtung herab. Sie meinen damit vor allem die Menschen in den Gesellschaften des Westens, denn in diesen hat auf dem Weg in die Moderne ein Individualismus Gestalt angenommen, für den die Selbstverwirklichung des Einzelnen ein höchster Wert ist. Jeder darf sich hier berechtigt fühlen, ja sieht sich geradezu aufgefordert, „sein Leben zu leben“; da ist für den Gedanken des Opfertods natürlich kein Platz mehr.

In der christlichen Welt der frühen Neuzeit freilich war die Figur des Märtyrers auch in Europa ein Leitbild des Handelns, ja der Vorstellung vom Opfertod kam hier geradezu zentrale Bedeutung zu.

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Schließlich hatte der Stifter des Christentums, das Vorbild jedes wahren Christenmenschen Jesus Christus selbst einen Märtyrertod auf sich genommen und sein Leben am Kreuz für die Sünden der Welt hingegeben. Wie wichtig der Gedanke des Opfertods in der Vorstellungswelt der frühen Neuzeit war, bezeugt nicht zuletzt ihre Literatur. Man begegnet ihm in ihr auf Schritt und Tritt; man findet ihn keineswegs nur im Märty­rerdrama, jener Untergattung des barocken Trauerspiels, die bereits mit ihrem Namen auf den Märtyrertod verweist. Immer wieder geht es um die Haltung der Constantia, um jene Beständigkeit, jenes Einstehen für eine Wahrheit und Tugend, wie die Religion sie lehrt, das auch zur letzten Konsequenz bereit ist. Der Opfertod ist der eminente Fall, an dem die Grundfragen des menschlichen Daseins erkundet werden. In ihm will man ein Menschentum sich bezeugen sehen, dem die unsichtbare innere Welt, die Welt der Seele und des Geistes, mehr bedeutet als die handfeste äußere Welt, mehr als das schnöde Leben und das irdische Glück, und an diesem Zeugnis ist alles gelegen.

Geben wir es ruhig zu: das ist uns fremd. Schon mit dem Begriff des Geistes haben wir heute unsere Schwierigkeiten. Viele unserer Zeitgenossen scheuen sich, ihn überhaupt noch in den Mund zu nehmen; er ist ihnen irgendwie peinlich, wird von ihnen als abgehoben und verblasen empfunden. Selbst in den Geisteswissenschaften wollen manche vom Geist nichts mehr wissen und sprechen statt dessen lieber von Mentalitäten und Diskursen. Und erst recht haben wir mit der Vorstellung vom Opfertod unsere Mühe. Wie soll man aber auch Verständnis für literarische Figuren entwickeln, die für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben einstehen, wenn man von nichts so sehr überzeugt ist wie davon, daß sich Überzeugungen ändern können, daß was noch heute eine Wahrheit heißt sich morgen schon als Unwahrheit entpuppt haben kann und was sich in der einen Situation als Tugend bewährt in einer anderen womöglich verheerende Folgen zeitigt! Und solcher Relativismus, solche Situationsethik bestimmen im modernen Europa ja weithin das Denken und Handeln der Menschen.

 

Wir halten es demgemäß lieber mit Bertolt Brecht, der in der Gegenwendung gegen ein bekanntes Schillerwort, in dem sich noch einmal die enge Verbindung der Tragödie mit der Idee des Opfertods bezeugt,

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gegen die Verse „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, / Der Übel größtes aber ist die Schuld“,11 die Auffassung vertreten hat, das Leben sei sehr wohl der Güter höchstes und der Übel größtes sei der Tod; der den Verstand eines jeden angezweifelt hat, der bereit wäre, für seine Ideale einen Heldentod zu riskieren, und statt eines solchen Idealismus die Sympathie mit dem Überlebenskünstler kultiviert hat, mit Menschen vom Schlage eines Schwejk, die sich listig an allen Zumutungen der Gesellschaft vorbeimogeln und da, wo sie um ihr Leben fürchten müssen, auch Lüge, Betrug und Verrat nicht scheuen.

Keuschheit

Eine noch größere Herausforderung als der Gedanke des Märtyrertods ist für uns womöglich die Art und Weise, wie in traditionalen Gesellschaften die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und das Sexualleben an die Kandare genommen werden. In einigen Ländern des Vorderen Orients dürfen sich Frauen nur in einer Gewandung in der Öffentlichkeit zeigen, durch die ihre Geschlechtsmerkmale so weit wie möglich vor dem männlichen Blick verborgen werden. Wenn sie alleine unterwegs sind, sollen sie kein Wort mit einem fremden Mann wechseln. Die männlichen Mitglieder einer Familie sind gehalten, darüber zu wachen, daß die weiblichen Verwandten keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr haben, und der Ehebruch einer Frau wird von der „Scharia“, dem islamischen Recht, mit der Todesstrafe bedroht. Dafür fehlt einem modernen Mitteleuropäer jedes Verständnis, ja alles in ihm sträubt sich gegen die Zumutung, sich in solche Praktiken hineinzudenken. Denn hier ist das Herzstück seines Individualismus berührt: die Vorstellung von der Selbstverwirklichung in der Liebe, vorsichtiger gesprochen: in der Gestaltung der Partnerbeziehungen und des Sexuallebens. Da hat dem Einzelnen nach allgemeiner Auffassung niemand reinzureden, weder die Religion, noch die Gesellschaft, noch die Familie; auch da soll ein jeder „nach seiner Façon selig werden“ können.

Aber auch hierin war die europäische Welt der frühen Neuzeit noch weit von den modernen Verhältnissen entfernt. Die Keuschheit galt

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als eine höchste Tugend, zumal bei der Frau, und wenn man von dem Gegenteil von Tugend, vom Laster sprach – und wie wir noch sehen werden, war seinerzeit überall und immer von Tugend und Laster die Rede, auch und gerade in der Literatur – dann dachte man dabei in erster Linie an das Ausleben „fleischlicher Gelüste“. Daß man der Keuschheit einen so hohen Stellenwert zuerkannte, hatte den gleichen Grund wie die Hochschätzung des Opfertods: es ging darum, die innere Welt gegenüber der äußeren Welt stark zu machen. Wer enthaltsam lebte, wer sich zumindest in die Domestizierung der Sexualität durch das Institut der Ehe zu schicken wußte, der stellte damit unter Beweis, daß der Mensch in der Lage war, sich mit seiner Seele und seinem Geist über die äußeren Bedingungen seiner Existenz zu erheben, wie sie in seiner Leiblichkeit und seiner Triebnatur gründen, daß er fähig war, sich der Verstrickung in die irdischen Dinge zu entreißen, und darauf kam es an.

Es hilft alles nichts – wer mit der Literatur der frühen Neuzeit ins Gespräch kommen will, der muß auch einen Zugang zu dem Gedanken der Keuschheit finden; der darf sich nicht mit der Perspektive eines Zeitgenossen begnügen, für den die Verhältnisse in den permissiven Gesellschaften des modernen Europa das Maß aller Dinge sind und der in ihm nicht mehr als einen Ausdruck heilloser Zurückgebliebenheit zu sehen vermag; der muß zumindest versuchen, ihn als eine Vorstellung ernstzunehmen, die für andere Menschen von Bedeutung war und ist, für Menschen, die wie jeder Mensch einen Anspruch auf unseren Respekt haben. Denn die frühneuzeitliche Literatur konfrontiert uns immer wieder mit Geschichten, in denen das Motiv der Keuschheit eine entscheidende Rolle spielt, ja man begegnet ihm selbst noch in vielen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts an zentraler Stelle; man denke nur an Lessings „Emilia Galotti“ (1772) und Hebbels „Maria Magdalena“ (1844). Immer wieder geht es darum, die „Ehre“ einer Frau und damit zugleich die „Ehre“ ihrer Familie zu schützen, immer wieder greifen die beteiligten Männer – Väter, Brüder, abgewiesene und willkommene, treue und untreue Liebhaber – für diese „Ehre“ zur Waffe, riskieren sie für sie ihr Leben, und oft genug führt dies zu einem Ergebnis, das wir heute einen „Ehrenmord“ nennen würden.

Patriarchalische Verhältnisse

Der Mann als Beschützer der Frau – auch damit haben wir heute unsere Probleme. In traditionalen Gesellschaften wie denen der frühen

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Neuzeit herrscht das Patriarchat. Das Oberhaupt der Familie, der Hausvater, ist der Vormund seiner Frau und seiner Kinder, auch der erwachsenen, und hat ebensowohl die Pflicht, für sie zu sorgen, wie das Recht, über sie zu bestimmen. Und nicht nur die Familie – die gesamte Gesellschaft ist patriarchalisch organisiert. Es handelt sich nämlich um eine Ständegesellschaft, also um eine Gesellschaft, die hierarchisch in Stände gegliedert ist, die jeweils durch unterschiedliche Rechte und Pflichten definiert sind und denen der Einzelne durch Geburt angehört. Der Bau der Gesellschaft beruht hier also auf dem Gedanken der Ungleichheit der Menschen, während er heute in unseren Breiten wesentlich durch die Forderung der Gleichheit vor dem Gesetz bestimmt ist.

An der Spitze der Ständepyramide steht der Fürst als der große Übervater der Gesellschaft. Von ihm aus geht es über die verschiedenen Stände des hohen und niederen Adels und der bürgerlichen und bäuerlichen Schichten hinab bis zu den Tagelöhnern und Bettlern. Die fürstliche Spitze ist von einem Personenkult umgeben, der keine Grenzen zu kennen scheint und an dessen Ausgestaltung sich auch die Literatur mit aller Selbstverständlichkeit beteiligt. Wenn es einem modernen Leser bei der Beschäftigung mit frühneuzeitlichen Texten schon schwerfällt, die egalitären Impulse im Zaum zu halten, an die er in unserer Gesellschaft gewöhnt ist, so bringt es ihn vollends in Verlegenheit, wenn er auch noch für solche Nähe zur Macht Verständnis aufbringen soll. Die moderne Literatur lebt ja weithin von einem kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und hält von daher Distanz zu den Mächtigen. Das war in der frühen Neuzeit anders; da banden sich die Dichter nur allzu gerne an die Höfe der Fürsten, und sie standen nicht an, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine „affirmative“, bestätigende Weise zu würdigen.

Gottgegebene Ordnung vs. Entwicklung

Und das taten sie nicht nur, indem sie die Fürsten mit Lob überhäuften und dem kulturellen Leben an den Fürstenhöfen mit ihren Werken Glanz verliehen; sie taten es vor allem auch, indem sie die Ständegesellschaft zu einer gottgegebenen Ordnung verklärten, und das heißt zu einer Ordnung, die als unverrückbar und unantastbar zu gelten hatte. Hier treffen wir auf ein weiteres Moment, in dem sich die Lebens- und Vorstellungswelt der frühen Neuzeit grundlegend von dem unterscheidet, was wir heute gewohnt sind – ein letztes

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Moment, das hier vorab schon benannt werden soll. Für uns ist die Gesellschaft ein Gefüge, das überall und immer in Bewegung ist, das nicht nur in diesem oder jenem Teilbereich, sondern als ganzes einem Prozeß der Entwicklung unterliegt, den wir bald als Fortschritt und bald als Modernisierung oder Beschleunigung zu fassen suchen. Ja der Begriff der Entwicklung bestimmt unseren Blick auf die gesamte Welt, einschließlich der Natur und des Kosmos, sind wir es doch gewohnt, von einer Erdgeschichte, von einer Evolution des Lebens, der Arten und der Spezies Mensch und selbst von einer Geschichte des Kosmos zu sprechen.

In alledem sahen die Menschen der frühen Neuzeit statische Gebilde, in der Gesellschaft nicht weniger als im Menschen, in der Natur und im Kosmos; denn sie alle galten ihnen als in einem einmaligen Akt von Gott geschaffen, und das heißt eben, als unveränderlich, als von innen heraus, aus sich selbst in ihren Grundzügen nicht zu verändern. Wo wir in Kategorien des Werdens denken, da dachten sie in Kategorien des Seins und der Dauer. Natürlich bemerkten auch sie, wieviel in der Gesellschaft ihrer Zeit schon an Bewegung war, aber wie Shakespeares Hamlet konnten sie darauf immer nur wieder mit dem Satz „Die Welt ist aus den Fugen“ reagieren, konnten und wollten sie gegen Tradition und Konvention gerichtete Umtriebe nur als einen Aufstand gegen die göttliche Weltordnung verstehen, der einzig durch die demütige Rückkehr zur alten Ordnung wieder aus der Welt zu schaffen wäre.

Erste Schritte in die Moderne

Die Literatur der frühen Neuzeit führt uns in eine fremde Welt, und sie erschließt sich nur dem, der sich ihrer Fremdheit stellt; der bereit ist, in der Auseinandersetzung mit ihr liebgewonnene, für selbstverständlich gehaltene Vorstellungen auf die Probe der Alterität zu stellen, und der dazu auch fähig ist; der nämlich jenes Einfühlungsvermögen und jene Phantasie mitbringt, ohne die man sich nicht in Menschen hineinzudenken vermag, die einer anderen Lebens- und Vorstellungswelt angehören als man selbst. So fremd uns die Welt der frühen Neuzeit aber auch immer scheinen mag – sie ist zugleich der Raum, in dem die ersten entschiedenen Schritte in Richtung Moderne getan worden sind.12 Insofern läßt sich an ihrer Literatur schon manches von

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dem, was die moderne Welt als die Welt kennzeichnet, der wir uns zugehörig fühlen, unter seinen Entstehungsbedingungen studieren. Sie hat also auch unseren Identitätsdiskursen einiges zu bieten. Die meisten dieser in die Moderne führenden Entwicklungen verdanken sich aber den beiden großen kulturellen Bewegungen des 16. Jahrhunderts: dem Humanismus und der Reformation.

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1 Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern 1968.

2 Eberhard Mannack: Barock in der Moderne. Frankfurt 1991.

3 Jakob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. 1854 –1971. ND München 1984.

4 Mit dieser Auffassung hat zuletzt noch einmal Ernst gemacht: Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München 2003.

5 Günther Erken: Die Rezeption Shakespeares in Literatur und Kultur (Deutschland). In: Shakespeare-Handbuch. Hrsg. v. Ina Schabert. 5. Aufl. Stuttgart 2009, S. 627 –651.

6 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Aufl. München 2007.

7 Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. – Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp. München 1991. – Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart Weimar 1994. – Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek 1994.

8 Germanistik und Komparatistik. Hrsg. v. Hendrik Birus. Stuttgart Weimar 1995.

9 Eberhard Lämmert u. a.: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. Frankfurt 1967.

10 (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Kulturtheorie. Hrsg. v. Axel Dunker. Bielefeld 2005.

 

11 Friedrich Schiller: Die Braut von Messina. In: Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Bd. 2. 5. Aufl. München 1974, S. 813 –912, hier S. 912.

12 Frühe Neuzeit – frühe Moderne? Hrsg. v. Rudolf Vierhaus. Göttingen 1992.