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Pfarre und Schule. Zweiter Band.

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Zweites Kapitel.
Plan und Gegenplan

Die Nacht war ruhig vorüber gegangen und Horneck lag so friedlich in dem Purpurglanz der heiter und rein aufsteigenden Sonne, als ob keine Leidenschaften in ihm getobt hätten, kein lodernder Funke in seine gemüthliche Stille geschleudert wäre der nun heimlich und versteckt fortglimmen mußte, bis ihn die Zeit – und wie bald vielleicht zu prasselnder Flamme emporfachen sollte.

Auf dem Gute herrschte übrigens keineswegs solche Ruhe, sondern eher belebte eine eigenthümliche, ganz ungewöhnliche Regsamkeit die Herrenwohnung und die daran stoßenden Bedientenstuben. Der Oberpostdirector selbst hatte den ganzen Morgen geschrieben und gesiegelt und der junge Poller war noch in der Nacht wieder in die Stadt geschickt, von wo her er mit Tagesanbruch auf weißschäumendem Roß zurückkehrte, und zugleich mit einer Depesche der Regierung die Nachricht brachte, es sei das beabsichtigte Militair wirklich nach Sockwitz gelegt und der Nachbarstaat auch für den schlimmsten Fall um weitere Hülfe angesprochen worden.

Der Inhalt der Depesche lautete übrigens wie die Sachen jetzt standen, nichts weniger als erbaulich.

Das Ministerium stand noch und jenes Gerücht vom verflossenen Abend bezog sich nur auf eine Demonstration – respektive Katzenmusik – die man den Ministern als Mistrauensvotum gebracht, und wobei der Ruf laut geworden, daß sie zum Besten des Landes abdanken sollten, die Aufregung in der Stadt schien aber eine solche bedenkliche Höhe erreicht zu haben, daß es blos eines Anlasses es bedurfte, um den Ausbruch unvermeidlich zu machen. In der That fehlte es auch nur an einer Persönlichkeit, um dem allgemeinen Strom der Gährung sein richtiges Bett anzuweisen und ihn dorthin zu lenken, wo er dem alten Systeme verderblich werden mußte – die fehlte aber bis jetzt in der Residenz; es war keiner unter den Männern, die sich bis dahin zu Volksrednern aufgeschwungen hatten, denen das Volk auch mit jenem blinden zuversichtlichen Vertrauen geglaubt hätte, das unumgänglich nöthig dazu ist, eine Masse zu begeistern und im wilden Todesverachtenden Sturm mit fortzureißen. Die Kraft lag noch in der weiten Menge zersplittert und wenig Gefahr drohte von den zerstreuten Pöbelhaufen.

Ein solcher Führer aber, wie er diesen Massen gerade fehlte, um sie zu dem gefährlichen Feind zu machen, der dem Absolutismus die trotzige Stirn geboten, wäre eben dieser Wahlert gewesen, den jetzt ein tückischer Zufall der Horneckschen Gerichtsbarkeit in die Hände gespielt; es mußte deshalb aber auch dem Ministerium, das ein rauher Wind hätte umstoßen können, besonders daran liegen, gerade diesen Menschen unschädlich zu machen und deshalb lautete auch der Befehl, den der Oberpostdirector in der durch Erpressen gesandten Depesche erhielt, so bestimmt und unumgehbar, den Gefangenen ohne weiteres Zögern und unter sicherer Bedeckung an das nächst gelegene, in Sockwitz bezeichnete, Militairpiket, spätestens bis zum nächsten Abend abzuliefern. Um Aufregung zu vermeiden, wollte man nicht gern Soldaten nach Horneck hineinschicken, und der Transport des Gefangenen sollte deshalb am liebsten in einer Kutsche bewerkstelligt werden.

Das wie und weshalb war Alles klar genug angegeben, aber wie stand es nachher in Horneck selbst? Würden sich die Bewohner des kleinen Ortes, denen der Gutsherr gestern Abend erst das feste Versprechen gegeben hatte, den Gefangenen nicht auszuliefern, bis seine Schuld als grobes Verbrechen auch wirklich erwiesen wäre, damit begnügen, und ließ sich nicht im Gegentheil erwarten, daß die Befolgung der erhaltenen Instruktionen gerade für den Gutsherrn von sehr fatalen Folgen sein konnte?

Der Herr von Gaulitz saß hier in einer recht unbequemen Klemme und sah auch in der That keinen Ausweg, der ihn hätte beide ihm drohende Schwierigkeiten gleich glücklich vermeiden lassen. Lieferte er den Verhafteten aus, so zog er sich den Haß eines großen Theils des Dorfes zu und in der jetzigen Zeit, wo die Leute doch einmal aufgeregt waren, und überall in der Nachbarschaft das böse Beispiel vor sich hatten, ließ es sich gar nicht bestimmen, wie weit das später führen würde und könnte. Lieferte er ihn aber nicht aus, oder ließ er ihn gar entkommen, so war auch Nichts wahrscheinlicher, als daß er für die Folgen zu haften hätte, die daraus entstünden – und welch fürchterlicher Art konnten diese Folgen sein – der fromme Oberpostdirector schauderte, wenn er daran dachte – Anarchie im ganzen Lande – den Rittergutsbesitzer »fortgejagt« wie der »gemeine Mann« in seiner politischen Unschuld meinte, die Königreiche zu Stücken geschlagen, und in ein großes deutsches Reich geschmolzen, kurz alles Bestehende umgedreht und durchgeschüttelt, wodurch alles Nicht-Bestehende natürlich oben hin kommen mußte, und eine Convulsion, in welcher die Gesetzlichkeit vernichtet und die Masse der »gutgesinnten« Staatsbürger, was gar nicht ausbleiben konnte, zum Besten der schlechteren, d. h. ärmeren, ruinirt wurde.

Es blieb, wie die Sachen einmal standen, wirklich keine Wahl, denn hiergegen erschien der Zorn der Hornecker, und vielleicht noch dazu eines nur kleinen Theils, gering – vielleicht ließen sich aber auch selbst diese noch beschwichtigen, und davon überzeugen, daß die Gefangenhaltung des gefährlichen Menschen selbst zu ihrem eigenen Nutzen mit geschehen sei und sich in ihren segensreichen Folgen offenbaren werde. Jedenfalls blieb der Versuch statthaft, und im allerschlimmsten Fall – ei da lag ja in Sockwitz Militair und zum »Schutz des Eigenthums« konnte das leicht und rasch heran beordert werden.

Herr von Gaulitz hatte seinen Entschluß gefaßt; noch heute – und sobald die einbrechende Nacht des Gefangenen Transport begünstigen konnte, sollte er fort – aber selbst der Geistliche durfte Nichts davon erfahren, denn wer weiß, welche Schritte dieser gethan hätte, um seines General-Superintendenten Sohn zu befreien, oder doch wenigstens jeden Schein der Mitwirkung von seinen Schultern abzuwälzen – der jetzt – und Herr von Gaulitz schien auch deshalb gar nicht böse zu sein, – noch jedenfalls darauf lastete. – Die nöthigen Vorkehrungen zu treffen war also das einzige was ihm vor der Hand übrig blieb, und diese auszuführen rief er den alten Poller zu sich in seine Studierstube und gab ihm dort die nöthigen Aufträge und Befehle.

Hatte sich aber auch am letzten Abend das Dorf mit der vom Rittergutsbesitzer erhaltene Auskunft hinsichtlich des Gefangenen begnügt, und war selbst Levi, der sonst stereotype »Vorkämpfer der Freiheit« wie er sich selber nannte, durch die erlittene Mishandlung außer Stand gesetzt augenblicklich für die gute Sache zu wirken, ja vielleicht auch – und wer hätte ihm das verdenken können, beleidigt ob solchen Undanks des souverainen Volkes, so lebte doch noch ein Wesen in Horneck, das mit thätigem Eifer nach dem Schicksal des jetzt wirklich Bedrohten forschte, und zu seiner Rettung selbst entschlossen schien das Aeußerste zu wagen.

Es war dieß aber Niemand Anderes, als die Tochter des armen alten Musikanten Meier, die bekannter mit den Leuten auf dem Gut, besonders mit dem Charakter des Gutsbesitzers selbst war, als es sich von der armen Tochter eines herumziehenden Spielmanns hätte erwarten lassen sollen. Sie wußte aber auch deshalb, in wie gefährlichen Händen der Unglückliche wäre und daß sie keine Zeit mehr zu versäumen habe, seinem Schicksal nachzuforschen.

Ein Vorwand, auf das Gut hinunter zu gehn, wäre allerdings leicht gefunden gewesen; sie sah sich mit ihrer Existenz überhaupt einzig und allein auf weibliche Arbeiten angewiesen, und hätte leicht eine Entschuldigung gehabt, zu diesem Zweck die Damen des Rittergutes aufzusuchen. Dennoch zögerte sie in eigentlicher Scheu, den Schritt zu thun, ja mied sogar, als sie am nächsten Morgen dort unten vorüber ging, die Nähe des Gutes; als sie Pferdegetrappel hinter sich hörte. Sie trat zur Seite und warf fast unwillkürlich den Blick zurück – es war der Oberpostdirector, der rasch, und ohne auf sie niederzusehn, an ihr vorüber und zwar in das Dorf hineinsprengte, und wie von einem plötzlichen Entschluß bestimmt blieb sie stehn, zögerte sinnend einen Augenblick, schien noch zu schwanken, und kehrte dann, raschen Schrittes, den Weg zurück, den sie eben gekommen, bog links, die erst gemiedene Straße in das Schloß selbst hinein und betrat, immer noch wie furchtsam, aber doch nicht unschlüssig mehr, die herrschaftliche Wohnung. Welche Mühe sie sich aber auch gab, die ersehnten Erkundigungen einzuziehen, es gelang ihr nicht. – Herr von Gaulitz hatte entweder seine Pläne sehr geheim gehalten, oder die arme Fremde fand, selbst bei der Dienerschaft, die sich sonst freundlich genug gegen sie betrug, kein Zutrauen. Auch die gnädige Frau, die sie endlich um Arbeit ansprach, schien ihre versteckten Fragen nicht zu verstehn, und hielt sie dabei mit rasch herbeigeholter Arbeit und verschiedenen Aufträgen weit länger zurück, als sie überhaupt beabsichtigt haben mochte, im Schloß zu weilen.

Da wurden unten, auf dem Pflaster, die klappernden Hufe des rückkehrenden Oberpostdirectors laut – Marie wollte sich rasch entfernen – ehe sie aber einen schicklichen Vorwand fand, hörte sie im nächsten Zimmer eine Thür aufgehn und eine heftige Stimme rief:

»Ich sage Dir, Poller, die Kutsche muß bis heut Abend neun Uhr fertig sein und angespannt im Hofe stehn – Du haftest mir dafür; und jetzt fort – keinen Widerspruch weiter – ich will den Burschen noch in dieser Nacht aus meinen vier Pfählen haben, sonst stürmen sie am Ende das Nest und stecken es mir über dem Kopfe an. Nimm die alten Glieder ein wenig zusammen, und rühre Dich.«

In dem Augenblick wurde die Thüre aufgerissen, Herr von Gaulitz trat hastig herein und wollte durch das Zimmer seiner Frau gehn, als er nur eben noch sah, wie sich die Gestalt der Fremden rasch aus der gegenüberliegenden Thür entfernte.

»Was für ein Frauenzimmer war das?« frug der gestrenge Herr, indem er, den finsteren Blick auf seine Frau geheftet stehen blieb – »was wollte sie hier, und was hat sie da zu horchen?«

 

»Es ist das arme unglückliche Geschöpf, von dem uns Herr Doctor Strohwisch gestern Abend erzählte,« erwiederte schüchtern seine Frau – »das arme Kind kam heut Morgen zu mir, mich um Arbeit zu bitten, und da ich gerade viel auszubessern und nachzusehen habe, versprach ich ihr Arbeit. Sie hatte die Thür schon in der Hand als Du hereintratst.«

»Ja – aber sie ging nicht – sie horchte wahrscheinlich nach dem, was ich in der Nebenstube sprach,« brummte in augenscheinlich höchst übler Laune der Herr Oberpostdirector. »Sonderbare Leute suchst Du Dir übrigens zu Deiner Beschäftigung aus – ich sollte doch wenigstens erwarten können, daß Du Dir anständig gekleidete und reinliche Menschen in's Haus nähmst – aber Gott bewahre.«

»Du hättest nur sehen sollen, wie sauber sie ging,« unterbrach ihn Frau von Gaulitz, »wie sorgfältig war ihr Haar gekämmt und geflochten – wie schneeweiß der kleine zerrissene Kragen, den sie um den Hals trug, und ihre Hände sahen ebenfalls fein und zierlich aus – das arme Kind muß jedenfalls früher einmal bessere Verhältnisse gesehen haben.«

»Ach was – Unsinn!« polterte der Oberpostdirector, dem es an einer Gelegenheit fehlte, seinem Unmuth Raum zu geben, so daß er sie endlich vom Zaune brach, – »Gesindel ist's, das sich hier schon seit ein paar Tagen im Dorfe herumtreibt, und das ich durch den Gerichtsdiener wahrscheinlich schon morgen werde wieder hinausschaffen lassen – Lumpenpack ist's, das in die Häuser schleicht, um sich eine Gelegenheit zum Stehlen auszusuchen. Und auf mich hörst Du dabei gar nicht – wie oft hab' ich Dir schon gesagt, Dich nicht mit solchem Pack einzulassen, aber Du scheinst ein ordentliches Wohlgefallen daran zu finden, nicht nur meine Wünsche zu vernachlässigen, sondern Dir auch nach wie vor die möglichst schlechteste Gesellschaft auszuwählen. Dadurch wirst Du Dein eigenes Benehmen wahrhaftig nicht bessern, und nur ein klein wenig mehr Manieren annehmen, und mit solchen Vorbildern mag ich es dann nur ganz aufgeben, eine Frau heranzubilden, die den Kreisen, in die ich sie hineinzog, wenigstens keine Schande macht, und das ist doch beim Himmel das Bescheidenste, was ich in aller Welt verlangen kann.«

»Aber bester Gaulitz!«

»Ach was – das Bitten und Weinen hilft mir Nichts! Wie hast Du Dich gestern Abend wieder betragen, es war ja doch ein Schimpf und eine Schande, und ich habe mich selbst vor dem Pastor bis in meine innerste Seele hinein geschämt.«

»Aber was hab' ich denn in aller Welt gethan?« bat zitternd und hocherröthend die Frau.

»Was Du gethan hast?« wiederholte der Zürnende, der sich jetzt einmal in das rechte Gleis hineingearbeitet hatte, »gar Nichts hast Du gethan, und das ist es gerade was mich so ärgert – wie ein Stock hast Du da gesessen und kein Wort gesprochen, und nur manchmal laut aufgelacht, wenn der – Strohwisch seine faden unanständigen Reime vorlas; wenn Du Dich in gebildeten Kreisen bewegen willst, so mußt Du Dir auch Mühe geben zu lernen, wie man sich in solchen bewegt. Hier auf dem Lande möcht' es noch gehen, denn gewöhnlich wird hier nicht jeder Schritt und Tritt so beobachtet, wie in der Residenz, aber gerade gestern war es mir um so fataler, da diese alten Schachteln, diese Geheimenraths-Fräuleins Seiffenberger Deine Beschreibung haarklein in ihre wässrigen Theegesellschaften hineinbringen – ich sah recht gut, wie sie Dich immer von der Seite betrachteten, dann zusammen flüsterten und mit einander lachten.«

»Lieber Gaulitz,« bat die Frau.

»Sei ruhig und ärgere mich nicht jetzt auch noch mit Deinem Wimmern und Winseln!« rief ihr Gatte, »daß mich doch der« – Er brach plötzlich ab – riß die Thür auf, verließ das Zimmer und warf sie hinter sich mit wilder Gewalt in's Schloß zurück.

Seine Frau schlich auf's Sopha, sank in die eine Ecke desselben, und barg ihr Gesicht schluchzend in den Händen.

Marie verließ langsam und sinnend den Hof. Die wenigen Worte, die sie von des Gutsherrn Lippen gehört, gingen ihr im Kopfe herum, und es war kaum möglich, daß sie noch eine andere Bedeutung haben konnten, als die eine – »die Kutsche muß bis heute Abend neun Uhr fertig sein und angespannt im Hofe stehen – ich will den Burschen noch in dieser Nacht aus meinen vier Pfählen haben, sonst stürmen sie am Ende das Nest, und stecken es mir über dem Kopfe an!«

Wie mit feurigen Buchstaben waren ihr die Sätze in das Hirn eingebrannt. Wahlert gefangen – noch in dieser Nacht den Gerichten überliefert. – Was, um Gott, konnte der Unglückselige nur so Entsetzliches verbrochen haben? – Aber das durfte nicht geschehen – nimmer, so lange sie noch Kraft zum Denken – Kraft zum Handeln behielt.

Langsam war sie den Weg hinangeschritten, der zur Pfarrerwohnung führte, – dabei mußte sie an des Stellmachers Werkstätte vorüber, und dort – ein eigenes wunderliches Gefühl von Schreck und Freude durchzuckte ihren Körper – dort stand die Kutsche, und der Meister war mit Gesellen und Lehrburschen emsig beschäftigt, neue Speichen in eins der arg mitgenommenen Hinterräder zu setzen, und die sonst schadhaften Stellen wieder auszubessern. – Also hatte sie recht gehört, – in diesem Fuhrwerk sollte der Gefangene seinen Henkern ausgeliefert werden, und doch – doch war es den Männern von Horneck gestern versprochen worden, den Eingebrachten, wenn er nicht ein schweres und bösartiges Verbrechen begangen hätte – ohne Weiteres in Freiheit zu setzen.

Großer allmächtiger Gott – wie ihr das Herz schlug vor Angst und Zagen – wenn nun – wenn sie nun den Wagen so hätte wieder beschädigen können, daß es unmöglich gewesen wäre, ihn zu gebrauchen? – Oder wenn sie jetzt hinauf ins Dorf ging, und den Bauern die Nachricht brachte, daß der Gutsherr sein ihnen verpfändetes Wort im Begriff stehe zu brechen – oder wenn sie gar den Herrn von Gaulitz um Erbarmen – Hilf Himmel, wie ihr die tollen wirren Gedanken im Kopfe herum sausten und schwirrten, und es ihr unmöglich machten, zu einem festen geregelten Entschluß zu kommen – fast ihrer unbewußt und mechanisch verfolgte sie den Weg, den sie früher zu gehen beabsichtigt, und stieg zur Pfarre hinauf, von deren Fenstern ihr die funkelnden Strahlen der Sonne warm und glühend entgegenspiegelten.

Drittes Kapitel.
Marie und Sophie

Herr Pastor Scheidler saß daheim in seiner Wohnstube, und in dem breitlehnigen, weich gepolsterten Armstuhle, der zwischen dem Ofen und Fenster in warmer, und doch dem Lichte nicht abgeschlossener Nische stand. Nicht weit von ihm entfernt, an dem Fenster, das nach dem gegenüber liegenden kleinen Friedhof hinausschaute, hatte Sophie, des Pastors ältestes Töchterlein, ihren Nähtisch stehen, säumte neues, selbst gesponnenes Tischzeug, oder besserte die Wäsche aus, die unsere alte Bekannte Rieke – oder auch Grethe, wie sie der Pastor noch ziemlich hartnäckig nannte, da ihr letztes Mädchen Grethe geheißen – eben in dem weißgescheuerten Korbe hereingeschafft hatte.

»Aber Vater, was hast Du nur«, brach endlich Sophie das lange, lange Schweigen, denn Vater wie Tochter schienen sich an diesem Morgen beide ihren Gedanken vollständig überlassen zu haben, da keines mit dem anderen, wohl seit einer guten halben Stunde, auch nur ein einziges Wort gesprochen – »Du starrst so still und finster vor Dich hin, ist Dir etwas Unangenehmes widerfahren?«

Der Vater antwortete eine Zeit lang nicht, und es war, als wenn er eben bei sich überlege, ob er der Tochter auch das, was ihn eigentlich drücke, mittheilen solle und könne – endlich schien er aber doch zu einem Entschlusse gekommen, rückte sich das schwarze Käppchen zurecht, wechselte seine Stellung vom linken auf den rechten Ellbogen, und sagte, zur Tochter gewandt, die über ihre Arbeit hinüber seinem Blicke begegnete.

»Du magst's auch wissen, was mir im Kopfe herum geht – hast vielleicht einen guten Rath für mich, wenn's Dich auch selber nicht groß interessiren kann.«

»Nun Väterchen?« sagte die Tochter gespannt.

»Du weißt, daß sie gestern einen Gefangenen eingebracht haben.«

Sophie ließ ihre Arbeit in den Schooß sinken und hätte sie ihr Vater in diesem Augenblicke angesehen, so mußte er bemerken, was für eine Veränderung bei der bloßen Erwähnung jenes Mannes in ihren Zügen vorging – so aber haftete sein Blick schon wieder brütend an dem Sonnenstrahle, der in die Stube zwischen dem am Fenster hinaufschlängelnden Epheu hereinfiel und in den fliegenden feinen Staubkörnern allerlei wolkenartige Gestalten bildete –

»Ja,« flüsterte die Tochter.

»Der Gefangene,« fuhr der alte Pastor fort, »ein junger hitz- und tollköpfiger Bursche, voll überspannter Pläne und Leidenschaften ist der einzige Sohn unseres General-Superintendenten.«

»Ist es möglich?« rief Sophie erstaunt und überrascht.

»Ja – es ist allerdings eine wunderliche Geschichte,« bestätigte der Vater, »aber nichtsdestoweniger wahr und mir um so fataler, da der General-Superintendent weiß, auf welch' vertrautem Fuße ich mit dem hiesigen Gutsherrn und Gerichtshalter stehe, und – welchen Einfluß ich bis jetzt auf ihn ausgeübt. Ich habe den Oberpostdirector aber in meinem ganzen Leben noch nicht so starrköpfig und eigensinnig gefunden, wie gerade in diesem Falle; allen meinen vernünftigen Vorstellungen leiht er ein taubes Ohr und ich komme in der That in die äußerste Verlegenheit, wenn er den jungen Menschen wirklich den Gerichten überliefert und einer Strafe preisgiebt, die er sicherlich verdient hat, deren selbst nur theilweise Ursache ich aber doch unter keiner Bedingung sein möchte – ich wollte lieber den König als den General-Superintendenten zum Feinde haben.«

»Aber er wird ihn nicht ausliefern,« sagte Sophie, und der Ton ihrer Stimme, der Blick, den sie dabei auf ihren Vater heftete, das Alles verrieth, wie sie dennoch das Gegentheil von dem fürchtete, was ihre Lippen sprachen – »er hat es ja erst gestern Abend noch den Leuten aus dem Dorfe, die bei ihm waren, versprochen – er wird nicht wortbrüchig werden, ei denke doch Vater, wie er immer die Bibelsprüche im Munde führt, und oft schon, daß ich es mit eigenen Ohren gehört, zu Leuten, die sich wegen irgend etwas verschworen, sagte: ›Eure Rede sei ja ja und nein nein, und was darüber ist, das ist von Uebel‹ – er dürfte ja nicht einmal seiner eigenen Rede so entgegenhandeln.«

Der Pastor schüttelte, als wenn er an solche Gründe nicht so recht glauben wolle, den Kopf, stand aber endlich auf und sagte:

»Ich werde den heutigen Tag noch abwarten, bis dahin muß sich auch der Zustand in der Residenz entschieden haben und dann – was will die Dirne da draußen – die Grethe läßt mir doch auch Jeden herein, das ist ein Wettermädel.«

»Ach, lieber Vater, das muß die Sängerin – die Tochter des alten Musikanten sein!« rief Sophie, rasch von ihrem Sitze aufstehend – »Herr Hennig hat uns heute Morgen bei der Zeichnenstunde von ihr erzählt – Du lieber Gott, wie elend und ärmlich sie aussieht – das arme Mädchen – und die Kleider, wie abgetragen – was sie nur wollen mag.«

»Ein Almosen,« sagte der Vater mürrisch – »derlei Volk will Nichts als Almosen, darauf kannst Du Dich verlassen – ich gehe jetzt in mein Zimmer hinauf, um noch ein paar Briefe zu schreiben – halt' Dich mit der Dirne nicht lange auf, und schicke sie nur zur Mutter in die Küche – die wird sie schon abfertigen.«

Der Pastor stieg langsam die Stufen hinauf und Sophie öffnete indessen der Fremden, die nur einmal schüchtern angeklopft hatte und dann geduldig harrend vor der Pforte stehen blieb, die Thür.

Die Tochter des armen Musikanten war aber keineswegs, wie der Geistliche so lieblos geurtheilt, hierhergekommen, ein Almosen zu erbitten, nur Arbeit wollte sie, Arbeit im Hause des Wohlstandes, um das karge Leben nothdürftig zu fristen und dem Vater, dem es Mühe kostete, allein durch die Welt zu kommen, nicht auch noch zur Last zu fallen. Ihre Sprache war dabei edel und bescheiden und das ganze Wesen und Benehmen der Unglücklichen machte einen so tiefen und wehmüthigen Eindruck auf das weiche Herz der Jungfrau, daß sie sich lang und freundlich mit ihr unterhielt, ihr endlich Arbeit versprach und in der Stube Brod und eine Tasse Warmbier anbot, »weil es gerade dastand«, wie sie sagte, im Grunde aber, weil die Augen des armen Kindes so glanzlos und tief in ihren Höhlen lagen, daß sie sich des Gedankens nicht erwehren konnte, das Mädchen habe heute noch keine Nahrung zu sich genommen, und hungere, sei aber zu stolz, selbst das zu erbitten, was der erschöpfte Körper, sollte er nicht erliegen, bedurfte.

Marie hatte sich im Anfange der freundlichen Sorge fast theilnahmlos hingegeben, wie aber die süße Blume, die dem starren und stürmischen Nordwest still doch hartnäckig getrotzt und die Blüthe fest und krampfhaft jeder äußeren Gewalt verschlossen hielt, ihren duftenden Kelch rasch und sehnend dem milden wärmenden Sonnenstrahle öffnet, und über den linden Kuß des Zephyrs die thauige Freudenthräne weint, so schmolz endlich die zarte Schonung, die in jedem der an sie gerichteten Worte lag und sich selbst in den Gaben zeigte, die Sophien's Hand ihr bot, jene Rinde um das in Leiden gestählte, erstarrte Herz. Wohl kämpfte sie noch eine Zeit lang gegen jede Schwäche an, die ihren kalten resignirenden Ernst zu bewältigen drohte, und als sie fühlte, wie ihr die verrätherischen Thränen in die Augen traten, wandte sie sich ab und suchte die perlenden Zeugen des Schmerzes vor dem forschenden Blicke Sophiens zu verheimlichen.

 

Reines und heiliges Mitleid sieht aber scharf, wo es helfen und heilen kann, und Sophie glaubte gar bald den Kummer errathen zu haben, der in der Brust der Fremden so fest verschlossen, aber deshalb wohl noch mächtiger und erschütternder geruht hatte, weil ihr keine Seele lebte, der sie ihr Leiden anvertrauen konnte.

»Marie,« sagte sie nach einer ziemlich langen Pause, und ergriff des Mädchens Hand – »Marie – fehlt Ihnen etwas, das in meinen Kräften stünde, Ihnen zu verschaffen?«

Die Leidende blieb eine ganze Weile stumm und regungslos stehen, dann schüttelte sie leise den Kopf.

»Marie –« fuhr des Pastors Tochter schüchtern fort – »ich meine es gut mit Ihnen – ich meine es wahrlich gut mit Ihnen – wenn ich nur wüßte was – was Ihnen fehlte. – Sie sind – Sie sind nicht glücklich.«

Ein zweites leises Schütteln sollte wieder die einzige Antwort sein, und noch weiter ab drehte sie das bleiche Angesicht, aber nicht länger ließ sich der also heraufbeschworene Schmerz bewältigen – stärker und immer stärker drängte er herauf aus dem vollen, o so übervollen Herzen und endlich – endlich brach er sich mit unwiderstehlicher Gewalt in wildem, aber nicht linderndem Thränenstrom die stürmische Bahn, denn nicht freiwillige Thränen waren es, die den heißen Augenhöhlen entquollen und sie konnten deshalb das Herz auch nicht erleichtern und das Uebermaß der aufgehäuften Fluth drängte sie in's Freie, daß die Gefäße, die sie bis jetzt gehalten nicht vor der gährenden Kraft zerbersten und zertrümmern sollten.

Aber die starre Hülle, die ihr Inneres umschlossen, schien ebenfalls mit den vordringenden Thränen gefallen zu sein; ihre Gestalt zitterte, die Hand, die Sophie in diesem Augenblick ergriff, bebte wie im Fieberfrost, und rasch und plötzlich – dem aufblitzenden Gedanken gehorchend, wandte sie sich, barg ihr Antlitz auf der Hand der erschreckten Jungfrau – und schluchzte laut.

»Marie« flüsterte diese, »mein armes armes Kind, was kann ich für Sie thun – womit Ihnen helfen – sind Sie in so großer Noth? – ach ich will gern –« sie schwieg; denn plötzlich fiel ihr ein, daß sie ja erst am vorgestrigen Abend ihre ganze kleine Baarschaft weggeschenkt hatte und nicht einmal im Stande war auch nur ein Almosen zu geben – »ja – mein Vater wird – er muß helfen,« fuhr sie, rasch sich sammelnd, fort »mein Vater ist auch gut und mildthätig, nur zu viel hat er aber in letzterer Zeit geben müssen und dadurch erscheint er manchmal härter – weinen Sie nicht mehr, liebe Marie, wenn Sie hier in Horneck bleiben, können Sie sich darauf verlassen, daß ich Alles thun werde, was in meinen Kräften steht, Ihnen zu helfen und beizustehn.«

»Ich bin es überzeugt« flüsterte die Fremde mit einem innigen Händedruck – »Sie sind gut und freundlich – aber – verzeihen Sie den Ausbruch eines Schmerzes, den Sie, eben durch Ihre Güte selbst hervorgerufen – es war das erste herzliche Wort, was ich seit langer langer Zeit gehört, und wenn es auch wohl, o so unendlich wohl that, und so süß und tröstend in meine Seele klang, so beschwor es doch wieder Bilder herauf, die besser, o weit besser in tiefster Seele begraben geblieben wären.«

»Sehn Sie« suchte Sophie jetzt die Leidende zu trösten und zu zerstreuen; »wenn Sie hier wohnen bleiben und mit der Nadel gut umzugehen wissen, so kann sich Ihr Leben vielleicht noch ganz glücklich gestalten. Besonders im Sommer hat es uns bis jetzt immer an Näherinnen gefehlt, denn die Stadtleute, die hier herausziehn, brauchen viel neue Kleider und zerreißen sich die alten fortwährend an aufgestellten Eggen, Dornhecken, Disteln und andern ländlichen ›Unbequemlichkeiten,‹ wie sie's nennen. Ich will Sie Schüttens empfehlen – die kommen überall herum und Sie können sich darauf verlassen, daß Sie dann in kurzer Zeit bekannt und was noch viel besser sein wird, auch beschäftigt sind.«

»Wie freundlich Sie sind« sagte, mit herzlichem Dank im Blick, die Fremde – »Sie sollen auch sehn, ich werde sicherlich Alles thun, was in meinen Kräften steht, Ihr gütiges Fürwort zu verdienen; jetzt aber haben Sie mir auch Muth gemacht Ihnen ganz zu vertrauen und – eine Bitte ist es – eine Frage vielmehr, die ich mit aller Kraft meiner schwachen Beredsamkeit an Ihr Herz legen möchte, daß Sie dieselbe bei Ihren Herrn Vater befürworten möchten.«

»Und die lautet?«

»Sie betrifft nicht mich selbst« sagte Marie und schaute dabei mit dem jetzt von einem eigenen Feuer belebten, aber sonst festen und ruhigen Blick in das Auge der Jungfrau – »sondern einen Unglücklichen, der durch eine eigene Verkettung von Umständen gerade in diesem Augenblick so nothwendig der Hülfe fremder Menschen bedarf, denn seine Freunde – waren zu schwach ihm zu helfen.«

»Und wer ist es?« frug Sophie, Mariens Hand ergreifend – »wenn ich nur zu helfen vermag, es soll gewiß mit inniger Freude geschehen – gewiß Ihr Vater?«

»Nein – nicht der – nicht jetzt wenigstens, sondern ein Fremder – jener Unglückliche, der gestern Abend gefangen auf das Schloß – aber um Gott – was ist Ihnen? – Sie werden todtenbleich – Sie – Sie kennen ihn?«

»Ich? – ja – Sie haben doch wohl von unserem Begegnen im Walde gehört,« sagte des Pastors Tochter rasch gefasst und sich mit Gewalt sammelnd – »er sollte uns räuberisch angefallen haben, hieß es im Dorfe, und der dazu kommende Jäger verwundete noch außerdem den armen Menschen. – Mir hat es recht von Herzen leid gethan, daß das um meinetwegen geschehen war und – es geht mir jedesmal wie ein Stich durch die Seele, wenn ich an jenen Tag denke. – Doch, wie kann ich ihm helfen – was kann mein Vater für ihn thun – wie – ja – wer ist er eigentlich, und – welchen Antheil nehmen Sie an seinem Schicksal?«

Der Fremden forschender Blick hatte fest und unverwandt auf der Sprechenden geruht – erst jetzt senkte sie ihn, und antwortete seufzend:

»Welchen Theil ich an seinem Schicksal nehme? – Er ist unglücklich – unglücklich, weil er den Armen zu nützen suchte, und mit freier und kühner Rede gegen Macht und Reichthum auftrat. Er selbst stammt von achtbaren Eltern – sein Vater ist Generalsuperintendent und ein reicher angesehener Mann; deshalb aber hassen die Großen des Reichs diesen Vorkämpfer der Freiheit so aus Herzensgrund, weil sie ihm nicht den Vorwurf machen können, Mangel und Noth oder ein verfehltes Leben habe ihn zu seiner politischen Meinung getrieben; deshalb sind sie wahrscheinlich so eifrig bemüht, ihn gefangen zu halten, weil sein Beispiel nicht ein zündender Strahl werden soll, der das Verderben bis in die Mitte der Gewaltigen schleudert, und den Thron stürzen könnte, der dem Heile des Volkes den Weg zur Freiheit sperrte. Für das Proletariat wirkte er mit allen Kräften, deren er fähig war, diesem eine menschliche Stellung unter den Menschen einzuräumen, die Aufgabe hatte er sich gestellt. Sollen die Armen da nicht an ihm hängen, die, denen er sein ganzes Leben, seine ganze Existenz geopfert? – Sollten sie ihn in der Noth verlassen, da er nur um sie in Noth gekommen?«