Das Halsband des Kaisers

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Das Halsband des Kaisers
Font:Smaller АаLarger Aa

George Webb Appleton

Das Halsband des Kaisers

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Impressum

Erstes Kapitel.

Leutnant Hubert Darrell von den Buffs, die damals in Simla standen, war in heftiger Unruhe. Ueber sechs Monate lang hatte er keine Briefe aus England bekommen, und seine Angst war groß, denn in so weiter Ferne erwartet einer natürlich sehnlich Nachrichten von den nächsten und teuersten Angehörigen: von der Mutter, die ihn geboren, vom Weibe seines Herzens, oder von dem Mädchen, das ihm Treue gelobte.

Nun besaß Hubert Darrell eine Mutter – die unglücklicherweise aus irgendeinem geheimnisvollen Grunde von ihrem Gatten getrennt lebte –, für welche er eine sehr tiefe und andauernde Zuneigung empfand, und er besaß auch, wie er stolz eingestand, ein anbetungswertes kleines Bräutchen, Kitty Clare mit Namen, die schon, als sie noch Kinderlätzchen trug, ihm feierlich ihre Gelübde ewiger Treue herstammelte und dafür von ihm angebetet wurde. So kann man leicht verstehen, warum das lange Stillschweigen dieser beiden geliebten Wesen schwer auf ihm lastete und ihn mit einem unbestimmten Gefühl drohenden Unglücks erfüllte.

Endlich kam ein Brief mit Londoner Stempel, den er hastig öffnete, aber nur, um die Mitteilung eines unbekannten Briefschreibers zu finden, der von häuslichem Unglück in Bayswater sprach, wovon er nichts wußte. Eine genaue Untersuchung des Briefumschlages enthüllte dann die Tatsache, daß der Brief in Wirklichkeit an Leutnant Herbert Darrell vom selben Regiment adressiert war, einen jungen Gentleman, der kürzlich unter außerordentlich skandalösen Umständen von sich hatte reden machen, indem er mit der Frau seines Kommandeurs durchging. Ein Blitz der Erleuchtung fuhr plötzlich durch Hubert Darrells Hirn. Ohne Zweifel waren seine Briefe irrtümlich dem Flüchtling zugestellt worden. Innerhalb einer Stunde hatte er des letzteren Diener befragt und mit dem erwarteten Resultat. Der Mann bat sehr angelegentlich um Entschuldigung.

Es tut mir sehr leid, Herr, aber ich habe sie nachgeschickt, es mag im ganzen ein halbes Dutzend gewesen sein. Ich habe nie daran gedacht, sie mir anzusehen. Ich hatte Befehl, genau auf sie zu achten, und steckte sie, wenn sie eben angekommen waren, sofort in einen von den adressierten Briefumschlägen, die er mir hinterlassen hatte. Sie sind alle abgeschickt, aber einer ist noch hier – kam heute morgen, vielleicht ist der für Sie, Herr.

Vielleicht? Natürlich ist er für mich, du Rindvieh! Und Hubert Darrell riß das Schreiben an sich und öffnete es mit zitternden Händen. Dann befiel ihn Niedergeschlagenheit.

Der Brief war vom Londoner Rechtsbeistand der Familie, Herrn Benham, und berichtete einfach, daß Frau Darrell einen Schlaganfall gehabt hätte und ernstlich wünschte, ihren Sohn noch einmal zu sehen. Wenn es ihm möglich wäre, sich Urlaub zu verschaffen, so war Herrn Benhams Meinung, daß er so schnell wie möglich kommen sollte.

So war denn das lange Stillschweigen unterbrochen, aber wieder war er von schwerer Besorgnis erfüllt. Nicht eine Zeile von Kitty, und seine Mutter sterbend, vielleicht schon tot! Die Ungewißheit der Lage war unerträglich, und ohne einen Augenblick Aufschub bat er um Urlaub, den ihm die Dringlichkeit der Bitte leicht verschaffte. Eine Woche später durchfuhr er das Rote Meer auf dem Wege nach England, und die Lösung des schweren Rätsels kam schneller, als er erwartete, wenigstens eine teilweise Lösung, die jedoch das Geheimnis um Kitty und ihr unerklärliches Stillschweigen immer noch rätselhafter machte. An einem feuchten und unwirtlichen Tage wollte ein sympathischer kleiner Junge in dem Salon ihm durchaus seine Melancholie mit »Bilderbüchern« vertreiben. Diese »Bilderbücher« waren weiter nichts, als einzelne Hefte von illustrierten Londoner Zeitschriften. Um dem Kind einen Gefallen zu tun, überflog er sie mit schwachem Interesse; plötzlich aber ließ er einen Ausruf hören, daß der Junge voll Schreck emporsah. Sein Schreck vergrößerte sich noch hundertmal, als er ein schreckliches, weißes, verzerrtes Gesicht und blutunterlaufene Augen sah, die wild auf seine Zeitung hinfunkelten. Diese war nur ein zerrissenes und schmutziges Heft von »Ladies Pictorial«, etwa sechs Monate alt, aber von der aufgeschlagenen Seite hatten plötzlich ein paar sieghafte Augen Hubert angeblitzt, und diese Augen waren die Augen seines teuren Liebchens. Es war keine optische Täuschung, denn neben ihrem Bilde stand der Name Kitty Clare gedruckt, und neben ihr sah man einen ernsten, dünnlippigen, ältlichen Gentleman, dessen Name ebenso deutlich gedruckt dastand: Sir John Selhurst, Baronet; und zwischen diesen beiden Bildern stand geschrieben, daß an einem gewissen Tage im März als erstes Paar diese zwei in St. George's Hannover Square, rechtmäßig in heiliger Ehe vereint worden wären und daß nach einem kurzen Honigmond in Rom das glückliche Paar ihre Heimkehr in Windwhistle Hall, dem alten Haus der Selhursts in Berkshire, feiern würde.

Hubert stieß einen fürchterlichen Fluch aus und stürzte wie wahnsinnig aus der Kajüte. Stundenlang schritt er auf dem schlüpfrigen Deck auf und ab, ungeachtet des strömenden Regens und unbekümmert um alle Beobachter seines exzentrischen Benehmens. Er wütete, er tobte, er schlug sich die Brust und rief alle Mächte der Erde, der Luft und des Himmels an, ihm dieses schreckliche Geheimnis zu erklären. Daß Kitty, die kleine schwarzäugige Fee, die mit ihm, als er noch Schüler war, auf den blumigen Wiesen herumzutollen pflegte, das lachende liebende Mädchen, das ihren Hubert freimütig in all der brausenden Unschuld der Jugendzeit küßte, das keusche Mädchen, das sich bisher unbekannter Gefühle bewußt geworden war und aus diesem Grunde schweigsamer und zurückhaltender und darum noch süßer und begehrenswerter geworden war, und zu allerletzt das verlobte junge Weib, das ihre Liebe mit feurigen Gelübden und leidenschaftlichen Küssen besiegelt hatte – daß sie, sie sich nun als falsch erwies und sich freiwillig in die Arme eines ältlichen Bewunderers warf, das war unerhört, ungeheuerlich, unglaublich. Es war, es mußte irgend ein scheußlicher Irrtum sein, den er in Ordnung bringen mußte, denn wenn je, durch Vollmacht und Recht einer ehrenhaften Liebe, eine Frau unverbrüchlich einem Manne angehörte, so war Kitty Clare die Seine und gehörte keinem anderen Manne auf der Erde.

Bald trat eine Reaktion ein. Der Augenschein war unbestreitbar, überwältigend gegen sie, und tiefe Niedergeschlagenheit befiel ihn und warf ihn nieder. Er wußte nur zu gut, daß Sir John begehrende Augen auf Kitty geworfen hatte. Es war ihm von ihr mehr als einmal scherzweise gesagt worden, daß sie Lady Selhurst werden könnte, wenn sie wollte, und daß es ihm – Hubert – darum niemals einfallen sollte, ihr treulos zu werden oder unfreundlich zu ihr zu sein. Natürlich war er nicht treulos oder unfreundlich gewesen, so daß jene Erklärung des dunkeln Rätsels absurd war. Er wußte außerdem, und der Gedanke daran beunruhigte ihn, daß Kapitän Clare von der königlichen Flotte, ihr Vater, sein kärgliches Jahrgeld und seine Pension durch gewagte Spekulationen zu vermehren suchte, die ihn jederzeit ruinieren und ins Unglück stürzen konnten. In der Tat hatte Kitty in einem ihrer allerletzten Briefe die Befürchtung ausgedrückt, daß ihr Vater durch gewisse »dunkle« Minengründungen in Schwierigkeiten verwickelt werden würde, und ein unbehagliches Gefühl schlich sich in sein Gemüt, daß sie sich vielleicht selbst aus einem falschen Gefühl kindlicher Pflicht geopfert haben könnte.

Sicherlich war es eine dunkle, lästige und beunruhigende Sache, und die langweilige Reise schien gar kein Ende zu haben. Auch sie nahm jedoch ein Ende, wie alles auf der Welt, und Hubert Darrell fühlte eine gewisse Erleichterung, als er sich wieder in Brindisi befand, in einer abmeßbaren Entfernung von England und der Wahrheit. Der Bahnhof Charing Croß dampfte in einem verfrühten und zwar sehr schmutzigen Oktobernebel, als er drei Tage später in London ankam. Ein schlechtes Omen! sagte er zu sich selbst. Es gefällt mir nicht. Ich fühle, wie das höllische klebrige Zeug mir bis ins innerste Herz kriecht. Hu! Und er schauderte. Doch sprang er, sein schwereres Gepäck im Gepäckraum lassend, ein paar Augenblicke später in eine Droschke. Upper Wimpole Street, sagte er; und als er langsam durch die schmutzigen Straßen rollte, von der klebrigen Atmosphäre wie von einem Leichentuch eingehüllt, die Gaslampen überall nur schmierig wie dunkele Safranflecke leuchtend, da hatte er mehr als je die Empfindung, daß er sich an der Schwelle irgendeiner schrecklichen Entdeckung befand.

 

Seinen Vater hatte er jahrelang nicht gesehen. Von ihm empfing seine Mutter ein Jahrgeld von tausend Pfund mit lebenslänglichem Nutzen von Haus und Mobiliar in der Upper Wimpole Street. Dies Jahrgeld wurde ihr vierteljährlich von dem schon erwähnten Rechtsbeistand der Familie, Herrn Benham, ausgezahlt. Hubert hatte alle seine freien Tage bei ihr zugebracht und kannte in der Tat keine andere Heimat, was er aus langer Gewohnheit als selbstverständlich ansah und worüber er nie ein Wort verlor; von ihr hatte er auch bisher einen jährlichen Zuschuß von dreihundert Pfund empfangen, der, im Falle ihres Hinscheidens, aller Wahrscheinlichkeit nach wegfiel – warum, wußte er nicht. Bis jetzt hatte er sich nie ernstlich um die Sache beunruhigt. Sehr junge Leute kümmern sich selten um Familiengeheimnisse, die ihren Komfort und ihr materielles Wohlergehen nicht in Mitleidenschaft ziehen, und er war unter den obwaltenden Umständen ganz zufrieden, mit seinem »alten Herrn«, von dem er wenig wußte und um den er sich noch weniger kümmerte, nur oberflächlich bekannt zu sein. Nun aber hatte die Sache ein anderes und düstereres Ansehen angenommen, und, er konnte dagegen ankämpfen, wie er wollte, die Ahnung wurde schwärzer und schwärzer in seinem Gemüt, daß irgendein schweres Unglück ihn am Ende seiner Reise erwartete.

Die Droschke hielt an, und als er zu dem wohlbekannten Hause emporsah, überkam ihn eine große Furcht. Ausgenommen einen schwachen Lichtschimmer über der Tür, war kein Licht zu erblicken.

Zu spät! sagte er. Ich ahnte es. Und er klopfte sacht an. Die Tür öffnete sich, und ein grauhaariger alter Diener, der seine Augen mit der Hand beschattete, schaute neugierig durch den Nebel nach ihm aus.

Hubert bemerkte, daß des alten Mannes Gesicht einen kummererfüllten Ausdruck hatte, der sich sofort in einen freudigen verwandelte, als er ihn wiedererkannte.

Herr Hubert! Sie sind wirklich willkommen! Und er nahm ihm mit munterem Eifer seinen Mantel und Hut ab. Wir erwarteten Sie nicht vor morgen, fügte er hinzu, ihn nach dem Speisezimmer führend.

Ihr erhieltet also mein Telegramm?

Ja, Herr, aus Paris, sagte Simpson und zündete das Gas an; und es war wirklich ein großer Trost und eine große Erleichterung für –

Meine Mutter?

Ja, Herr.

Gott sei Dank, dann lebt sie doch wenigstens noch!

Gerade noch, Herr, aber das ist alles, antwortete er sorgenvoll. Der Doktor meinte, sie würde die Nacht nicht überleben. Er wird sehr bald wiederkommen. Er war in Sorge wegen des schlechten Tages gestern; aber Ihr Telegramm, Herr, richtete sie auf. Sie wünschte so sehnlich, so sehnlich, Sie noch einmal zu sehen, Herr, Sie können es gar nicht glauben. Immer wieder hat sie versucht, zu schreiben, aber ihre arme Hand konnte die Feder nicht halten. Wir wollten ihr jemand holen, der es für sie täte, aber nein, davon wollte sie nichts hören. Ich glaube, es ist was sehr Wichtiges, und es ist ein Werk der Vorsehung, daß Sie zur Zeit gekommen sind, Herr. Wollen Sie jetzt heraufgehen, um sie zu sehen, Herr Hubert?

Ja, Simpson.

Und mit schwankenden Schritten stieg er die Treppe zum Sterbezimmer empor.

Eine Wärterin stand bei seinem Eintritt von einem Sessel auf. Neben ihr stand ein Tisch, auf dem eine niedriggeschraubte Lampe brannte. Ein Feuer im Kamin warf schwankende Lichter auf die dicht zugezogenen Vorhänge und die karmoisinrote Draperie des altmodischen Bettes, und auf den schneeigen Kissen lag ein weißes Antlitz in totenähnlichem, unbeweglichem Schlummer. Eine alabastergleiche Hand lag auf der Decke. Hubert bedeutete der Pflegerin durch einen Wink, fortzugehen, dann nahm er sanft die Hand in die seine, beugte sich nieder und küßte ehrfurchtsvoll die fahle Stirn.

Teure Mutter! flüsterte er. Die wachsbleichen Lippen öffneten sich, und eine flüchtige Röte verbreitete sich über ihr armes bleiches Antlitz.

Mein Sohn! murmelte sie, und er sah zwei Freudentränen sich aus ihren sehnsüchtigen Augen stehlen.

Dann wurde für die Dauer eines Augenblicks feierliche Stille im Zimmer, bis sie zuletzt durch ein ersticktes Schluchzen, das aus einem starken Mannesherzen hervorbrach, unterbrochen wurde.

Endlich, mit Anstrengung, sprach er wieder: Gott sei Dank, Mutter, daß ich hier bin!

Ja, danken wir Gott für seine Gnade! wiederholte sie schwach und fügte nach einem Augenblick hinzu: Ich konnte nicht schreiben. Ich versuchte es – sieh – meine armen Hände! Ich konnte es nicht, und ich mußte dir doch sagen – hier hielt sie wieder, um Atem zu schöpfen, inne – ich mußte dir doch sagen – daß du kein Vermögen haben wirst, mein Sohn.

Ich wußte es, sagte Hubert. Ich sorge mich nicht darum; ich erwartete es nie. Laß dich das nicht bekümmern.

Ein mattes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie aufsah und sagte:

Aber ich habe etwas – eine Kleinigkeit –, das wollte ich dir sagen. Schau hier her! Und der Richtung ihrer Augen folgend, sah er einen Schrank, den er von seiner frühesten Kindheit her kannte, und schritt darauf zu.

Dies? sagte er.

Ja – in dem kleinen Kasten, flüsterte sie.

Dann erinnerte er sich daran, wie durch Berühren einer unverdächtigen goldenen Verzierung an diesem Schrank auf einmal zu seiner großen Verwunderung und zu seinem Entzücken ein geheimes Kästchen aufgesprungen war.

Ich erinnere mich, sagte er, und im nächsten Augenblick war das Kästchen offen, und er fand darin nur einen Gemslederbeutel, den er ihr brachte.

Oeffne ihn, sagte sie.

Er löste etwas ungeschickt die Schnur, und es fiel ein kleiner Wasserfall von Edelsteinen heraus, die in tausend Facetten blitzten, und dann ein prächtiges Diamanthalsband, das sich auf der weißen Decke wie etwas Lebendiges aufrollte und in der Mitte einen großen blauen Stein trug, der heller als jeder Saphir war, den er je gesehen hatte.

Ein Ausbruch der Verwunderung brach von seinen Lippen.

Sie sind für dich, sagte sie; mein letztes Geschenk.

Aber ich wußte nie –

Nein; das war auch nicht nötig. Ich habe sie viele Jahre lang gehabt. Verkaufe sie. Das ist mein Wunsch. Und nun steck sie fort – in deine Tasche.

Er gehorchte, obgleich er immer noch sehr erstaunt war, und sie fuhr fort, indem ihre Stimme zu einem bloßen Flüstern herabsank:

Dein Vater ist sehr hart zu dir gewesen, mein Kind.

Er mußte sich niederbücken, um diese Worte aufzufangen.

Und zu dir, Mutter? entgegnete er.

Ja, böse und grausam auch zu mir, wiederholte sie.

Und ohne Grund?

Ohne Grund – das weiß Gott, mein Sohn, ohne Grund.

Die Worte wurden mit einer Deutlichkeit gesprochen, die ihn durchschauerte. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck der Verzückung an. Die Pupillen ihrer Augen erweiterten sich. Einen Augenblick lang war sie schön. Mit einer letzten Anstrengung richtete sie sich halb im Bett auf, fiel dann erschöpft mit geschlossenen Augen zurück und murmelte:

Ja, du wirst alles erfahren, mein Sohn. Die Wahrheit ist in dem Juwelenkästchen; daran hängt deiner Mutter guter Name. Du mußt das Kästchen finden, Hubert.

Was kann sie nur damit meinen? dachte er. Ihr Geist muß schon irre gehen. Aber bei ihren nächsten Worten fühlte er sein Herz bis in den Hals hinauf schlagen:

Das wird ihn überzeugen – er war sehr hart – aber von den beiden war der andere der Schlechtere.

Der andere? wiederholte er; was für ein anderer? Und dann, einem augenblicklichen Impuls nachgebend, den er sich später nie vergab, beugte er sich nieder und sagte:

Mutter!

Sie öffnete die Augen und sah ihn fragend an.

Darf ich eine letzte Bitte tun?

Die Kraft, zu sprechen, hatte sie schließlich verlassen. Ein leichtes Neigen des Kopfes war ihre Antwort.

Könntest du, fragte er, möchtest du noch etwas mehr sagen – etwas, das –. Hier hielt er inne, durch eine innere Stimme gemahnt.

Sie erhob ihre Augen wieder, und ihre Hand suchte die seine. Dann schüttelte sie, mit einem Lächeln auf den Lippen, langsam den Kopf, und, ihre Hand noch immer matt in der seinen und das Lächeln noch immer auf den Lippen, ging sie ins ruhige Land der Schatten ein.

Zweites Kapitel.

Die Uhr auf dem Kaminsims tickte in unaufhörlicher Monotonie fort. Eine eben ausgeglühte Kohle fiel im Kamin mit lautem Geprassel vom Rost herunter. Dann drang ein tiefer, langer Seufzer aus Huberts Brust hervor, und er bückte sich nieder und küßte die kalten Lippen der besten und treuesten Freundin, die er je auf Erden zu finden erhoffen konnte.

Dann wurde sacht seine Schulter berührt, und er fand den Doktor neben sich stehen. Sein geübtes Auge hatte die Situation mit einem Blick erfaßt.

Wann geschah es, Herr Darrell?

Vor ein paar Minuten.

Kamen Sie zur rechten Zeit an?

Ja.

Ich bin mehr als froh darüber. Es ist von Anfang an ein hoffnungsloser Fall gewesen; aber sie wußte, wie sie sagte, daß Sie kommen würden, und tagelang vorher hat sie mit aller Gewalt mit dem Tode gekämpft. Ach, Mutterliebe ist ein wundervolles Ding!

Ich weiß, Doktor; ich weiß. Ich danke Ihnen herzlich, sagte Hubert; und wieder seufzte er. Und was muß nun geschehen?

Fürs erste überlassen Sie alles mir, sagte der Doktor und läutete die Glocke.

Die Wärterin erschien an der Tür, und eine geflüsterte Besprechung fand zwischen beiden statt. Dann kehrte der Doktor, seine Brille zurechtschiebend, zu Hubert zurück.

Wollen Sie hinunterkommen, Herr Darrell? Ich will den Totenschein ausstellen, und dann werden Sie mir vielleicht sagen, warum – Hm! Ich will Sie nicht einen Augenblick aufhalten – eine bloße Bagatelle oder zwei möchte ich wissen.

Was ich fragen wollte, sagte er ein paar Minuten später im Eßzimmer, als er den erforderlichen Schein ausgefüllt und unterzeichnet hatte, ist dies: bitte keine Beleidigung darin zu sehen. Ich habe Ihre Mutter viele Jahre lang gekannt; ich achtete sie stets hoch, wie ich auch ihren Verlust tief beklage. Sie war eine edle und, ich fürchte, eine schwer leidende Frau. Und was ich Sie in meiner vielleicht vorlauten Art fragen wollte, ist dies: Warum ist Ihr Vater niemals gekommen, um diese wundervolle Frau, sein Weib, in ihrer langen und schmerzvollen Krankheit zu besuchen? Warum – er war in aller Form von mir benachrichtigt – war er heut abend nicht hier?

Ich weiß es nicht, sagte Hubert; ich kann es nicht einmal erraten. Aber die Schuld kann nicht bei ihr gewesen sein, und ich bin mit Widerstreben zu der Ueberzeugung gelangt, daß mein Vater – ich muß einen sehr starken Ausdruck gebrauchen – ein Schurke sein muß.

Der Doktor nickte in aufrichtiger Beistimmung.

Aber Sie werden ihm alles mitteilen? Sie sollten es wenigstens tun.

Ich tue es. Und Hubert sah auf seine Uhr. Es ist noch früh. Ich werde ihm ein Telegramm von Charing Croß schicken.

Tun Sie das.

Der Doktor stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. Hubert begleitete ihn zur Tür, dankte ihm warm, kehrte dann in das Eßzimmer zurück und klingelte.

Simpson, sagte er, als der Diener eintrat, das ist schrecklich traurig.

Schrecklich, Herr. Ich vermute, wir müssen nun alle fort. Ach, ich habe hier gelebt, Herr Hubert – –.

So weit, wie ich zurückdenken kann, Simpson.

Neunzehn Jahre, Herr, sind's nächsten Monat. Ich wünschte mir nie einen bessern Platz. Ihre Mutter war eine Dame, Herr.

Und Sie ein treuer und anhänglicher Diener, Simpson. Das sagte sie mir immer.

Wirklich, Herr? Und ein Schluchzen kam in Simpsons Kehle. Tat sie das wirklich? O, wie danke ich's ihr; aber es wird eine eigene Sache sein, die altgewohnte Stelle zu verlassen, Herr Hubert.

Freilich; aber es wird wohl so sein müssen. Ich schicke jetzt ein Telegramm an meinen Vater. Möglicherweise bekomme ich schon morgen seine Anweisungen. Nebenbei gesagt, Simpson, haben Sie nie meinen Vater gesehen?

Niemals, Herr.

Ist er Ihres Wissens nie in dies Haus gekommen?

Nie hat er einen Fuß hineingesetzt.

Sprach sie je von ihm?

Selten. Nur einmal war sie, was man vertraulich nennen könnte, zu mir, und da sagte sie –

Sie sagte Ihnen etwas?

 

Nicht viel, Herr, nur, daß ein unglückliches Mißverständnis eingetreten wäre, das sich eines Tages aufklären würde. »Die Zeit wird kommen, Simpson,« waren ihre Worte.

Hm! Und das bringt mir etwas ins Gedächtnis zurück. Sie sprach heut abend von einem Juwelenkästchen – sagte, ich müsse dies Kästchen wiederfinden. Wissen Sie was davon? Ich weiß nichts.

Natürlich, Herr, weiß ich davon. Es ward gestohlen, oder wenigstens verschwand es vor mehreren Jahren, und es war großes Aufheben darum. Ihre Mutter schien entsetzlich aufgeregt und hat sich nie wieder ganz darüber beruhigt.

Enthielt es etwas Wertvolles?

Nur Papiere, Herr, glaube ich; aber das Kästchen selbst war wertvoll – massives Silber mit einer Menge seltener Emailarbeit darauf. Sie hatte immer Verdacht auf ihre Jungfer, aber es konnte nicht nachgewiesen werden, obgleich sie die Sache der Polizei übergab.

Haben Sie es jemals gesehen?

Ob ich es gesehen habe? Viele Male, Sir.

Würden Sie imstande sein, es wiederzuerkennen?

Augenblicklich. In der Mitte des Deckels, umgeben von einer Art von Edelsteinen, war ein großer Buchstabe N und eine Krone in rot, weiß und blauem Email. Niemand könnte es verwechseln.

Ich danke Ihnen. Ich werde noch mit Ihnen darüber sprechen müssen. Hubert sah auf seine Uhr. Ich gehe jetzt in den Klub und warte auf Antwort auf mein Telegramm. Es wird spät werden.

Sehr wohl, Herr; in Ihrem alten Zimmer ist ein Feuer angezündet, und Sie werden alles bereit finden, wenn Sie zurückkehren.

Erst als er die Oxford Street erreichte, gelang es ihm, eine Droschke anzurufen. Sein Telegramm von Charing Croß lautete: Darrell, Albert Mansions, SW. – Meine Mutter starb heut abend um halb neun. Was ordnest du an? Bitte Telegrammantwort Wanderer-Klub. – Hubert Darrell. Als er das Klubhaus betrat, begrüßte ihn der Portier freudig.

Natürlich keine Briefe für mich?

Nein, Herr. Aber, warten Sie einen Augenblick! Ich vergaß; es hat hier lange Zeit ein Paket gelegen, schon fünf oder sechs Monate. Und er händigte es ihm ein.

Hubert sah es neugierig an und blickte dann auf die Adresse; plötzlich wich jede Spur von Farbe aus seinem Antlitz. Es war Kitty Clares Handschrift.

Es war nur eine einzige Person im Schreibzimmer anwesend, und da diese ihm den Rücken zuwandte, so fühlte er sich vor Beobachtung sicher, wählte eine etwas dunkle Ecke des Zimmers und schnitt die Schnur des Päckchens durch.

Dann brach ein Ausbruch des Schreckens von seinen Lippen. Da vor ihm lagen alle Briefe, die er an Kitty Clare geschrieben hatte, seine letzten uneröffnet. Dabei waren allerlei kleine Andenken – ein Ring, eine Brosche, ein Armband, eine Locke seines eignen Haars und weiter ein Bund verwelkter Veilchen, die sie an ihrer Brust getragen hatte, als sie ihren Treuschwur mit dem innigsten Kusse besiegelte.

Der Mann, der am andern Tisch geschrieben hatte, stand plötzlich auf. Es war Sir Harry Ogilvie, von der Garde, ein alter Schulkamerad Huberts. Er rief ihn an: Hallo, Darrell! Wieder zurück? Was ist los?

Was los ist? Viel! rief Hubert aus. Und mit weißem Gesicht und geöffnetem Munde starrte er auf den Inhalt des Päckchens vor sich. Ich werde verrückt, glaube ich.

Tu das lieber nicht. Wann kamst du zurück?

Heut abend, gerade zur Zeit, um meine Mutter sterben zu sehen.

Sir Harrys Gesichtszüge wurden weich.

Ich habe das selbst durchgemacht; es ist ein schrecklicher Schicksalsschlag.

Kannst du dir einen schlimmern denken?

Nein, das kann ich nicht.

Gott vergebe mir, was ich sage, sagte Hubert, aber – er zeigte auf die Briefe vor sich – dies ist schlimmer.

Ich verstehe die Situation nicht ganz.

Du kennst Kitty Clare?

Lady Selhurst, meinst du?

Hubert knirschte mit den Zähnen.

Ja, ich meine Lady Selhurst. Du wußtest, daß wir verlobt waren?

Das wußte ja jeder.

Nun, sieh! Hier schickt sie alle meine Briefe zurück. Sieh – die kleinen Andenken, die ich ihr gegeben habe, sogar ein armseliges kleines Bund verwelkter Veilchen, und nicht ein einziges Wort der Erklärung dazu.

Sir Harry zuckte die Achseln.

Es war keine nötig, möchte ich sagen.

Keine nötig? sagte Hubert entsetzt.

Nein. Was konnte das arme Mädchen anders tun? Ich meine, sie hat sehr ehrenhaft gehandelt.

Ehrenhaft! sagte Hubert. Ehrenhaft!

Gewiß!

Mich, ihren jahrelangen Verlobten, auf eine so herzlose, so brutale Art zu behandeln!

Sir Harry sah ihn einen Augenblick mit einer erstaunten Miene an.

Du bist mir einfach ein Rätsel! sagte er dann. Das ist denn doch etwas stark! Ich glaube nicht, daß sie sich auch nur das geringste aus dem alten frostbeuligen Selhurst macht, aber indem sie dich aufgab, hat sie nur getan, was jedes kluge und charaktervolle Mädchen tun würde.

Hubert ging mit drohender Gebärde auf ihn zu.

Das wagst du mir zu sagen, Harry Ogilvie?

Wagen! Wagen! Natürlich wage ich es. Sagte nicht jeder dasselbe von dir? Es würde mich nicht wundernehmen, wenn die Hälfte deiner alten Kameraden dich völlig schnitte.

Um Gottes willen, erkläre mir das! Was sagt ein jeder von mir?

Nun, daß du wie ein Schurke gegen eins der lieblichsten und süßesten Geschöpfe in der weiten Welt gehandelt hast; und ich sage dir noch mehr: Wenn ich ihr Bruder wäre, so würde ich dich ganz gehörig durchprügeln.

Hubert taumelte zurück, schwankte einen Augenblick hin und her wie ein Trunkener und wäre gefallen, hätte ihn Sir Harry nicht in seinen Armen aufgefangen.

Donnerwetter! sagte er, indem er Hubert sanft in einen Armstuhl hob, es muß 'ne Ohnmacht oder was Aehnliches sein. Da wird wohl Kognak das beste sein! Und er zog die Klingel. Werde nicht klug daraus. Aber alle Strenge schmolz in seinem Antlitz, als er den hilflosen jungen Giganten vor sich anschaute. Der Bengel schien sich rein vor Erstaunen zu überkugeln. Sollte etwa doch irgendein verfluchtes Mißverständnis bei der Geschichte sein? Hierher, Kellner, etwas Kognak, schnell, der Herr fühlt sich schlecht. Dann fügte er, Huberts Kopf aufhebend, hinzu: Na, Darrell, alter Junge, Kopf hoch! So geht das nicht, weißt du. Ich meinte es nicht halb so schlimm, wie ich sagte, auf Ehre nicht. Bei den »Buffs« ist so was nicht Mode. Achtung vorm Regiment! Nun los – herunter damit! Und dem Kellner das Glas abnehmend, hielt er es an Huberts Lippen. Hinunter damit, und keinen verdammten Unsinn mehr!

Hubert schluckte mechanisch den Kognak hinunter, und bald kehrte eine Spur von Farbe auf seine Lippen und sein Gesicht zurück. Dann öffneten sich seine Augen, er starrte einen Augenblick verwirrt Sir Harry an, eine heftige Röte stieg ihm plötzlich in die Schläfen, und er sprang auf.

Jetzt erinnere ich mich, sagte er, du wolltest mich durchprügeln, aber eh' du das versuchst, solltest du mir lieber alles erklären, sonst, Schockschwerenot –.

Kopf hoch, Darrell; ruhig, Junge, ruhig! Laß uns beide einander verstehen. Ich fürchte, ich habe mich wohl irgendwie vergriffen. Aber nun sage mal: Gingst du mit des Obersten Frau durch oder nicht?

Mit der Frau von welchem Oberst?

Von deinem.

Huberts Lippen kräuselten sich verächtlich.

Erkläre mir dein kleines Späßchen, sagte er.

Den Teufel auch ist es Spaß! In den Zeitungen stand, daß du es tatest.

Daß ich was tat?

Mit des Obersten Frau durchgingst. Ich sage dir –

Was für Zeitungen schrieben das?

Ich weiß nicht mehr, eine Menge waren es. Ich sah es in der »Wespe«.

Da schlug sich Hubert plötzlich vor die Stirn.

Jetzt verstehe ich alles, sagte er. Und Kitty dachte und du dachtest –. Gütiger Himmel! Diese Idee! – ich sollte mit der Frau eines andern weglaufen, während Kitty noch am Leben wäre! Du unglaublicher Dummkopf, das war ja Herbert Darrell! Weißt du, wie Herbert geschrieben wird? Sieh in die Armeeliste, du großer Dummkopf! Herbert Darrell lief letzte Weihnacht mit des Obersten Frau fort. Ich vermute, ich bin das neueste Opfer eines Druckfehlers. Aber wie du, der du dich Freund nennst – wie du mich eines niedrigen Verrats gegen meine Kitty schuldig glauben konntest, wie du, der du mich schon in Höschen kanntest, mich für falsch gegen sie halten und dir denken konntest, daß ich eine liederliche Oberstenfrau dem süßesten Mädchen im Lande vorzöge, das geht über meine Vorstellungskraft. Wahrhaftig! Ich schäme mich deiner, Ogilvie. Du verdienst Prügel.

Das Blatt hatte sich gewandt, und der junge Baronet war tief beschämt und wußte einen Augenblick lang nichts anderes zu tun, als sein Antlitz mit seinem Taschentuch abzutrocknen.

Nun, ich will verdammt sein, sagte er, wenn dies nicht der verrückteste Irrtum ist, von dem ich je hörte! Herbert Darrell, natürlich! Ich erinnere mich an den kleinen Gimpel. Es ist ein Wunder, daß er sich nicht die Frau eines Brigadegenerals aussuchte. Höre mal, alter Junge. Ob du mir vergeben willst, das steht bei dir, aber das sag' ich dir: es gibt eine Menge andre, die ebensolche Dummköpfe waren wie ich. Jeder hat es gelesen, jeder hat's geglaubt. Aber das kommt wohl leicht in Ordnung. Und nun, Darrell, willst du sie annehmen? Und er streckte ihm die Hand entgegen.