Toter Dekan - guter Dekan

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„Und wie stand die Fakultät dazu?“, wollte Kellert wissen. „Wir standen und stehen geschlossen hinter unserem Kollegen, das ist doch klar!“, beteuerte Kösters mit fester Stimme, um dann jedoch nachdenklich nachzuschieben: „Zumindest nach außen … Ob alle Kollegen im Inneren so denken, das weiß ich natürlich nicht. Und ob sie im Konfliktfall bei ihren Willensbekundungen bleiben würden, weiß ich auch nicht. Bei einigen habe ich so meine Zweifel.“

„Das heißt aber doch, dass dann die ganze berufliche Karriere Ihres Kollegen ruiniert wäre, oder?“, fragte Kellert nach, der hier natürlich sofort ein mögliches Tatmotiv witterte. „Ruiniert wäre Mühlsiepe nicht direkt, wenn es so weit käme“, gab der Prodekan zu bedenken. „Wir sind ja Beamte, entlassen kann man uns also nicht so einfach. Die Universität müsste im Extremfall einen Ersatzposten für ihn bereitstellen. So etwas gibt es an einigen anderen Universitäten schon: Ersatzstellen im Bereich Religionswissenschaft oder Ethik oder was immer sich im Einzelfall anbietet. Das macht natürlich keine Universität gern, aber dazu sind sie nun einmal verpflichtet. Für die wissenschaftliche Karriere von Mühlsiepe wäre es aber natürlich das Aus. Wer liest dann schon noch seine Bücher, wer publiziert Aufsätze, wer lädt zu Vorträgen ein?“

„Aber kann einem das nicht sogar noch mehr Aufmerksamkeit bringen?“, überlegte Kellert. „Nur kurzfristig“, gab Kösters zurück. „Es gibt zwar einige Stars der Szene, Küng und Drewermann zum Beispiel, deren öffentliche Bekanntheit durch den Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis sicherlich eher noch gesteigert wurde, aber im Normalfall versinkt man nach kurzer Zeit in der Anonymität.“

„Ganz schön heftig!“, meinte Kellert nach einigem Überlegen, massierte sich die rechte Schläfe, fügte dann aber hinzu: „Und wie steht es denn nun mit dieser, äh Denunziation, also mit diesem Verfahren?“

Kösters kratzte sich am Hinterkopf und runzelte die Stirn: „Das weiß man nicht so genau. Wissen Sie, in der Kirche läuft so etwas eher hinter den Kulissen. Da gibt es keine klaren öffentlichen Prozesse mit Anklage, Verteidiger und Richter. Soweit wir informiert sind, verhält sich unser Bischof zögerlich. Der ist kein Scharfmacher oder Polarisierer, eher ein ausgewogener und nachdenklicher Mensch. Entweder teilt er die Einschätzung des Dekans nicht, oder er will den Fall nicht hochkochen lassen. Unsere Fakultät hat ja auch einen guten Ruf zu verlieren. Doch, doch, wir gehören in Deutschland zu den führenden Fakultäten! Katholische Theologie aus Friedensberg, die kennt man in den USA und in Lateinamerika. Und das setzt man nicht so leicht aufs Spiel. Gerstmaier war jedenfalls nicht begeistert. Beim letzten Konflikt im Professorium – vorletzte Woche war das – hat er gedroht: ‚Dann wende ich mich eben direkt an Rom!‘“

„Und, kann er das denn?“ „Sicherlich kann er das! Er hat seine Kontakte, seine Netzwerke und Verbindungen. Mit welchen Aussichten – keine Ahnung … Aber welche Mittel einem Dekan ganz legal zur Verfügung stehen, dazu könnte ich Ihnen vieles sagen. So hat Gerstmaier dem Kollegen Mühlsiepe zum Beispiel letztes Jahr ein Forschungsfreisemester verweigert.“

Kellert blickte auf, drehte an seinem Kugelschreiber herum und unterbrach: „Ein was?“ „Ein Forschungsfreisemester!“, erwiderte Kösters. „Das muss ich Ihnen natürlich erklären! Bitte entschuldigen Sie! Es gibt so viele Begriffe, die für uns hier in der Uni so selbstverständlich sind. Kritiker sagen ja, die Universitäten sind wie Elfenbeintürme, ganz eigene geschützte Welten. Mit einer eigenen Sprache und mit Regeln und Gesetzen, die nur hier gelten.“

‚Von wegen, eigene Gesetze. Mord bleibt Mord!‘, dachte Kellert, unterbrach den Prodekan aber nicht, der fortfuhr: „Also das ist so: Jeder Professor hat die Möglichkeit, sich alle vier bis fünf Jahre für ein Semester von der Lehrverpflichtung freistellen zu lassen. Er muss also weder Vorlesungen noch Seminare halten.“ „Nett, warum gibt es so etwas bei uns nicht“, entfuhr es Kellert.

„Ja, das ist schon ein Privileg von uns Professoren, da haben Sie Recht“, räumte Kösters ein. „Andererseits sind wir an den Universitäten ja für zwei Bereiche zuständig: Lehre und Forschung. Und zu echter Forschung kommt man im laufenden Betrieb kaum. In dem Freisemester soll Raum für diese Forschung sein. Für Prüfungen und Verwaltungsaufgaben müssen wir aber auch da weiterhin zur Verfügung stehen, und allein das frisst enorm viel Zeit.“

„Und wie war das nun mit Gerstmaier und Mühlsiepe?“, wollte der Kommissar wissen. „Nun, Mühlsiepe war eigentlich mal wieder an der Reihe. Wir wechseln in regelmäßiger Abfolge durch, so dass jeder genau weiß, wann er an derReihe ist. So gibt es keinen Streit und keine Bevorzugung.“ „Ist doch fair, oder?“, fragte Kellert dazwischen.

„Genau!“, stimmte Kösters zu. „Deshalb haben wir diese Regelung ja auch so getroffen. Aber in diesem Fall hat Gerstmaier anders entschieden. Es ist so: Jeder von uns muss ein konkretes Forschungsprojekt benennen und skizzieren, das er in dieser Zeit bearbeiten will. Und der Dekan muss beurteilen, ob das valide ist oder nicht. Normalerweise ist dieser Vorgang nur ein formaler Akt. Man stimmt dem halt zu, egal, was man davon hält. Wir kennen uns ja auch nicht genau im Fachgebiet der anderen aus, können das also kaum kompetent bewerten. Und ob nun jemand die Freiheit zur Forschung nutzt oder das als ‚Semester frei von Forschung“ definiert, das steht letztlich im Belieben des Einzelnen.“

„Aber?“ „Ja, dieses Mal hat Gerstmaier die Zustimmung verweigert“, meinte Kösters, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rückte seine Brille zurecht. „Und wie hat er das begründet?“ „Offiziell gar nicht!“, erwiderte der Professor. „Das muss er aber auch nicht. Inoffiziell hat er etwas verlauten lassen wie ‚Theologie der 80er Jahre. Das ist keine Forschung. Alles schon geschrieben. Wiederholungen brauchen wir nicht.‘ In diesem Sinne!“

Kellert grübelte nach und beugte sich vor: „Und Ihr Kollege Mühlsiepe? Wie hat er das alles hingenommen?“ Kösters stand auf und ging in seinem Zimmer auf und ab: „Mühlsiepe? Der war natürlich aufgebracht. Total sauer. Aber auch tief getroffen. Ich glaube, die Sache schlägt ihm ganz schön auf die Gesundheit. Aber bitte, das müssen Sie ihn wirklich selber fragen. Überhaupt, ich glaube, ich habe schon viel zu viel erzählt.“

„Nein, das denke ich nicht“, beruhigte ihn der Kommissar. „Denken Sie daran: Hier geht es nicht um die Aufklärung von Querelen und Intrigen unter Kollegen, sondern um Mord. Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit!“ Mit diesen Worten stand er auf und verabschiedete sich von seinem Gesprächspartner: „Auf Wiedersehen. Und mit Ihrem Kollegen werde ich sprechen, keine Sorge. Bitte sagen Sie ihm aber vorläufig noch nichts von unserem Gespräch, ich würde gern seine unmittelbare und eigene Version hören.“

„Ach Herr Kommissar“, rief ihm Kösters nach, „noch eine Frage!“ Kellert blieb in der Tür stehen. Der Prodekan kam näher und sprach mit verhaltener Stimme: „Ist die Leiche von Gerstmaier eigentlich schon zur Bestattung freigegeben? Wir müssen uns dann ja um die Beerdigung kümmern, wissen Sie. Das wird sicherlich ein ziemlich großes Ereignis.“

Kellert schaute ihn fragend an. „Ach so? Nun, ich fürchte, Sie werden sich da noch ein wenig gedulden müssen. Ich habe heute Morgen die Information erhalten, dass er einen Organspende-Ausweis bei sich gehabt hat. Und das entsprechende Prozedere zieht sich noch ein wenig hin.“ „Wie, Gerstmaier hatte einen Organspende-Ausweis!?“ Kösters schaute wirklich überrascht. „Das sieht ihm aber gar nicht ähnlich. Nein, das hätte ich bei ihm nicht erwartet … Sagen Sie mir dann Bescheid, wenn er bestattet werden kann?“ „Das kann ich Ihnen gern zusagen.“

Mittwoch, 12. Mai, nachmittags

Streit um die Wahrheit

„Es ist vielleicht doch besser, wenn du mitkommst“, hatte Kommissar Kellert beim Mittagessen in der Kantine des Polizeigebäudes zu seinem Mitarbeiter Dominik Thiele gesagt. Nun saßen sie in ihrem Dienstwagen auf der Fahrt zur Theologischen Fakultät, einem unauffällig mittelblauen VW Passat-Kombi. Thiele fuhr, Kellert blätterte in einem hellgrünen Notizbuch, in dem sich seine Einträge ansammelten. Während der Kommissar immer noch am liebsten mit Handschrift und auf Papier arbeitete, hatte sich sein Mitarbeiter ganz und gar auf elektronische Medien eingestellt. Notebook und Timer, das war für ihn normal. ‚Da ist der Kellert ein bisschen altmodisch‘, dachte er immer. ‚Na ja, ist eben doch sechzehn Jahre älter, daran merkt man es.‘

Kellert räusperte sich: „Stell doch mal das Gedudel ab!“, schimpfte er mit seinem Mitarbeiter, der stets eine CD einschaltete, sobald er sich in den Wagen setzte. „Das ist kein Gedudel, Chef, das ist Musik, wie man sie heute eben hört“, gab dieser mit leicht säuerlicher Miene zurück, schaltete aber gehorsam das Gerät ab. Dann fügte er grinsend hinzu: „Okay, ist nicht gerade Mozart oder die Rolling Stones oder was man in deiner Generation eben so gehört hat, damals im letzten Jahrhundert.“

„Mach dich nur lustig, Junior“, knurrte Kellert zurück, schlug dann aber einen freundschaftlichen Ton an: „Was hast du denn eigentlich über Familie und finanzielle Situation des Opfers herausgefunden?“ Thiele antwortete, während er den Wagen an einer roten Ampel anhielt. „Noch nicht so viel. Ein ganz schön armes Schwein war das, so rein menschlich gesehen. Eltern seit Jahren tot, eine Schwester, die irgendwo bei Berlin lebt und zu der er kaum Kontakt hatte. Auch von Freunden war kaum die Rede. Ganz schön einsam war der, wenn du mich fragst.“ „Kein Wunder“, murmelte Kellert, der an seine Informationen über das Verhalten von Gerstmaier dachte.

„Na geh schon, blöde Kuh!“, fluchte Thiele über eine ältere Frau, die ihren Gehwagen noch im letzten Moment auf die Straße setzte, kurz bevor das Zeichen für Fußgänger auf Rot sprang. Ungeduldig und mit einem Ruck fuhr er los. „Hey, hey!“, mahnte ihn sein Vorgesetzter, aber Thiele redete einfach weiter: „Finanziell ging es dem jedenfalls gut. Du glaubst nicht, was so ein Prof verdient, verglichen mit unserem jämmerlichen Gehalt. Und dann allein für eine Person! Also: großes eigenes Haus im Dombezirk, Haushälterin, ein dicker Benz, so sieht das aus.“

 

Kellert nickte wortlos: „Hast du mit der Haushälterin gesprochen? Vielleicht weiß die etwas!“ „Nee, noch nicht, sollten wir morgen früh erledigen, habe ich schon abgemacht.“ Thiele beschleunigte und überholte in rasanter Kurve ein Auto, das ihm offenbar zu langsam fuhr. „Hast du eigentlich schon mal Probleme mit den Kollegen vom Verkehr gehabt?“, knurrte Kellert.

„Nö, wieso?“, grinste sein junger Mitarbeiter zurück. „Vielleicht gebe ich denen mal einen Tipp“, meinte der Kommissar trocken, lächelte aber dabei und fuhr fort: „Ach, wissen wir eigentlich inzwischen, mit welcher Waffe Gerstmaier erschossen wurde?“ „Habe ich dir das noch gar nicht gesagt?“, wunderte sich Thiele. „Klar wissen wir das! Bringt uns aber nicht viel weiter: eine Smith & Wesson 7,65 Millimeter, die kannst du inzwischen im Internet ersteigern. Die Dinger gibt es wie Sand am Meer. Auf den Kugeln hat die Kriminaltechnik auch nichts besonderes feststellen können.“

„Davon habe ich mir auch nicht viel versprochen!“, winkte Kellert ab. „So, da drüben links! Es wird aber schwer, einen Parkplatz zu finden. Da bin ich heute Morgen schon lange herumgekurvt.“ „Schwer, wieso?“, meinte Thiele lapidar und wies nach vorn. „Schau doch, da ist einer frei. ‚Parkplatz reserviert für den Dekan‘. Nun, der braucht den heute nicht, so viel steht fest.“

Nachdem sie das Gebäude betreten hatten, schaute sich Thiele neugierig um. Er kannte die Uni in Friedensberg nur von außen. Einen Anlass, einmal hineinzugehen, hatte es nie gegeben. Lange, eher dunkle Flure, breite Treppenhäuser mit ausgetretenen Steinstufen, versteckte nachträglich eingebaute Fahrstühle, rechts und links fahle braune Türen, die entweder zu Büros, Sekretariaten und Professorenzimmern führten oder aber zu Seminarräumen und Hörsälen.

Links neben den Türen befand sich ein kleines Schild, das die jeweilige Nutzung des Raumes angab. Hinter schmalen verglasten Vitrinen-Hängeschränken waren wenig attraktiv gestaltete Bücher aufgestellt, wohl Publikationen der Lehrenden. Hier hingen aber auch Ankündigungen von Lehrveranstaltungen, Hinweise auf Gastvorträge, Prüfungstermine und -ergebnisse sowie allerhand andere Informationen für die Studierenden. Das Ganze wirkte nicht gerade einladend. ‚Keine Bilder, wenig Farbe, wenig Leben‘, ging es Dominik Thiele durch den Kopf. Stattdessen fiel sein Blick auf einen an die Wand geklebten Aufdruck: „Wände unbedingt freihalten. Bekleben, anheften und plakatieren verboten! Der Dekan“ ‚Aha‘, dachte Thiele, ‚Ein Plakat bestimmt, dass Plakate verboten sind. Na toll!‘

Zwei Gestaltenkamen ihnen mit hohl schallenden Schritten entgegen: ein sehr großer, fülliger Mann, an seiner Seite eine zierliche Frau. Sie waren in ein heftiges Gespräch vertieft, bis sie die beiden Männer vor ihnen erkannten. „Na schauns, der Herr Kommissar“, tönte ihnen Brandtstätters Bass entgegen, „was verschafft uns heute die Ehre?“

‚Die beiden scheinen ja häufig miteinander unterwegs zu sein‘, dachte Kommissar Kellert, der die Dame an der Seite des Österreichers natürlich gleich als Frau Professorin Mechtersheim erkannt hatte. Nach den gegenseitigen Vorstellungen und Begrüßungen verabschiedete sich Brandtstätter eilig: „Ich muss in mein Seminar. Habe die Ehre. Und …“ – in Richtung des Kommissars mit einer angedeuteten Verbeugung – „… beste Grüße an die Frau Gemahlin.“

„Sie wollen doch nicht etwa zu mir?“, fragte Frau Mechtersheim mit ängstlichem Blick, als ihr Kollege um die Ecke verschwunden war. „Nein, zu Ihrem Kollegen Mühlsiepe, dem Dogmatiker, wo finden wir denn sein Büro?“, beruhigte sie Kellert. „Ach zum Michael wollen Sie“, stellte die Religionspädagogin erleichtert fest. ‚Aha, noch ein Duzverhältnis‘, registrierte Kellert. „Sein Büro liegt ein Stockwerk höher, dann im Flur die dritte, nein: die vierte Tür rechts!“

„Danke, und …“ Weiter kam Kellert nicht. Links vor ihnen öffnete sich eine Tür und heraus drängten – leise miteinander murmelnd – sechs oder sieben junge Männer, allesamt unauffällig in Braun oder Grau gekleidet, unter ihnen ein Inder. Als sie ihre Professorin erkannten, grüßten sie höflich, aber zurückhaltend. Kellert meinte ein hingemurmeltes„Grüß Gott“ entziffern zu können, nicht eben üblich in Friedensberg.

„Unsere Herren Priesterseminaristen“, erklärte Klara Mechtersheim, nachdem die jungen Männer im Treppenhaus verschwunden waren. „Die können Sie daran erkennen, dass sie im Rudel auftreten, fast nie allein.“ „Aha!“ – Kellert und Thiele schauten sich wortlos an. „Das sind aber eigentlich ganz nette junge Burschen“, fuhr die Professorin fort, „zumindest die meisten. Oft noch ein bisschen unsicher, ob das wirklich ihr Lebensweg sein soll, Priester zu werden. Viele entscheiden sich im Studium doch noch einmal um und suchen eine andere Berufsperspektive.“

Aus dem Seminarraum war unterdes noch ein leises Stimmengewirr zu hören. „Ich verstehe das noch nicht so ganz, aber ich werde das bis nächste Woche nachlesen. Danke, Professor Gehrke!“, sprach eine junge Frauenstimme. Dann traten zwei junge Frauen in den Flur, die eine mit langen schwarzen Haaren, die andere mit pfiffigem blonden Kurzhaarschnitt, beide modisch gekleidet. Was für ein Gegensatz zu den männlichen Studenten! Thiele pfiff kaum hörbar durch die Zähne. Das hatte er hier wohl nicht erwartet. Wieder schaute er zu seinem Chef hinüber, dieses Mal aber mit vieldeutig hochgezogenen Augenbrauen.

„Ja, das sind zwei von unseren Studentinnen. Frau Obmöller kennen Sie ja“, meinte Klara Mechtersheim zu Kommissar Kellert, die andere ist Marie Stadler, beide achtes Semester, machen bald Examen.“ Kellert blickte in den Seminarraum. Ein dicklicher und bleichgesichtiger Student mit schütterem Bartwuchs unterhielt sich noch mit dem Dozenten, einem mittelgroßen, völlig kahlen Mann mittleren Alters mit randloser Brille.

„Wer ist das denn, den Kollegen kenne ich ja noch gar nicht“, raunte er Frau Mechtersheim zu.

„Ach so, das ist Klauspeter Gehrke, Ordinarius für Altes Testament. Der ist ein Jesuit – wie unser Papst – und montags jedenfalls immer in Nürnberg, wo der Ordensnachwuchs ausgebildet wird. Er hat da irgendeine Funktion, keine Ahnung. Außerdem arbeitet er noch in der Hochschulseelsorge mit. Mir wäre das ja ein bisschen viel, aber er ist halt einer von den schlauen Jungs.“

„Wie bitte?“ Kellert war nicht sicher, ob er das richtig verstanden hatte, und fragte nach: „Haben Sie gesagt ‚von den schlauen Jungs?‘“ „Ach so“, lachte sie auf, „das sagt Ihnen nichts, klar! Die Jesuiten nutzen als Abkürzung für ihren Orden die Buchstaben SJ, was Societas Jesu bedeutet, also ‚Gesellschaft Jesu‘. Aber wir sagen immer nur SJ, schlaue Jungs!“ „Hmm“, brummte Kellert zurück und dachte ‚Wieder was gelernt!‘. Thiele grinste zweideutig in sich hinein, ihm war wohl eine andere Assoziation in den Sinn gekommen.

Professorin Mechtersheim fragte: „Soll ich Sie miteinander bekannt machen?“ „Nein, danke“, gab Kellert nach kurzem Nachdenken zurück, „später vielleicht. Wir sollten Ihren Kollegen Mühlsiepe nicht zu lange warten lassen, bei dem haben wir jetzt einen Termin. Also, Frau Mechtersheim, Ihnen einen schönen Tag noch.“

Im Treppenhaus fanden sich dann doch einige Plakate, offenbar hielten sich nicht alle an die entsprechende Anordnung des Dekans. „Frühlingsfest im Innenhof“, las Thiele auf dem einen, „Informationsabend zum Referendariat“ auf einem anderen. „Hallo, Frau Hoberg“, grüßte Kellert eine gepflegte Dame Mitte fünfzig, die ihnen – einige Ordner unter den rechten Arm geklemmt – auf der Treppe entgegenkam.

„Nanu, Herr Kommissar“, gab diese zurück, während sie Dominik Thiele mit prüfendem, aber anerkennendem Blick streifte: „Immer noch da oder schon wieder?“ „Schon wieder“, gab dieser lachend zurück und hob die Hände. „Was will man machen? … Die Dekanatssekretärin“, raunte er seinem Mitarbeiter zu, sobald sie außer Hörweite waren. „Die eigentliche Chefin des ganzen Betriebs hier, wenn du mich fragst. Bei der laufen die Fäden zusammen.“

„Mist, was ist das denn?“ Aus Kellerts Hosentasche bimmelte die Melodie von „Yellow Submarine“ der Beatles. Sein privates Handy! Die Nummer hatten nur ganz wenige, er wollte normalerweise gerade bei der Arbeit nicht gestört werden. „Ja?“, schnappte er kurz. „Oh, hallo Beate …“ Er drehte sich zur Wand weg. Dann lauschte er lange, brummte manchmal ein „hmm“ oder ein „das wird sich schon regeln“, schließlich ein „… mach dir keine Sorgen, der kommt schon zurück. Ist er doch immer … Gut, bis heute Abend.“

„Was ist denn los?“, wollte Thiele wissen. „Ach nichts, lächerlich. Barry, unser Kater, ist seit zwei Tagen nicht mehr zu Hause aufgetaucht. Beate macht sich Sorgen. Unnötig, der ist doch immer wieder zurückgekommen!“ ‚Aber zwei Nächte nacheinander war er noch nie weg‘, überlegte Kellert. ‚Seine Mahlzeiten holt sich der Bursche schon meistens bei uns ab. Und dass ich beim letzten Mal ein bisschen – ein bisschen! – mit dem Fuß nachgeholfen habe, um ihn nach draußen zu treiben, habe ich Beate auch nicht gesagt. Na, so empfindlich ist das Vieh doch nicht! Wird schon wieder auftauchen! Hoffentlich!‘

Inzwischen waren sie vor der gesuchten Bürotür angelangt. „Prof. Dr. Dr. Michael Mühlsiepe, Lehrstuhl für Dogmatik, Sprechstunde donnerstags von 10 bis 11“, lasen sie auf dem schon etwas ausgeblichenen Schild links neben der Tür. „Nu denn man tau!“, meinte Kellert, nun wieder voll auf seinen Beruf konzentriert, in gespieltem, künstlichem Dialekt. Er klopfte und kurz darauf öffnete ihnen ein etwa sechzigjähriger rotgesichtiger Mann in Bluejeans, Hemd und Strickjacke, ein ganzes Stück kleiner als Kellert und nicht mehr ganz schlank.

„Ah, die Herren von der Polizei“, ertönte eine leise, aber klare Stimme, „nur herein! Bitte, nehmen Sie doch Platz!“ Er wies zu zwei bereitstehenden Bürostühlen an einem kleinen leeren Rundtisch und ließ sich in seinem vom Schreibtisch herübergerollten gepolsterten Stuhl nieder. Kellert hatte mit einem schnellen Rundblick erfasst, dass das Büro anscheinend nicht häufig benutzt wurde. Nur wenige Bücher standen etwas verloren in den Regalen, daneben einige wenige Ordner. Zwei schmalblättrige Zimmerpflanzen in grauen Übertöpfen standen vor dem Fenster. An der Wand hinter dem penibel aufgeräumten Schreibtisch sah man zwei abstrakte gerahmte Kunstdrucke. Insgesamt wirkte der Raum kahl und unbewohnt.

„Ich bin nicht oft hier, arbeite lieber zu Hause“, erklärte Mühlsiepe, der den forschenden Blick des Kommissars sehr wohl registriert hatte. „Hier halte ich vor allem meine Sprechstunden und nehme Examensprüfungen ab.“ „Schön, wenn Sie sich das so aussuchen können, das würde ich auch gern“, bemerkte Kellert und lächelte sein Gegenüber vertrauenerweckend an. Der Professor litt definitiv unter Bluthochdruck, wie die rote Hautfarbe verriet. Der weiße, gekräuselte Haarkranz hob sich umso deutlicher davon ab. Der Blick aus den blaugrauen Augen wirkte irgendwie verschwommen, und auf den Wangen und um die Nase zeichneten sich einige blauviolette Äderchen deutlich ab. ‚Der könnte ein Alkoholproblem haben!‘, schoss es Kellert durch den Kopf.

„Womit kann ich Ihnen denn helfen?“, fragte Mühlsiepe und ergänzte: „Ich nehme an, dass es etwas mit Dekan Gerstmaier zu tun hat, habe ich Recht?“ „Ja, natürlich“, antwortete Kellert. „Ich falle gleich mit der Tür ins Haus, Herr Professor, dann sparen wir uns die langen Vorreden.“ „Gern!“, pflichtete ihm Mühlsiepe bei.

Thiele hatte die Beine lässig übereinandergeschlagen, beobachtete Mühlsiepe und versuchte, aus dessen Gestik und Mimik herauszulesen, was seine Worte vielleicht verschwiegen. „Sie hatten einen Streit mit dem verstorbenen Dekan, richtig? Und zwar nicht nur eine alltägliche Auseinandersetzung. Darüber wüsste ich gern mehr!“, sagte Kellert. Er blickte seinem Gegenüber mit festem Blick in die Augen.

Mühlsiepe senkte den Blick, seufzte und verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. „Wenn Sie es denn schon wissen! Na ja, ist vielleicht besser so. Also: Ja, ich hatte einen Streit mit Gerstmaier, und ja: Wir waren keine besonderen Freunde, um es vorsichtig zu sagen.“ „Feinde?“, warf Dominik Thiele ein und erntete dafür einen bösen Blick seines Chefs. „Ach Gott, Feinde“, wich der Professor aus, „Feinde? Ich weiß nicht. Ich will eigentlich niemandes Feind sein. Aber gemocht habe ich ihn nicht, diesen Gerstmaier, und in vielem war ich komplett anderer Auffassung als mein Bruder im geistlichen Amte.“

 

‚Aha‘, dachte Kellert, der sich diese Frage schon seit dem Eintreten gestellt hatte, ‚er ist also auch Priester!‘ Mühlsiepe fuhr fort: „Gegner, das ja, das würde ich akzeptieren. Gegner waren wir, gewiss, aber Feinde? Feinde nicht! … Gut, ich sage es, wie es ist: Er hat mich beim Bischof angezeigt. Ich würde eine häretische Theologie lehren, meinte er. Aber unser Bischof ist Gott sei Dank ein bedächtiger Mann und hat sich nicht hinter diese Verleumdung gestellt.“

„Aber hat der Dekan sich nicht an Rom gewendet?“, unterbrach Kellert. „Das wissen Sie also auch! Nein, hat er nicht, er hat mir allerdings damit gedroht. Aber hinter dem Rücken seines Bischofs hätte er das nicht gemacht. Wissen Sie, diese Kerle sind hierarchiegläubig. Wenn es der Vorgesetzte unterstützt, dann ja, wenn nicht, dann nein.“

„Sind Sie sicher?“, unterbrach Kellert erneut. Mühlsiepe zögerte: „Nein, sicher bin ich mir nicht. Wie kann man sich da sicher sein? Aber der Anlass ist so lächerlich!“ Entrüstet war er aufgesprungen, fuhr sich mit den Händen durchs schüttere, aber lockige Weißhaar und schüttelte stumm den Kopf. „Bitte erklären Sie uns doch, worum es dabei ging. Aber Vorsicht, wir sind keine Theologen, sondern diesbezüglich Laien“, bat der Kommissar.

„Genau darum geht es ja!“, ereiferte sich der Professor, der sich nun wieder gesetzt hatte. „Sehen Sie, ich bin ganz und gar im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgewachsen…“ – er sah die fragend-leeren Blicke vor allem bei Dominik Thiele –, „das war die letzte große maßgebliche Versammlung der katholischen Kirche in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. ‚Aggiornamento‘ hieß das Stichwort der Zeit, Verheutigung, Öffnung zur Gegenwart, auf den Spuren der Zeichen der Zeit sein. Die Kirche sollte für uns, für unsere Gesellschaft gerüstet sein. Das hat mich begeistert. Dabei wollte ich mithelfen. Deshalb bin ich Priester geworden und dann auch Professor. Aber heute wollen einige das Ruder zurückwerfen. Hinein in die feste Gläubigkeit einer Vergangenheit, die sie idealisiert haben. Das geht doch nicht! Man muss doch das Evangelium für heute auslegen, es muss doch für unsere Zeit wichtig werden.“

Mühlsiepe war wieder aufgestanden, ging mit kurzen hektischen Schritten im Zimmer umher, gestikulierte heftig mit den Händen. Seine Rede hatte etwas von einer Predigt; nein, von einer Beschwörung. Kellert und Thiele lauschten überrascht, ließen ihn aber gewähren. Vielleicht würde er etwas für ihren Fall Entscheidendes sagen.

„Hören Sie, junger Mann“, wandte er sich nun an den überraschten Dominik Thiele. „Diese Sprache der Kirche, das versteht heute doch niemand mehr. ‚Erlösung“, Erbsünde“, ‚Sühne‘, ‚Opfertod‘ – können Sie mir sagen, was das bedeutet? Oder Sie?“, wandte er sich an den Kommissar. Beide schwiegen betreten.

„Ja, also … nee, beim besten Willen nicht“, stotterte Kellert nach einer kurzen Bedenkpause.

„Sehen Sie, sehen Sie!“, rief Mühlsiepe triumphierend. Sein Gesicht hatte sich dunkelrot verfärbt. ‚Vorsicht, guter Mann!‘, dachte Kellert. ‚Beruhige dich!‘ „Das weiß heute kein Mensch mehr. Was soll das sein, Erlösung? Wovon denn? Und wie? Und wohin? Klar, ich könnte Ihnen lang und breit erklären, wie das in der kirchlichen Tradition verstanden wird“ – ‚Bloß nicht!‘, dachten Kellert und Thiele gleichzeitig –, „aber Sie würden es eben doch nicht verstehen. Es hätte mit Ihrem, mit unserem Leben rein gar nichts zu tun.“

„Und was heißt das nun für Sie ?“, unterbrach Kellert den Redeschwall. Mühlsiepe hatte sich wieder gesetzt, trank einen Schluck Tee aus einem henkellosen Becher, wischte sich über die Stirn und antwortete dann mit müder Stimme: „Das liegt doch auf der Hand. Wir müssen die Botschaft Jesu neu sagen, anders, zeitgemäß, so dass die Menschen es wieder verstehen. Die da oben sollen ihre alten Sprachformeln wiederholen, da habe ich ja gar nichts dagegen, aber sie sollen uns an der Suche nach einer zeitgemäßen Übersetzung nicht hindern.“

Wer ‚die da oben‘ waren, blieb ungesagt, aber Kellert hakte nach: „Und Gerstmaier war einer von denen, die Sie dabei behinderten?“ „Ja, das war er. Zumindest hat er es versucht“, gab Mühlsiepe zu. „Aber das war mir letztlich egal. Sehen Sie“ – er ging zu einem der Regale und holte ein Buch aus einer Reihe von mehreren identisch aussehenden Exemplaren hervor, „hier: mein neues Buch, im Herbst letzten Jahres erschienen. Bei Echter in Würzburg, kein schlechter Verlag.“ „Freund Jesus – Glaube in der Sprache der Menschen von heute“, las Kellert, nachdem er das schmale Bändchen in die Hand genommen und ziellos durchgeblättert hatte. Er gab es weiter an Thiele, der es sich ebenfalls pflichtschuldig ansah.

„Und so etwas lesen die Leute?“, fragte Kellert mit offensichtlicher Skepsis. „Ach, der Verkauf könnte besser sein, aber ja doch, meine Bücher finden ihre Leser. Und Leserinnen!“, fügte er hinzu. „Und so etwas will Gerstmaier verbieten, mundtot machen! Selbst mein Forschungsfreisemester hat er mir gestrichen.“ Thiele schaute irritiert, aber sein Chef nickt, schien also wieder einmal mehr zu wissen als er. ‚Wie macht der das nur, dass er immer alles weiß?‘, fragte sich Thiele. „Das darf man sich doch nicht gefallen lassen, oder?“, regte sich Mühlsiepe unterdes auf.

Kellert horchte auf: „Wie, ‚nicht gefallen lassen‘? Was haben Sie denn dagegen unternommen?“ Mühlsiepes Augen weiteten sich. Beschwörend hob er die Hände: „Ach Gott, was werden Sie jetzt denken? Ich habe den doch nicht umgebracht, das denken Sie doch jetzt nicht, oder? Ich bitte Sie, ich bin ein Priester! Nein, ich habe halt dagegengehalten, so gut es ging. Hier in der Fakultät gibt es gottlob einige vernünftigeKollegen.“ Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: „und Kolleginnen natürlich. Die gibt es anderswo auch. Auch die Bischöfe sind da uneins: Einige wollen das Zweite Vatikanische Konzil weiter nach vorn entwickeln, andere wollen dahinter zurück. Nein, nein: Wir lassen uns nicht so leicht kleinkriegen.“

„Eines verstehe ich noch nicht“, lenkte Kellert das Gespräch nun in eine andere Richtung. „Wenn die Mehrheit doch eher Ihre Richtung unterstützt, wie Sie sagen, warum haben Sie Gerstmaier dann noch ein zweites Mal zum Dekan gewählt? Sie wussten doch, wie er war und wofür er stand?“ „Ja, das war ein großer Fehler, da haben Sie Recht!“, stimmte der Professor sofort zu. „Aber einerseits gab es keinen Kandidaten, der sich wirklich anbot…“ „Kösters?“, warf Kellert ein. „Der wäre doch eigentlich an der Reihe gewesen.“

„Hermann-Josef Kösters!“ Mühlsiepe verzog das Gesicht. „Ach wissen Sie: ein lieber Mensch, ein netter Kollege, ein guter Wissenschaftler, aber weder ein Diplomat noch ein Kämpfer. Und beides müssen Sie sein als Dekan. Glauben Sie mir, ich war das gleich zweimal. Das reicht mir. Bevor ich mir das noch einmal antue, gehe ich lieber in den vorzeitigen Ruhestand!“

„‚Einerseits‘ haben Sie gerade gesagt, als es um den Grund ging, warum Gerstmaier noch ein zweites Mal zum Dekan gewählt wurde. Und andererseits?“, mischte sich nun Thiele ein. „Ja, andererseits…“, antwortete der Professor langsam, während er sich mit der linken Hand über das unsauber rasierte Kinn strich. „Andererseits war das Wahlergebnis trotzdem überraschend. Ich hätte ihn ja abgewählt, dann hätte sich schon irgendein Kandidat für einen zweiten Wahlgang gefunden. Aber er hat fast alle Stimmen im Fakultätsrat bekommen, hören Sie: fast alle. Ich bin da ja nicht mehr alsMitglied dabei, das habe ich nun wirklich lange genug gemacht. Trotzdem kenne ich natürlich das Ergebnis. So etwas bleibt an einer so kleinen Fakultät nicht geheim.“

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