Achterbahn der Hormone

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»Geht es so? Kannst du so gut essen?«

Fürsorglich rückte er die Kissen in Melli’s Rücken zurecht. Melli war völlig perplex. Dass Tassilo so aufmerksam und liebevoll sein konnte, hätte sie nie vermutet. Als sie ihre Mum anschaute, bemerkte sie auf deren Gesicht, die gleiche Verblüffung über sein ›bemuttern‹. Für Tassilo schien das selbstverständlich zu sein. Er probierte seinen Kuchen und gleich nach dem ersten Bissen strahlte er über das ganze Gesicht. »Einfach genial!«, war sein Urteil »Entweder muss ich immer herausbekommen, wann Sie Kuchen gebacken haben und mich einladen oder ich muss Sie überreden, mir das Backen beizubringen, was auf lange Sicht die bessere Idee wäre!«

Melli’s Mutter lachte.

»Du weißt schon, wie du Mütter schwach machst! Kann bei euch niemand backen?«

Tassilo’s Gesicht wurde ernst.

»Meine Mutter kommt kaum dazu. Ich habe eine schwer behinderte Schwester. Ayla ist drei Jahre jünger als ich und hat epileptische Anfälle. Sie ist nicht mehr in der Lage, irgendetwas für sich selbst zu tun. Bisher haben sich meine Mutter und ich die Pflege geteilt. Aber vor zwei Wochen sind wir nach Ossbach gezogen, weil es hier eine Klinik mit Spezialisten gibt für diese spezielle Form der Epilepsie, die Ayla hat. Wir hoffen, dass die Anfälle gestoppt werden können. Noch kann Ayla mit uns reden, zwar mühsam, aber wir wissen, was sie uns sagen möchte. Ayla und meine Mutter sind für die nächsten Wochen zusammen in dieser Klinik untergebracht. So kann sich meine Mutter ausruhen und ist gleichzeitig bei Ayla. Ich besuche die Beiden, wann immer es geht.«

Melli und ihre Mutter waren regelrecht geschockt.

»Und wer kümmert sich um den Rest? Wäsche, Haushalt et cetera?«, fragte Melli’s Mum.

»Auch wenn ich keine Kuchen backen kann, den Rest habe ich gelernt. Ich wasche die Wäsche, bügle, putze Fenster und der restlichen Kleinkram im Haushalt ist kein Problem. Ich muss auch langsam los, weil ich ein paar Sachen in die Klinik bringen möchte.«

»Und wo ist dein Vater? Entschuldige, dass ich frage«, mischte sich nun Melli ein.

»Der konnte das alles nicht mehr ertragen und hat uns verlassen. Zu seinen Gunsten muss man sagen, dass er uns finanziell sehr gut versorgt. Wenn es um Ayla geht, ist er sehr bemüht. Aber er kann den Anblick nicht aushalten.«

»Scheiße!«, sagte Melli. Mehr konnte sie nicht sagen, sie war einfach völlig überrollt von allem.

Ihre Mum wurde gleich wieder praktisch denkend.

»Tassilo, ich muss noch einkaufen und fahre sowieso nach Ossbach. Magst du mit mir fahren? Ich würde mich freuen.«

Tassilo sagte spontan zu und Melli’s Mum verschwand, um sich umzuziehen. Melli sah Tassilo nun mit ganz anderen Augen und fühlte sich ziemlich schlecht, weil sie ihn in eine ganz falsche Schublade gesteckt hatte. Und da Ehrlichkeit in ihrer Natur lag, musste sie sich sofort bei ihm entschuldigen. Sie konnte einfach nicht anders.

»Es tut mir leid, dass ich so zu dir war«, druckste sie herum. »Ich dachte, als ich dich gesehen hatte, dass du so ein Blue Boy Charming-Typ bist, der genau weiß, dass er jede rumkriegen kann. Und dann bist du auch noch mit diesen blöden Hühnern herum gehangen, sodass ich dich in die Kategorie megaoberflächlich einsortiert hatte. Es tut mir leid.«

Tassilo saß wieder ganz nahe bei Melli und streichelte ihre Hände.

»Ich weiß, dass die meisten so denken, wenn sie mich nicht kennen. Die meisten Menschen wissen auch nichts über meine Schwester und es interessiert sie auch nicht. Meine etwas lockere Art hält alle davon ab, Fragen zu stellen. Da du die erste Zeit die Krallen ausgefahren hattest, wenn ich mit dir reden wollte, habe ich mich etwas in der Klasse umgesehen. Aber nie, ohne dich aus den Augen zu lassen.«

Er lachte sie an.

»Das ist ganz schön schlimm mit deiner Schwester. Danke, dass du mir das erzählt hast. Aber wieso erzählst du das gerade mir? Du kennst mich doch gar nicht wirklich.«

Tassilo schaute sie an.

»Das stimmt so nicht ganz. Du bist ein Mädchen, das sich ungeachtet dessen, dass es Prügel riskiert, für Schwächere einsetzt. Das sagt schon sehr viel über dich aus.«

Er küsste Melli auf die Stirn. Aus dem Flur tönte die Stimme von Anita Großmann, »Tassilo, ich bin fertig, wir können fahren!«

Noch einmal senkte Tassilo seine Lippen auf Melli’s Mund und küsste sie innig. Damit begann eine neue Fahrt auf der Achterbahn für Melli.

»Darf ich dich morgen anrufen?«, fragte Tassilo, »ich wollte nach der Schule in die Klinik, aber wenn ich am Abend noch bei dir anrufen darf, wäre das toll.«

»Natürlich darfst du, was ist das für eine Frage?«, wunderte sich Melli.

»Na ja, ich schätze, das heute war ein ziemlicher Überfall. Ich hatte ja gehofft, dass du unter der rauen Schale einen sanften, lieben Kern hast und habe alles auf eine Karte gesetzt, als ich heute zu dir kam, um dir zu gestehen, was ich für dich empfinde. Auch auf die Gefahr hin, dass du mich vielleicht doch nicht magst und ich mich zum Affen mache. Ich würde es auf alle Fälle verstehen, wenn du erst ein bisschen Ruhe haben wolltest.«

Melli grinste ihn an.

»Ich habe die ganze Nacht und den ganzen Tag Zeit zum Denken, ich kann ja nichts anderes tun. Bis morgen Abend habe ich bestimmt alles von vorne bis hinten und wieder zurück durch gedacht.«

Melli’s Mum kam herein. Tassilo gab Melli einen sanften Abschiedskuss auf ihre Lippen und verabschiedete sich von ihr. Ihre Mum winkte kurz. »Hast du Lust auf irgendeine kulinarische Köstlichkeit, die ich dir mitbringen kann?«, fragte sie.

»Wenn du für Früchteshakes alles im Haus hast, brauche ich nichts.«

»Alles klar, dann bis nachher.«

Tassilo und ihre Mum gingen und ließen eine völlig durchgeknallte Melli zurück.

Dass sie in Tassilo über beide Ohren verliebt war, das konnte sie nicht leugnen. Wollte sie auch gar nicht. Aber wann war das passiert? Vermutlich war sie das von Anfang an gewesen. Was hatte Tassilo über Liebe auf den ersten Blick gesagt? Er hatte das sofort geschnallt, nur sie war auf der Leitung gestanden. Und jetzt wo sie erfahren hatte, wie er sich mit seiner Mutter und der behinderten Schwester durch das Leben schlug, machte sie sich Vorwürfe, weil sie ihn als oberflächlich eingestuft und dann permanent mit Verachtung gestraft hatte. Er sah einfach zu gut aus. Das war das Hauptproblem. Aber in dem Fall war es unfair gewesen vom Äußeren auf das Innere zu schließen. Eigentlich war es das ja immer. Sie überlegte, wieso sie überhaupt zu dem Schluss gekommen war, dass er ein arroganter Macho war. Hatte sie so eine Einbildungskraft, dass sie das Offensichtliche so leicht hatte übersehen können? Es lag wohl mehr daran, dass sie Tassilo nicht richtig hatte anschauen wollen. Ab da, wo er sich mit der Presswurst-Gang abgegeben hatte, war ihm von ihr der Stempel aufgedrückt worden. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass die Navajho-Indianer sagen, dass man nicht über einen anderen Menschen urteilen sollte, bevor man nicht 1000 Meilen in seinen Mokassins gelaufen ist. Und trotz ihres Gerechtigkeitsgefühls, hatte sie über Tassilo geurteilt, ohne ihm eine Chance zu geben und ihn erst einmal kennen zu lernen. Vielleicht lag es einfach daran, dass er sie so verwirrt hatte und sie nicht verstanden hatte, woran das lag. Wenn er nicht zu ihr gekommen wäre und so viel Mut gehabt hätte, würde sie wohl immer noch auf ihrem hohen Ross sitzen. Vermutlich hätte sie es nie gecheckt, dass ihre Unsicherheit ihm gegenüber darin begründet lag, dass sie in ihn verliebt war. Sie war tatsächlich über beide Ohren in Tassilo verliebt! Wahnsinn! Nicht auszudenken, wenn das so wie bisher weiter gelaufen wäre! Auch wenn sie nicht gerne mit einer Gehirnerschütterung auf dem Sofa herumhing, sie hatte doch etwas Gutes. Ohne Gehirnerschütterung wäre Tassilo nie zu ihr gekommen. Melli’s Gedanken wanderten zwischen Selbstvorwürfen und den neuen verrückten Gefühlen für Tassilo hin und her. An Schlafen und Ausruhen war gar nicht zu denken.

In diesem Zustand fand Anita Großmann ihre Tochter vor, als sie wieder nach Hause kam. Sie stellte ihre Einkaufskörbe in die Küche und kam gleich zu Melli in das Wohnzimmer.

»Na, alles klar?«, fragte sie.

»Na ja, irgendwie nein.« Wie sollte sie erklären, was mit ihr los war? Ihre Mutter kam auf das Sofa und nahm Melli in die Arme.

»So schlimm hat es dich erwischt?«

Damit brach Melli’s Schutzwall. Sie fing an zu weinen.

»Ich habe doch gar nicht gewusst, dass er so nett und lieb und so ist. Und ich war echt fies zu ihm. Oh Mama! Er ist doch auch wirklich lieb und dann sieht er noch so unglaublich toll aus. Ich hab gedacht, dass er voll eingebildet ist. Er hat ja auch einen Spiegel zuhause. Alle Mädchen schauen ihm nach und benehmen sich wie dumme Gänse, wenn er in der Nähe ist. Aber dafür kann er doch gar nichts.«

Anita Großmann hielt ihre Tochter in den Armen und beruhigte sie.

»Melli, der Tassilo ist ein ganz toller Kerl, so viel ich sehen konnte. Wenn jemand mit viel Leid konfrontiert wurde und große Verantwortung schon sehr früh in seinem Leben übernehmen musste, reift er viel schneller. Ich habe mich auf der Fahrt mit ihm sehr gut unterhalten und ich mag ihn wirklich. Er nötigt auch einem Erwachsenen riesigen Respekt ab.«

»Und ich war so gemein zu ihm«, weinte Melli weiter.

»Gschsch«, machte Melli’s Mum, »Tassilo hat alles auf eine Karte gesetzt, als er hierher kam. Dass er sich in dich verliebt hat, ist doch einfach super. Ich glaube, er weiß genau, warum er unbedingt mit dir zusammen sein will. Deswegen hat er sich auch in die Höhle der Löwin getraut. Stell dir mal vor, du hättest ihn wirklich nicht leiden können, dann wäre er doch ganz schön dumm dagestanden! Er hat es riskiert, dass du ihn eventuell sehr verletzt. Vermutlich hat er es nicht mehr ausgehalten, weil er sich zu sehr um dich gesorgt hat. Wenn man in jemanden verliebt ist, will man unbedingt wissen, wie es dem anderen geht und alles tun, damit es ihm besser geht. Ich denke, dass dies seinen spontanen Besuch ausgelöst hat. Und jetzt hör auf zu weinen, das tut deinem Kopf nicht gut. Der wird bestimmt schon wieder richtig weh tun.«

 

So etwas ähnliches hatte Tassilo auch gesagt. Melli dachte angestrengt darüber nach. Während sie so am Grübeln war, klingelte es an der Tür. Andi! Mist, den habe ich ganz vergessen, dachte Melli. Und sie hatte auch grad gar keine Lust auf ihn. Doch ihre Mum war schon an der HausTür. Kurz darauf kam er auch herein. Melli hatte sich geschwind die Tränen aus dem Gesicht gewischt und bemühte sich um ein Gesicht, dem man es hoffentlich nicht ansah, dass sie geweint hatte. Aber sie hätte Andi besser kennen sollen. Ein Blick auf ihr Gesicht und er fragte besorgt, als er sich zu ihr setzte, »Melli, was ist los? Hast du so arge Schmerzen?«

»Nein, das ist es nicht. Doch, klar, ich hab wieder arg Kopfschmerzen. Ich bin nur etwas neben mir.«

»Magst du darüber reden?«, fragte er.

Melli winkte ab. »Ist schon gut, das wird schon wieder.«

Anita Großmann, die zugehört hatte, zog eine Augenbraue hoch. Melli wollte Andi ganz offensichtlich nichts von Tassilo erzählen. Das musste sie zwar für sich entscheiden, sie würde ihr da sicher nicht dazwischenfunken. Aber es wäre bestimmt geschickter, Andi gleich davon zu erzählen und kein Geheimnis daraus zu machen. Anita Großmann hatte schon lange bemerkt, dass Andi viel mehr für Melli empfand, als er durchblicken ließ. Oje, das wird ja noch lustig werden, dachte sie und zog sich in ihr Büro zurück. Sie wählte die Nummer von ihrem Mann und war erleichtert, als sie ihn auf Anhieb erreichte und ihm alles erzählen konnte. Er reagierte wie immer mit Ruhe und freute sich, dass Melli’s erste Liebe augenscheinlich kein Trottel war, wie er sich ausdrückte!

»Na dann wird die Frage nach der Pille bald anstehen«, meinte er.

»Hallo!! So schnell wird’ s nicht gehen«, erwiderte Anita Großmann. »Aber wir werden es ja sehen. Und wenn, wird es andere, bessere Mittel zur Verhütung geben, das ist sicher.«

Ihr Mann erzählte ihr noch ein wenig von seinem Tag und versprach am Freitag schon am frühen Nachmittag zuhause zu sein.

Melli war in einer unglücklichen Situation. Da die Sache noch so frisch war, wollte sie mit niemandem darüber reden. Sie war sich noch unsicher, wie sie damit umgehen sollte. Außerdem stand noch die Aussprache wegen Andi’s Verhalten im Raum. Heute hatte sie aber weder die Kraft noch die Nerven mit ihm zu streiten. Entsprechend kurz waren ihre Antworten auf Andi’s Fragen. Dieser kapitulierte irgendwann an ihren einsilbigen Antworten und verabschiedete sich wieder.

»Ich glaube, du bist ganz schön geschafft. Es ist besser, wenn du wieder Ruhe hast. Ich rufe dir morgen an, dann kannst du mir sagen, ob es o. k. ist, wenn ich noch einen kleinen Abstecher zu dir mache. O. k?«

Melli war einerseits schuldbewusst, aber auch froh, endlich alleine zu sein.

»Das ist lieb von dir. Ich bin ko vom herumliegen. Tut mir leid.«

»Ist doch alles in Ordnung, Melli. Bis morgen also und sag deiner Mum liebe Grüße.«

Andi ging und ließ eine ratlose Melli zurück. Wenn sie doch nur einen normalen Gedanken fassen könnte! Doch die gingen immer wieder, wie bei einer DVD, die man zurückspulen konnte, an die Stelle zurück, als Tassilo ihr die Haare zurückgeschoben und sie das erste Mal geküsst hatte. Als seine Zunge sie berührt hatte, war sie zurückgeschreckt. Das ärgerte sie hinterher, weil sie so gar keine Ahnung gehabt hatte. Klar hatte sie von Zungenküssen gehört, aber zum einen hatte es sie nie interessiert und zum anderen hatte sich das alles etwas eklig angehört. Ihr Sinn für Hygiene hatte sich das nicht vorstellen können. Dass es derartige Gefühle auslösen würde, hätte sie nie für möglich gehalten. Dieser Kuss hatte sie so überwältigt, dass sie am liebsten geweint hätte. Es war reiner Kitsch, was sie jetzt dachte und noch gestern hätte sie auf eine schwere Gehirnkrankheit getippt, wenn jemand ihr so einen Schwulst erzählt hätte. Sie hatte aber tatsächlich das Gefühl, als hätte es neben der körperlichen Berührung, auch auf einer anderen Ebene eine Berührung gegeben, die ihr das Herz weit machte, wenn sie nur daran dachte.

Diese Gehirnerschütterung hatte wirklich ganz massive Schäden bei ihr verursacht. Sie versuchte sich in ihren trockenen Humor zu retten, doch das gelang ihr nicht wirklich. Immer und immer wieder fand sie sich gedanklich in den Armen von Tassilo. Das Abendessen ließ Melli ausfallen. Sie wollte sich nicht mit Fragen konfrontieren, die sie selbst nicht beantworten konnte. Und ihre Mum würde bestimmt neugierig sein. Mit dem Satz, »Habe keinen Hunger, der Kuchen genügt für heute«, verzog sie sich in ihr Bett. Sie schlief ein, mit ihren Gedanken bei Tassilo.

Am Morgen wachte sie mit einem komischen Gefühl im Bauch auf. Irgendetwas war anders heute, sie wusste nur nicht was. Melli wurde langsam wach und die Erinnerung kam zurück. Tassilo hatte sie geküsst. Sie ›gingen‹ jetzt wohl miteinander. Das hörte sich voll doof an. Das hatte rein gar nichts mit den Gefühlen zu tun, die sie gestern völlig außer Fassung gebracht hatten. Heute Abend wollte er anrufen. Wie sollte sie das bloß bis dahin aushalten? An der Tür klopfte es. Ihre Mum kam herein.

»Guten Morgen, Liebes. Hast du einigermaßen gut geschlafen?«

»Wider Erwarten ja.« Melli zog eine Grimasse. Sie war sich nicht schlüssig, ob sie mit ihrer Mum über das, was so in ihr los war, reden konnte. Irgendwie fühlte sie sich zu verletzlich und wenn Mum nur einen blöden Satz sagen würde, wäre das Thema für sie beide vom Tisch, das war für sie klar. Die Entscheidung wurde ihr von ihrer Mum abgenommen.

»Und wie fühlt sich das an: Zum ersten Mal total verliebt?«, lächelte diese Melli an.

»Woher willst du wissen, dass ich total verliebt bin? Ich könnte auch total übergeschnappt sein!«

Melli wollte sich gleich wieder hinter einer Mauer zurückziehen.

Ihre Mum lachte, »Ganz ehrlich, wenn es einen so erwischt, dann kommt das fast auf das Gleiche heraus! Wie ich Papa kennen gelernt habe, war meine Welt upsidedown, das kann ich dir sagen. Keiner um uns herum hat verstanden, dass es wirklich Liebe auf den ersten Blick war und zwar bei uns beiden. Von deinen Großeltern kamen nur Gebote und Verbote. Alle waren davon überzeugt, dass sich das wieder gibt. Gefühle werden mit der Zeit weniger, hat es geheißen. Und – wir sind jetzt 19 Jahre verheiratet und glücklicher als die, die alles besser gewusst haben. Melli, genieße das Verliebtsein, es ist so toll, wenn die Schmetterlinge im Bauch herum flattern, wenn man sich sieht oder auch nur aneinander denkt! Was daraus wird, das siehst du. Lebe jeden einzelnen Augenblick. Das geht auch mit Schule und allem drumherum. Du wirst schon sehen!«

Melli war von der sichtlichen Freude ihrer Mum etwas überfahren. Jetzt wusste sie gar nicht mehr, was sie sagen sollte. Ihre Mum war ihre beste Freundin, schon deswegen, weil sie sonst keine wirklichen Freundinnen hatte. Es gab Mädchen, mit denen sie sich gut verstand, aber sie hatte noch nie mit anderen über Liebe, Sex und Jungs im Speziellen geredet. Und was sie beobachtet hatte, war überhaupt nicht mit dem, was sie gerade fühlte, zu vergleichen. Wenn Jungs und Mädchen in ihrer Schule miteinander gingen, dann hatte sie das Gefühl, dass das eine sehr oberflächliche Sache war. Man machte Schluss, ging mit dem Nächsten. Eine Aneinanderreihung von Ausprobieren! Und das im zwei-Wochen-Rhytmus. Was war, wenn Tassilo das auch nicht so ernst meinte? Ein scharfer Schmerz durchfuhr Melli. Daran durfte sie gar nicht denken. Jetzt kannte sie das Gefühl zum Wort ›Herzschmerz‹! Tränen stiegen ihr in die Augen.

Ihre Mum hatte die Gefühlsregungen auf ihrem Gesicht ablesen können.

»Oh mein kleiner Pessimist! Tassilo scheint nicht von der Sorte zu sein, der leichtfertig mit den Gefühlen anderer Menschen umgeht. Gib euch doch eine Chance. Liebe bedeutet, sich zu öffnen, auch auf die Gefahr hin, dass es sehr weh tun kann.«

Anita Großmann nahm ihre Tochter in die Arme.

Melli weinte haltlos. »Wenn Liebe so schrecklich ist, dann komme ich gut ohne sie aus«, schluchzte sie. Im Büro ihrer Mum klingelte das Telefon. Diese machte keine Anstalten dran zugehen.

»Geh ruhig«, forderte Melli ihre Mum mit einem schiefen Lächeln trotz der Tränen auf. »Ich werde vermutlich noch öfter solche Ausbrüche haben, um die du dich dann kümmern kannst.«

Ihre Mum ging in ihr Büro und kam gleich mit dem Telefon zurück.

»Es ist für dich. Tassilo ist dran!« Sie zwinkerte ihrer Tochter zu und ging hinunter, um Frühstück zu machen. Melli nahm mit pochendem Herzen den Telefonhörer an das Ohr.

»Hi«, sagte sie zaghaft.

»Guten Morgen, geht es dir gut?«

Tassilo’s Stimme machte ihr schon wieder Gänsehaut. Melli wusste nicht so recht, was sie antworten sollte. »Wenn du meinen Kopf meinst, danke geht ganz gut, dafür dass er mein Kopf ist«, versuchte sie witzig zu klingen.

»Melli, was ist los? Ich konnte nicht zur Schule, bevor ich nicht wenigstens ›Guten Morgen‹ gesagt habe. Sag, was hast du? Du klingst nicht so gut.«

Melli war schon wieder den Tränen nahe. Was war nur los?

»Ich bin irgendwie durcheinander«, gab sie mutig zu. Tassilo schien zu wissen, wie sie sich fühlte.

Leise sagte er, »Ich weiß, dass ich dich gestern regelrecht überfahren habe. Es ist mir mit uns so ernst, wie nichts anderes in meinem Leben – ausgenommen meiner Familie. Wenn dir das alles zu schnell gegangen ist, dann sag mir, was du möchtest. Ich möchte einfach mit dir zusammen sein.«

Melli war verblüfft über seine Offenheit.

»Ich habe Angst, dass ich irgendetwas verkehrt mache oder sage. Ich hatte noch nie einen Freund und ach ich weiß nicht!«

Melli ging wieder auf Rückzug. Tassilo ließ sich davon nicht beeindrucken.

»Melli, ich glaube, du weißt nicht, ob du mir trauen beziehungsweise vertrauen kannst. Das kriegst du aber nur heraus, indem du uns eine Chance gibst. Das, was gestern zwischen uns abging, ist einfach etwas unglaublich Schönes. Hört sich ziemlich abgedreht an, ich weiß, aber so fühle ich und ich weiß, dass es dir auch so geht. Bitte, ziehe dich nicht wieder in dein Schneckenhaus zurück.« Er machte eine Pause. »Ich muss jetzt los. Nach der Schule reden wir noch einmal, ja?«

Er hörte sich jetzt gar nicht mehr so souverän an, wie sie es sonst von ihm kannte. Das war wohl der Grund dafür, dass sie sich einen riesigen Ruck gab und leise sagte, »Ich weiß noch nicht genau, wie und wann es passiert ist, aber ich habe mich, glaube ich, in dich verliebt.«

Am anderen Ende war erst einmal Stille, sodass Melli gleich wieder Angst hatte, zu viel gesagt zu haben. Doch dann hörte sie Tassilo’s Stimme warm an ihrem Ohr.

»Melli, du bist einfach wundervoll, ich bin auch in dich verliebt, von den Zehen bis zu der Nase!«

Melli musste lächeln.

»Nur bis zur Nase und was ist mit dem Hirn?«

Tassilo lachte leise. »Das kann ich im Moment nicht befragen, das scheint gerade einen Reset zu machen! Ich muss jetzt leider los, melde mich so schnell ich kann bei dir, ja?«

»Ja, klar. Mach’s gut, bis dann«, sagte Melli und drückte auf die Aus-Taste.

»Na, war das nicht ein gutes Timing, um die schwarzen Wolken zu verjagen?«, empfing Anita Großmann ihre Tochter, als diese zum Frühstück in die Wohnküche kam.

»Du hattest Recht, Mum«, gab Melli zu. »Liebe bedeutet mutig sein. Ich habe Tassilo wohl falsch eingeschätzt. Er wirkt immer so cool und da erschien er mir so oberflächlich. Und mit diesem neuen Tassilo komme ich irgendwie nicht richtig klar.«

Ihre Mum musterte sie kritisch.

»Glaubst du nicht, dass es auch ein wenig damit zusammenhängt, dass du dein Bild, deine Vorurteile revidieren musst und du es einfach nicht gerne hast, wenn du einmal nicht recht hast?«

Melli runzelte die Stirn. »Ich bin doch nicht so rechthaberisch, wie du jetzt tust, oder?«

Ihre Mum schüttelte den Kopf.

»Du legst dich einfach manchmal zu früh fest und kannst dann von deinem Standpunkt nicht herunter. Aber bei Tassilo bin ich guter Dinge, dass es klappt. Er ist ziemlich beharrlich, wenn er etwas will, glaube ich.« Melli kaute an ihrer Unterlippe.

»Meinst du, er ist ein noch größerer Dickkopf als ich. Na, dann bin ich gespannt, wann wir das erste Mal Krach haben.«

 

Ihre Mum schüttelte ungläubig den Kopf.

»Solange Tassilo mit einer solchen Diplomatie gesegnet ist, wie er sie gerade an den Tag legt, wird es sicher gutgehen. Aber du solltest langsam lernen, dass du nicht erst beißen und dann fragen solltest.«

Jetzt ging das wieder los! Immer endeten gute Gespräche mit ihrer Mum in solchen Vorhaltungen.

Ihre Mum sah, dass Melli schon wieder eingeschnappt war und sagte begütigend, »Mensch Melli, Tassilo ist wirklich völlig in dich verliebt, das sieht ein Blinder mit Krückstock und wenn du es schaffst, deine Angstbeißerei zurückzunehmen, dann wird das richtig toll.«

Melli schaute schon wieder versöhnlicher drein.

Nach einer Weile rückte sie heraus, »Mum, ich weiß zwar, was so geht zwischen Mädchen und Jungs, aber Tassilo hatte schon bestimmt ein paar Freundinnen, er weiß irgendwie genau, wie es läuft und ich komme mir so dämlich vor.«

Melli’s Mum wusste, was Melli meinte.

»Das ging mir genauso. Mein erster Freund hat mich deswegen auch fallengelassen, weil ich ihm nicht erfahren genug war. Nachträglich muss ich sagen: Gott sei Dank. Der war ein richtiger Fehlgriff. Dein Papa war froh darüber, dass ich noch nicht so viel Erfahrung hatte. Er war auf jeden, der vorher mit mir zusammen war, eifersüchtig. Und ich denke, wenn du wie ein Obstkorb durch alle Hände gegangen bist, dann bist du auch nicht so viel wert. Dein Papa hat mit mir alles erkundet und ausprobiert, was es nur gab. Er verwöhnt mich immer noch nach Strich und Faden, ich konnte keinen besseren Lover bekommen. Und ganz ehrlich, es ist noch nicht einmal langweilig mit ihm gewesen ... im Bett meine ich.«

Melli grinste.

»Ihr seht euch auch viel weniger als andere, die ich kenne, die auch schon so lange verheiratet sind. Vielleicht ist das der Grund, warum es euch nicht langweilig ist.«

Ihre Mum zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht, es gibt aber auch die Variante, dass Männer auf ihren Geschäftsreisen sich andere Frauen für das Bett anlachen. Dieses Problem hatten wir nie.«

Melli half ihrer Mum den Tisch abzuräumen.

»Du meinst, dass es Tassilo egal ist, wenn ich mich vielleicht blöd anstelle?«

Melli’s Mum drehte sich zu ihr herum.

»Melli, mach dir jetzt keinen Knoten in den Kopf. Das Tollste ist, wenn zwei Menschen lernen, offen miteinander zu reden. Und das nicht nur wenn es um den sexuellen Bereich geht. Wenn Tassilo über Erfahrung verfügt, dann wird er dir helfen. Und wenn es dann über Petting hinaus gehen sollte, machen wir uns ganz fix über Verhütung Gedanken.«

»Mama!!!« Melli war so geschockt über die lässige Art ihrer Mum, dass sie diese wieder wie in Kindertagen Mama nannte. Ihre Mum grinste sie an.

»Geschockt? Ich hoffe, dass wir immer über alle Dinge klar und unmissverständlich reden können. Sex ist sehr wichtig in einer Beziehung. Es gibt nichts Schlimmeres als schlechten Sex! Und die Verantwortung dafür zu übernehmen, wie weit man geht, gehört zur Liebe dazu. Wenn ich nebenher die ganze Zeit Angst habe, schwanger zu werden, kann ich doch nicht entspannt mit meinem Partner schlafen! Aber das ist ja noch Zukunftsmusik. Wo wir schon wieder mit unseren Gedanken hingaloppieren?«, schmunzelte sie. »Es ist aber schön, mit dir richtige Frauengespräche zu führen.«

Melli war irgendwie erleichtert.

»Ich wüsste auch gar nicht, mit wem ich darüber reden könnte. Das ist sicher kein Thema, über das ich mit irgendjemandem quatschen könnte.«

Sie zog sich auf ihr Sofa zurück. Die Kopfschmerzen waren heute morgen noch gar nicht schlimm, so versuchte sie zu lesen. Auf diese Weise ging der Vormittag ziemlich schnell herum. Zum Mittagessen machten es sich Mutter und Tochter im Wohnzimmer gemütlich.

»Ich habe bei zwei Kampfsportschulen angerufen«, berichtete Melli’s Mum. »Du könntest in beiden sofort beginnen, aber beide haben, nachdem ich ihnen von deiner Gehirnerschütterung erzählt hatte, abgeraten in den nächsten drei Monaten anzufangen. Der aus der Tae Kwon Doe-Schule würde dich gleich nehmen, das Training aber auf Stretching und Formenlauf beschränken.«

Melli war etwas enttäuscht, auch wenn es Sinn machte.

»Kämpft man beim Tae Kwon Doe auch richtig? Das Judo, was Andi macht, sah richtig langweilig aus. Da habe ich keine Lust darauf.«

Anita Großmann sah sie belustigt an.

»Klar, wenn schon muss es richtig zur Sache gehen. Alles andere würde auch nicht zu dir passen. Ich erkundige mich deswegen, o. k?«

Dazu kam sie aber nicht, denn schon kurze Zeit später läutete es an der HausTür. Tassilo stand in der Tür. In der Hand hielt er Blumen!

»Hi Melli, alles o. k?«, fragte er, während er auf sie zu ging. »Ich habe dir ein bisschen Sommerduft mitgebracht. Ich konnte mir nur den Namen der Blumen nicht merken.«

Melli schüttelte innerlich den Kopf. War das derselbe Tassilo, wegen dem sie tagelang schlechte Laune gehabt und den sie am laufenden Band angemeckert hatte? Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und das passierte ihr mit Tassilo fast dauernd. Unglaublich!

»Gefallen sie dir nicht?«, fragte Tassilo und machte ein besonders geknicktes Gesicht. »Ganz ehrlich, ich finde sie optisch auch nicht überragend, aber rieche mal.«

Er streckte ihr die Blumen hin. Sie hatte solche noch nie gesehen. Und sie dufteten tatsächlich ganz intensiv nach Sommer.

»Du hast recht, die riechen echt irre! Danke. Entschuldige, ich habe, äh, das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Blumen bekomme. Ich muss das erst einmal verdauen, dass du Blumen verschenkst.« Tassilo beugte sich über sie und gab ihr einen sanften Kuss auf den Mund.

»Daran wirst du dich gewöhnen, glaube mir. Außerdem verschenke ich nicht einfach so Blumen. Du bist neben meiner Mutter und Ayla die Erste, der ich damit Freude machen möchte.«

Melli saß etwas hilflos mit ihrem Blumenstrauß in der Hand auf der Couch, als ihre Mum mit zwei Gläsern Früchteshake herein kam.

»Levkojen, oh wie schön! Lass mich einmal daran riechen. Sind die herrlich!«

Frau Großmann war die Begeisterung pur!

»Ich habe schon so oft versucht, diese wundervollen Blumen in unserem Garten anzusiedeln, aber es gelingt mir einfach nicht. Sie werden immer ganz mickrig und gehen dann ein. Ich hole schnell eine Vase mit Wasser, die verdursten ja sonst.«

Und weg war sie.

»Also meine Mum hast du ja echt um den Finger gewickelt, das ist ja der Hammer!«, sagte Melli kopfschüttelnd, als ihre Mum draußen war. Tassilo setzte sich zu ihr auf die Couch.

»Und was ist mit der Tochter? Da ist es mir viel wichtiger.«

Melli runzelte die Stirn.

»Wie, du willst mich nur um den Finger wickeln? Das war’s?«

Sie bemühte sich um einen angesäuerten Gesichtsausdruck.

»Süße, ich will dich mit Haut und Haaren. Das hat mit um den Finger wickeln nichts mehr zu tun. Aber man muss ja irgendwo anfangen, oder?«

Er zwinkerte ihr zu. Melli entspannte sich zusehends bei diesem flapsigen Schlagabtausch. Es machte sie mutig genug, ihn zu fragen, wie es dazu kommen konnte, dass sie ihn so völlig falsch eingestuft hatte. »Ganz ehrlich, ich frage mich, ob du jetzt der echte Tassilo bist und der Tassilo, den ich von der Schule kenne, geschauspielert ist, oder umgekehrt!«

Tassilo sah sie ernst an.

»Die Erklärung ist ganz einfach. Und du wirst sie auch verstehen, denn du machst, wenn man es genau nimmt, genau das Gleiche wie ich. Als meine Schwester eine Hirnhautentzündung durch einen Zeckenbiss bekam, war ich sehr gereizt. Irgendwie fühlte ich mich wohl schuldig. Ayla und ich hatten zusammen auf einer Wiese Federball gespielt und da hat sie vermutlich die Zecke erwischt. Sie wurde sehr krank. Zuerst bekam sie eine Meningitis, das ist eine Hirnhautentzündung. Durch die Meningitis hat sie dann den ersten epileptischen Anfall bekommen. Es war schrecklich. Meine Schwester ist ein unglaublich hübsches Mädchen gewesen. Aber jeder epileptische Anfall hat ihr Gesicht verändert. Die meisten in unserem Alter können nicht nachvollziehen, was das bedeutet. Mein Vater hat uns vor zwei Jahren verlassen, sodass meine Mutter sich um alles kümmern musste. Und ich bin in der ersten Zeit, nachdem mein Vater fort war so viel weg gewesen, wie es nur ging. Bin mit irgendwelchen Leuten abgehangen und war einfach nur ein Arsch!«

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