Seewölfe Paket 6

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Jetzt versuchten sie herauszufinden, wie der Irre hierhergefunden hatte, aber der starrte nur stumpf vor sich hin und reagierte auf keinerlei Fragen. Er war offenbar tatsächlich Engländer, und auch die meisten anderen sprachen Englisch, einige allerdings mit französischem oder italienischem Akzent.

Der Anführer der Kerle war ein großer, knochiger Mann, trotz des grauen Haars noch ziemlich jung, mit einem hageren Wolfsgesicht und steingrauen Augen. Er wurde Jean genannt, manchmal aber auch „Breton“, stammte also wohl aus der Bretagne. Er wirkte ruhig und hart: ein Mann, den nicht nur körperliche Kraft, sondern auch Intelligenz zum Führer erhob.

Dan O’Flynn beobachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen und versuchte, sich einen Reim auf das zu bilden, was sie bisher erlauscht hatten.

Von einem Schatz war die Rede gewesen. Von unermeßlichen Reichtümern, von Maya-Gold, einem verlokkenden Ziel – und von der Unmöglichkeit, die Insel zu verlassen. Die Meuterei gegen den verrückten Kapitän war offenbar nicht der einzige Zwischenfall gewesen.

Als das Schiff im Sturm zu scheitern drohte und bereits Wasser nahm, hatten sich sechs Männer der Besatzung, darunter alle Offiziere, mit der Pinasse davongestohlen und ihre Kameraden im Stich gelassen. Von den sechs war nie wieder eine Spur gesehen worden – und die anderen hatten es nicht geschafft, ihr Schiff zu retten.

Jetzt saßen sie auf dem Eiland im Pazifik fest und konnten nur noch auf ein Wunder hoffen.

Ein Wunder in Gestalt eines Schiffs, wie Dan klar war. Er dachte an die „Isabella“, die ihn und Batuti suchen würde. Bedeuteten die Piraten eine Gefahr für die Seewölfe? Sicher nicht, dachte Dan spontan. Aber er hatte inzwischen gelernt, daß allzu leichtfertige Schlüsse üble Folgen haben konnten.

Auf jeden Fall mußte die „Isabella“-Crew gewarnt werden, wenn sie die Insel anlief. Irgendwie! Dan überlegte, und für einen Augenblick konzentrierte er seine Aufmerksamkeit mehr auf seine eigenen Gedanken als auf die Umgebung.

Batuti mit seinem hellwachen Instinkt spürte die Gefahr eher als der blonde Dan O’Flynn.

Da war etwas!

Ein winziges Geräusch in ihrem Rücken!

Der hünenhafte Neger witterte plötzlich mit jeder Faser, daß sie nicht mehr allein waren. Er nahm die Intensität eines fremden Blicks wie eine Berührung wahr – und mit der Geschmeidigkeit einer großen Raubkatze schnellte er herum.

Der Kerl, der sich zwischen den Felsen aufgerichtet hatte, stieß einen erschrockenen Schrei aus.

Er hatte bereits ausgeholt und schwang das Enterbeil hoch über dem Kopf, aber der unvermutete Anblick des schwarzen Gesichts mit den blitzenden Zähnen und den furchterregend rollenden Augen ließ ihn erstarren. Seine Augen wurden groß vor Schreck, und mit einem neuen, diesmal schrill und hysterisch gellenden Schrei zuckte der Kerl zurück, als der schwarze Herkules auf ihn zuschnellte.

Dan O’Flynn wirbelte herum.

Er sah Batutis gestreckten Körper, das blitzende Enterbeil und den Kerl, der verzweifelt und viel zu spät versuchte, die Waffe niedersausen zu lassen. Batutis schwarzer Krauskopf rammte die Magengrube des Piraten so wuchtig, daß der Bursche wie ein Schilfrohr zusammenknickte. Jäh wurde er nach rückwärts geschleudert. Das Enterbeil mußte er loslassen, da sich die Klinge in eine armdicke Wurzel gebohrt hatte.

Gurgelnd und nach Luft schnappend prallte er zu Boden. Batuti landete über ihm – und ehe der Kerl auch nur einen Finger zu rühren vermochte, schloß er bereits mit der mächtigen Faust des Negers Bekanntschaft.

Dem Piraten war zumute, als habe ihn ein Belegnagel am Kinn getroffen.

Seine Zähne klirrten aufeinander, sein Hinterkopf prallte gegen einen Stein. Er würde mindestens eine halbe Stunde brauchen, bis er sich auf den eigenen Namen besann, aber die beiden Seewölfe wußten nur zu genau, daß ihnen das wenig nutzte.

Jenseits der Buschkette wurde es schlagartig lebendig.

„Pepe!“ brüllte jemand. „Pepe le Moco …“

Schritte trampelten. Schritte, die durch das Buschwerk brachen und sich rasch näherten.

Dan und Batuti hätten ihr Heil in der Flucht suchen und laufen müssen, was ihre Beine hergaben. Aber schmählicher Rückzug war etwas, das sie in der Seele verabscheuten – und sie brauchten ein paar Sekunden, um sich zu diesem nach Lage der Dinge einzig vernünftigen Entschluß durchzuringen.

Ein paar Sekunden zu lange!

„Weg hier!“ zischte Dan.

Seine Fäuste packten den Stiel des Enterbeils und zerrten es mit einem Ruck aus der Baumwurzel. Er wollte sich herumwerfen und Batuti mitziehen, aber da brachen schon die ersten Gegner durch die Büsche.

Fünf, sechs wilde Kerle, mit Dolchen, Schiffshauern, Säbeln und Pistolen bewaffnet. Der Bursche mit dem schulterlangen grauen Haar stürmte voran. Seine Augen funkelten. Eine Sekunde lang geriet auch er aus der Fassung und prallte fast zurück angesichts der wilden schwarzen Schreckensgestalt, die da so plötzlich vor ihm auftauchte. Dann erfaßte sein Blick den reglosen Körper seines bewußtlosen Komplicen.

Das hagere Wolfsgesicht verzerrte sich.

„Pepe!“ brüllte er auf.

Wild schwang er den kurzen, gekrümmten Säbel und holte aus, um Batuti die mörderische Klinge in den Leib zu rennen.

Dan O’Flynn handelte ohne Schrecksekunde.

„Arwenack!“ schrie er gellend, schwang das Enterbeil und stürmte vorwärts. Der Grauhaarige sah die drohende Bewegung aus den Augenwinkeln und wich blitzartig zurück. Dans Hieb ging ins Leere. Gleichzeitig warf sich Batuti gegen ihn und riß ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden.

Ein breitklingiges Entermesser zischte dort durch die Luft, wo Dan O’Flynn eben noch gestanden hatte. Nur eine Armlänge vor seinen Augen prallte es gegen den Felsen.

Wie eine zustoßende Adlerklaue zuckte Batutis Faust vor, und mit einem wilden Kampfschrei schleuderte er das Messer dorthin zurück, wo es hergekommen war.

Einer der Piraten kreischte schrill auf, als sich die Klinge in seinen Oberarm bohrte.

Dan O’Flynn hatte sich bereits am Boden herumgeworfen. Schattenhaft sah er den Grauhaarigen über sich und riß das Enterbeil hoch – gerade noch rechtzeitig, um den Hieb abzufangen, der ihm den Schädel gespalten hätte. Der Säbel klirrte, als er auf den Schaft des Beils traf. Dan hatte die Waffe wuchtig nach oben gerammt. Der Grauhaarige wich zurück. Wie ein Kastenteufel sprang der drahtige blonde Dan O’Flynn auf die Beine.

„Arwenack!“ schrie er.

„Ar-wenack!“ brüllte Batuti, der dem nächstbesten Gegner die Pistole aus den Fingern gefegt hatte.

Für den Piraten war das ungefähr so, als habe eine Steinzeitkeule seine Hand getroffen. Er stöhnte schmerzlich. Eine halbe Sekunde sah er nur noch bunte Funken – und für Batuti reichte das, um den Kerl zu packen und als lebendes Wurfgeschoß in die Linie seiner nachrückenden Kumpane zu schleudern.

Dan O’Flynn drang mit dem Enterbeil auf den Grauhaarigen ein. Aber der Kerl konnte mit dem Säbel umgehen, parierte Hieb um Hieb und wich nur langsam zurück, während sich der Gedanke an all die anderen wie ein glühender Nagel in Dans Gehirn bohrte.

Batuti wütete wie ein Orkan unter den Piraten. Aber die wurden immer mehr, auch ihre Kumpane brachen jetzt durch die Büsche – und Dan brauchte einfach zu lange, um mit dem grauhaarigen Bretonen fertigzuwerden.

Als dessen Säbel unter einem mörderischen Hieb durch die Luft flog, war es zu spät.

Dan wollte den Burschen anspringen, doch im selben Moment trat ihm jemand die Beine weg. Vier, fünf Männer warfen sich von hinten auf ihn. Dan hatte keine Chance. Ein brutaler Tritt traf ihn in die Seite. Als er das Enterbeil hochreißen wollte, setzte ihm jemand den Stiefel auf die Hand. Ein Knie rammte sein Kreuz, Fäuste griffen in sein Haar und preßten ihm das Gesicht auf den Boden. Dan bäumte sich vergeblich auf, und mit dem nächsten Atemzug erstarrte er, als er den nadelscharfen Schmerz im Nacken spürte.

Die Spitze eines Dolchs ritzte seine Haut.

„Weg mit dem Messer!“ fauchte eine Stimme. „Noch eine Bewegung, und der Blonde ist eine Leiche!“

Batuti war gemeint.

Dan hörte ein Stöhnen hilfloser Wut, dann ein helles Klirren – das Entermesser, das der schwarze Herkules fallen gelassen hatte. Sekunden später ertönte ein Klatschen und ein dumpfer Fall, und Dan ahnte, daß einer der Kerle Batuti bewußtlos geschlagen hatte, bevor er sich näher an ihn heranwagte.

Dan O’Flynn lag immer noch mit dem Gesicht am Boden und konnte sich nicht rühren.

Er fluchte innerlich. Und er war einsichtig genug, um vor allem auf sich selbst zu fluchen.

6.

Zehn Minuten später waren Dan und Batuti an Händen und Füßen gefesselt und lehnten im Lager der Piraten an einem der Felsen.

Der grauhaarige Bretone stand vor ihnen. Er hieß Jean Morro, wie sie inzwischen wußten. Den Namen Morro hatte auch der irre Kapitän genannt, als er auf der „Isabella“ versucht hatte, über Bord zu springen. Jetzt war der Verrückte in einen Zustand völliger Apathie gesunken: als habe sich der Haß, der ihn bewegte, bei dem vergeblichen Versuch aufgezehrt, den Anführer der Meuterer umzubringen.

Jean Morros Augen waren hart wie graue Kiesel. Sein Blick wanderte von Dan zu Batuti und bohrte sich in die blauen Augen Dan O’Flynns.

„Wer seid ihr?“ fragte er. „Wie kommt ihr hierher? Da nirgends ein Schiff zu sehen ist, müßt ihr mit einem Boot gelandet sein – oder?“

Dan O’Flynn schwieg.

Er wußte, daß sein Gegner bereits einen Suchtrupp losgeschickt hatte. Die Meuterer brauchten dringend ein Boot, sie wären schon mit einer Nußschale zufrieden gewesen. Dan hätte ihnen sagen können, daß sie sich umsonst bemühten, aber er dachte nicht daran, den Kerlen entgegenzukommen.

 

Jean Morro kniff die Augen zusammen.

„Ihr müßt zu einem Schiff gehören“, sagte er mehr zu sich selbst. „Ausgesetzt hat man euch bestimmt nicht. Ihr seid von Bord abgehauen, nicht wahr? Man wird nach euch suchen!“

Dan antwortete immer noch nicht. In den Augen des Grauhaarigen blitzte es flüchtig auf, dann zog er die Lippen von den Zähnen und lächelte.

„Hör zu, Junge“, sagte er gedehnt. „Ihr könnt bei uns mitmachen. Wir wollen nach Chiapas, zu den Mayas. Da gibt es einen riesigen Goldschatz, den wir uns unter den Nagel reißen werden – genug für uns alle. Wir haben eine Karte, und Jacahiro kennt das Land.“ Er deutete mit dem Kopf zu dem braunhäutigen Mann mit der seltsamen Haartracht, dann starrte er wieder Dan O’Flynn an. „Alles, was wir brauchen, ist ein Kahn, um hier abzuhauen. Verratet uns, wo ihr euer Boot versteckt habt und aus welcher Richtung euer Schiff aufkreuzen wird. Man wird euch garantiert suchen. Ihr könnt mit dem Boot in der Nähe der Insel herumschippern und eure Leute hierherlocken, wenn sie auftauchen. Dafür nehmen wir euch mit nach Chiapas, und ihr erhaltet einen Anteil von dem Schatz. Na?“

Dan spuckte aus.

„Deinen Schatz kannst du dir irgendwo hinstecken“, sagte er wütend.

Morro grinste ausdruckslos. „Hast du Hemmungen, deine Leute in die Falle zu locken? Warum denn? Wenn sie eure Busenfreunde wären, hättet ihr keinen Grund gehabt, von Bord zu verschwinden.“

„Und woher willst du wissen, daß wir abgehauen sind, du hirnrissiger …“

„Vorsicht, mein Junge“, sagte Morro scharf.

„Ich bin nicht dein Junge! Du mußt Läuse im Hirn haben, sonst würdest du nicht solchen Stuß zusammenfaseln. Mit dem Boot herumschippern, um ein Schiff hierherzulocken! Daß ich nicht lache!“

Jean Morro preßte die Lippen zusammen. Wut zuckte über sein Gesicht. Vermutlich wußte er selbst, daß er nach einem Strohhalm griff. Aber die beiden Unbekannten waren nun einmal da, und die Meuterer klammerten sich blindlings an die Hoffnung, daß das eine Chance für sie bedeuten konnte.

Morros Blick wanderte zu Batuti. „Und du? Bist du genauso stur wie der da? Überlege es dir! Ein Haufen Gold für ein paar Auskünfte!“

Batutis Augen rollten.

„Nix Auskünfte“, knurrte er tief in der Kehle. „Du dummy im Schädel! Steck dir Gold an Hut!“

Jean Morro sog scharf die Luft durch die Zähne. Einen Moment sah es so aus, als wolle er sich auf seine wehrlosen Opfer stürzen, dann zuckte er mit den Schultern und lächelte matt.

„Ihr werdet anders reden, wenn ich euch erst einmal eine Weile an den Füßen aufgehängt habe“, versprach er. „Das ist eine äußerst wirksame Methode, um …“

„Verdammtes Affenarsch!“ schrie Batuti aufgebracht. „Ich dich fressen zum Frühstück, wenn du …“

„Pepe, Burgunder“, sagte Morro knapp. „Ihr könnt anfangen.“

Die beiden Angesprochenen grinsten erwartungsvoll. Batuti fletschte die Zähne und schnitt furchterregende Grimassen. Wenn jemand „kleines O’Flynn“ ein Haar krümmte, pflegte der riesige Gambia-Neger zum reißenden Tiger zu werden. Wahrscheinlich wäre er trotz der Fesseln dem Meuterer-Kapitän an die Kehle gesprungen, wenn einer der Kerle Dan angefaßt hätte, aber so weit kam es nicht mehr.

„Jean!“ brüllte plötzlich eine Stimme. „Jean!“

Zweige knackten, irgendwo oberhalb der Mulde brachen Schritte durch die Büsche. Ein Mann kletterte die Felsen hinunter, so hastig, daß er ein paarmal abzurutschen drohte. Stolpernd rannte er durch die flache Mulde und blieb zwischen den anderen stehen.

„Ein Schiff!“ keuchte er. „Mastspitzen! Sie halten auf die Insel zu!“

„Ein Schiff“, wiederholte Jean Morro flüsternd.

Seine Augen begannen zu funkeln. Er starrte dorthin, wo sich jenseits der Felsenbarriere der Pazifik dehnte.

„Sollen sie kommen“, sagte er leise. „Wir werden sie gebührend in Empfang nehmen.“

Wie eine Vision tauchte die Insel aus den Hitzeschleiern.

Hasard stand vorn auf der Back und spähte durch das Spektiv. Sie lagen über Backbordbug am Wind, und zufrieden stellte der Seewolf fest, daß sie das Eiland mit dem nächsten Kreuzschlag erreichen würden.

„Klar zum Wenden!“ befahl er. „Etwas voller halten! Ruder hart über! Anluven!“

Pete Ballie legte Ruder. Die „Isabella“ ging über Stag, die Segel füllten sich wieder. Die Insel lag jetzt genau voraus, und wenig später war sie auch ohne Spektiv zu sehen.

Nichts hatte sich verändert.

Immer noch lag das Wrack auf dem Riff. Ob ein paar von den verstreuten Trümmern nicht von dem zerschmetterten Schiff, sondern vom Beiboot der „Isabella“ stammten, ließ sich beim besten Willen nicht erkennen. Hasard biß die Zähne zusammen. Sein Blick folgte dem Bogen des weißen Schaumstreifens und tastete die Felsenzacken ab, die in unregelmäßigen Abständen die Wasserfläche durchstießen. Die Brandung zeigte, daß das Riff nirgends tief genug abfiel, um eine gefahrlose Einfahrt in die Lagune zu gestatten. Unter Vollzeug rauschte die Galeone auf die Insel zu, und wenig später waren die palmengesäumten Strände und die beiden Felsenkegel zum Greifen nahe.

„Abfallen!“ befahl Hasard. „Wir umsegeln die Insel! Haltet die Augen offen!“

Die Seewölfe hätten diese Aufforderung nicht gebraucht.

Wer Freiwache hatte, stand am Schanzkleid und starrte zum Strand hinüber. Auch die Männer an den Brassen warfen immer wieder Seitenblick zu dem Riff und dem Palmengürtel, und nicht einmal der eiserne Profos dachte diesmal daran, sie deswegen mit sämtlichen Höllenstrafen zu bedrohen.

Daß er nicht fluchte und brüllte, war ein Gradmesser für die gedrückte Stimmung an Bord.

Und es war wirksamer als jedes Geschrei. Ein Profos, der alle zwei bis drei Minuten versprach, jemandem die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch zu ziehen – das hieß, daß die Welt in Ordnung war. Bei einem Edwin Carberry, der nur finstere Blicke um sich schleuderte, zog jeder den Kopf ein und bemühte sich, noch schneller zu arbeiten als gewöhnlich. Unter anderen Umständen hätte Hasard vielleicht gelächelt, aber im Augenblick hatte er nicht den geringsten Sinn für komische Aspekte.

Die „Isabella“ schwenkte elegant nach Steuerbord herum und lief an dem Riff entlang zum östlichen Ende der Insel. Rote Klippen sprangen dort ins Meer vor, auf der Nordseite fiel die Küste steil ab. Nichts war zu sehen. Keine Spur von Dan, Batuti oder dem Irren, keine Spur von dem Beiboot. Die Männer der Freiwache starrten sich vergeblich die Augen aus, und am westlichen Zipfel der Insel ließ Hasard schließlich beidrehen.

Er war überzeugt davon, daß er Dan und Batuti finden würde. Sie konnten sich nur auf diese Insel gerettet haben. An die andere Möglichkeit, daß die beiden längst nicht mehr lebten, wollte der Seewolf nicht denken.

Mit einer unbewußt wilden Bewegung warf er das Haar zurück.

„Beiboot abfieren“, befahl er scharf. „Ferris, Matt, Gary, Smoky und Pete – wir werden hinüberpullen und auf dieser verdammten Insel das Unterste zuoberst kehren.“

7.

Dan O’Flynn knirschte mit den Zähnen.

Seine Handgelenke brannten wie Feuer, die Haut hing in Fetzen. Wieder und wieder rieb er die Stricke über die scharfe Steinkante in seinem Rücken, und neben ihm tat Batuti mit zusammengepreßten Lippen das gleiche.

Viel Hoffnung hatten sie nicht.

Wenn sie es schafften, sich von den Fesseln zu befreien, konnten sie die beiden Wachtposten, die im Camp zurückgeblieben waren, mit Leichtigkeit überwältigen. Im Augenblick kümmerte sich keiner der beiden um die Gefangenen. Pepe le Moco stierte stumpfsinnig vor sich hin: er hatte den Schlag auf den Kopf noch nicht richtig verdaut.

Der zweite Mann, ein drahtiger, finsterer Typ mit nur einem Auge, der Esmeraldo hieß, war zwischen die Felsen geklettert in der Hoffnung, etwas von den Ereignissen mitzubekommen. Aber es würde sicher nicht lange dauern, bis er sich wieder umschaute.

Dan fluchte innerlich, als er die Bewegung sah, mit der sich der Kerl abwandte.

Sein Blick wanderte zu den Gefangenen, und das gesunde Auge funkelte auf. Mit einem Ruck riß er die Radschloß-Pistole aus dem Gürtel und sprang von den Felsen hinunter.

Sein tückisch glitzerndes Auge glitt zwischen Dan und Batuti hin und her, die Waffenmündung vollführte die gleiche Bewegung. Mit einem abfälligen Grinsen holte Esmeraldo aus und kickte Dan die Stiefelspitze zwischen die Rippen.

Batutis schwarzes Gesicht wurde fast grau vor Wut.

Was er schrie, konnte niemand verstehen, da er seine Heimatsprache benutzte. Und was er tat, ging so schnell, daß der Einäugige erst begriff, als es zu spät war.

Geschmeidig wie ein Panther schnellte der schwarze Herkules am Boden herum, zog blitzartig die gefesselten Beine an – und rammte Esmeraldo wuchtig die Absätze in die Magengrube.

Der Pirat flog mit rudernden Armen zurück und landete mit dem Hintern im Wasser des Bachs. Sein Gesicht wurde schmutzig, grün, würgend trennte er sich von seiner letzten Mahlzeit. Dan und Batuti kämpften verzweifelt gegen die Fesseln, aber sie wußten nur zu gut, daß sie keine Chance hatten.

Der zweite Pirat war froh, daß sie ihm einen Anlaß boten, sich für die Beule an seinem Kopf zu rächen.

Er fing es vorsichtiger an als sein Kumpan. Mit dem langen, handlichen Holzknüppel konnte er zuschlagen, ohne sich in die gefährliche Reichweite des hünenhaften Negers zu begeben. Batuti wurde zweimal am Kopf und einmal im Nacken getroffen, bevor er endlich die Augen verdrehte.

Pepe le Moco grinste triumphierend, während er den Knüppel sinken ließ und statt dessen die Pistole aufhob, die Esmeraldo entfallen war.

Der Einäugige spuckte immer noch. Pepe warf ihm einen verächtlichen Blick zu, dann grinste er Dan O’Flynn an.

„Schön ruhig, Kleiner! Ich …“

„Der Teufel ist dein Kleiner!“ fauchte Dan erbittert.

„Rotzfrech bis zum letzten!“ Pepe lächelte mit der satten Selbstzufriedenheit dessen, der seiner Rache sicher ist. „Die große Klappe wird dir noch vergehen, Bürschchen! Dich und den Nigger nehmen wir nämlich mit, wenn wir hier abhauen. Damit ihr euren Freunden nichts von Chiapas und dem Maya-Gold singen könnt. Und dann müßt ihr natürlich arbeiten, wenn ihr was zu fressen haben wollt. Bis euch das Wasser im Hintern kocht und die Zunge aus dem Hals hängt, Freundchen! Was glaubst du, wie ich mich darauf freue?“

„Wenn du dich nur nicht zu früh freust! Die ‚Isabella‘ kriegt ihr nicht, ihr dämlichen Hunde. Die Crew wird euch in kleinen Häppchen an die Haie verfüttern. Und dir reiße ich persönlich die Ohren ab, du Enkel eines triefäugigen, dreimal um die Großrah gewickelten Bilgengespenstes, du verlauster, stinkender Hurenbock …“

Weiter gelangte Dan nicht.

Bis zu diesem Augenblick hatte Pepe le Moco mit staunenden Augen zugehört, weil ihm die Hälfte der herzerfrischenden Flüche neu war, jetzt drang mit leichter Verspätung das Ausmaß der Beleidigungen in sein Bewußtsein. Berstende Wut überwog die Neugier darauf, wie es weiterging, und blitzartig riß er mit der Linken den Holzknüppel hoch.

Dan O’Flynn konnte nicht mehr ausweichen.

Er wurde am Kopf getroffen. Mit voller Wucht. Und das war sogar für den Dickschädel eines O’Flynn zu fiel.

Zwei Sekunden lang flimmerte ein prachtvoller bunter Funkenregen vor Dans Augen, dann sah er für eine Weile überhaupt nichts mehr.

Der zertrümmerte Boot hing so zwischen den Felsen des Riffs fest, daß es von Bord der „Isabella“ nicht gesehen werden konnte.

Vom Strand der Bucht aus entdeckten es die Seewölfe sofort. Hasard blieb stehen und spähte aus zusammengekniffenen Augen hinüber. Das Boot war Kleinholz und bestand nur noch aus einem Plankenstück mit zwei dranhängenden Duchten. Wer im Augenblick des Aufpralls noch auf diesen Duchten gesessen hatte, mußte zumindest schwer verletzt worden sein.

Hasard nahm an, daß Dan und Batuti nicht so dämlich gewesen waren, sich mit der Nußschale auf die Felsen schmettern zu lassen. Ein Riff ließ sich auch bei Sturm und Dunkelheit erkennen. Und ein Schwimmer hatte durchaus die Chance, durch eine der Lücken in der Felsenbarriere die Lagune zu erreichen. Der Seewolf sah sich um, genau wie die anderen. Aber Spuren waren in dem trockenen, von der auflandigen Brise geglätteten Sand längst nicht mehr zu erkennen.

 

Ferris Tucker wischte sich das schweißnasse rote Haar aus der Stirn.

„Quer durchs Dickicht sind sie bestimmt nicht gegangen“, stellte er fest. „Das ist die reine Hölle!“

Hasard zuckte mit den Schultern. Jetzt, da die Sonne fast im Zenit stand, schien jenseits des Palmengürtels tatsächlich die Luft zu kochen. War das am frühen Morgen, als der Sturm abflaute, auch schon so gewesen?

Hasard nahm an, daß Dan und Batuti versucht hatten, auf einen der Felsenkegel zu klettern, um sich einen Überblick zu verschaffen. Aber vielleicht gab es von der Welt- oder Ostseite her einen anderen Weg, der nicht durch das Dickicht führte.

„Versuchen wir’s doch durch die Klippen da drüben“, schlug Pete Ballie vor. „Ich habe da eine Art Hohlweg gesehen. Und weiter oben wird der Wald dann sicher lichter.“

Auch er erinnerte sich an den Einschnitt im Gelände, an dem sie vorbeigesegelt waren. Ein paar Minuten später hatten sie ihn wiedergefunden: eine schmale, ansteigende Schlucht, eine Art Klamm, die zwischen den roten Felsen aufwärts führte. Hasard ging voran. Ferris Tucker, Matt Davies, Gary Andrews, Smoky und Pete Ballie folgten ihm dichtauf.

Das Rauschen der Brandung drang nur noch schwach zu ihnen, ab und zu unterbrachen die kreischenden Schreie der Seevögel die Stille. Einmal glaubte Hasard, über sich in den Felsen ein Geräusch zu hören, ein leises Scharren, aber er war seiner Sache nicht sicher.

„Scheißhitze“, knurrte Ferris Tukker nach ein paar Minuten.

„Die Steine werfen die Hitze zurück.“ Pete Ballie grinste und berührte flüchtig mit seiner mächtigen Pranke die Felswand. „Ohne Stiefel würden wir uns glatt die Füße verbrennen. Ich wette, der Kutscher könnte hier Eier braten oder …“

„Vorsicht!“ schrie Hasard in derselben Sekunde.

Er hatte die Bewegung schräg über sich gesehen. Hochschnellende Schatten, Steine, die durch die Luft flogen. Mit einem Satz warf sich der Seewolf zur Seite, riß Ferris Tucker mit, aber die anderen schafften es nicht mehr, schnell genug auszuweichen.

Ein Steinhagel prasselte in die Schlucht hinunter.

Matt Daviel brüllte auf, als ihm einer der Brocken ins Kreuz krachte. Smoky wurde am Kopf getroffen, warf die Arme hoch und klappte lautlos zusammen. Hasard rollte herum und griff nach der sächsischen Reiterpistole in seinem Gürtel. Neben ihm schnellte Ferris Tucker hoch. Seine Faust schloß sich um den Stiel der riesigen Zimmermannsaxt. Im nächsten Augenblick wurde es auch auf der anderen Seite der Schlucht lebendig.

Diesmal reagierte selbst der Seewolf nicht schnell genug.

Er sah Ferris stürzen, fühlte einen mörderischen Schlag an der Schulter und fiel nach vorn. Instiniktiv riß er beide Arme hoch, um seinen Kopf zu schützen. Ein paar Sekunden hatte er das Gefühl, daß die halbe Insel über ihm zusammenstürzte, dann hörte er das wilde Triumpfgeschrei der unbekannten Angreifer.

Von beiden Seiten kletterten sie über die Felsen, mindestens ein Dutzend Männer.

Die Seewölfe waren zu sechst. Normalerweise hätten sie es spielend mit der doppelten Anzahl von Gegnern aufgenommen. Aber jetzt lagen Ferris Tucker, Matt Davies und Smoky bewußtlos am Boden, Gary Andrews versuchte vergeblich, sich aufzurappeln, Hasard war zumute, als habe er sich jeden Knochen im Leib gebrochen – er wußte verdammt genau, daß es aus dieser Falle keine Flucht mehr gab.

Es war ohnmächtige Wut, die ihn den erstbesten der Kerle anspringen ließ wie ein Tiger.

Der Bursche schwang einen Säbel in der Faust, aber ehe er ihn auch nur hochreißen konnte, war der schwarzhaarige Hüne mit den eisblauen Augen schon dicht bei ihm und schmetterte ihm eine stahlharte Faust an den Kiefer. Der Säbelschwinger kippte stumm um. Hasard hatte die Pistole fallen lassen, weil er nicht wollte, daß seine Männer zusammengeschossen wurden. Er wirbelte herum und griff zum Degen, doch im selben Augenblick drangen vier, fünf Angreifer gleichzeitig auf ihn ein.

Er schaffte es, einen der Kerle zu packen und so herumzuschleudern, daß zwei weitere umgesäbelt wurden. Gegen den dritten, der sich von hinten mit einem Holzknüppel anschlich, war kein Kraut gewachsen. Hasards harter Schädel überstand den Hieb, doch er konnte nicht verhindern, daß er nach vorn fiel. Zum zweitenmal traf ihn der Knüppel, diesmal in den Rücken – und dann schlugen die Kerle wie eine Woge über ihm zusammen.

Er war der einzige, der noch kämpfte.

Aber gegen die Übermacht von zwölf Männern konnte selbst ein Seewolf nichts ausrichten. Er ging mit fliegenden Fahnen unter – und es dauerte immerhin noch fünf Minuten, bis es den Kerlen endlich gelang, ihn bewußtlos zu schlagen.