Behemoth

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Der Ministerrat ist in praktisch allen Fällen der normale Gesetzgeber. Seine Anordnungen haben Gesetzeskraft und bedürfen nicht der Gegenzeichnung durch den Führer, denn er halte sich, wie die Frankfurter Zeitung (10. Januar 1941) schreibt, im Krieg oft in seinen Hauptquartieren außerhalb der Hauptstadt auf. Der Ministerrat regelt alle Angelegenheiten, die direkt oder indirekt mit der Verteidigung des Staates zusammenhängen. Diese Klausel schränkt natürlich in keiner Weise seine Autorität ein.

Die Verordnungen des Ministerrates können sich freilich nicht auf alle Einzelheiten erstrecken. Im ordentlichen wie im vereinfachten Gesetzgebungsverfahren sind die Einzelheiten gewöhnlich Durchführungsbestimmungen vorbehalten, die der jeweils zuständige Minister verkündet. Eine ähnliche, aber weitergehende Machtbefugnis ist mit den Durchführungsvorschriften verbunden, die zum Zwecke der Ausführung oder Weiterführung gesetzgeberischer Akte des Ministerrates erlassen werden können.

Die Generalbevollmächtigten für Wirtschaft und Reichsverwaltung sowie der Beauftragte für den Vierjahresplan (Göring) können, jeder in seinem Kompetenzbereich, aber mit Zustimmung der beiden anderen und des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, Durchführungsverordnungen erlassen, die – und dies ist der neue Schritt – sogar von bestehenden Gesetzen abweichen dürfen. Die Autorität der Generalbevollmächtigten ist damit weit größer als die der Ministerialbürokratie, welche die Durchführungsverordnungen normalerweise formuliert. Als ein Ergebnis haben die Generalbevollmächtigten das Strafgesetzbuch und das Zivilprozeßrecht geändert.

Aber selbst mit dieser Entwicklung ist der Prozeß der Konzentration der Gesetzgebungsgewalt noch nicht beendet. Ein Führererlaß vom Januar 1941 ermächtigte den Reichsmarschall, selbständig alle Rechtsvorschriften und Verwaltungsanweisungen zu erlassen, die er für den Luftschutz für notwendig erachtet. Diese Ermächtigungsverordnung geht weiter als alle bisher gekannten.

Dem Führer stehen somit folgende Gesetzgebungsbefugnisse zur Verfügung:

1 Seine direkten Gesetzgebungsakte, entweder in Form eines Gesetzes, einer Verordnung oder eines Erlasses. Von der letztgenannten Form wird in zunehmendem Maße Gebrauch gemacht, wie bei der Eingliederung von Eupen-Malmedy und Moresnet in das Reich und der Ernennung von Reichskommissaren für Norwegen und die Niederlande. Ein weiteres Beispiel ist die Erweiterung des Vierjahresplanes. Die direkte Gesetzgebungstätigkeit des Führers hat sich jedoch vermindert.

2 Die vereinfachten Gesetzgebungsakte der Reichsregierung, gestützt auf das Notverordnungsgesetz von 1933; sie sind im Krieg praktisch aufgegeben worden.

3 Reichstagsgesetze; von diesen ist seit 1936 kein Gebrauch mehr gemacht worden, doch lassen sie sich für propagandistische Zwecke wieder einsetzen.

4 Die Volksabstimmung; ein weiteres Propagandawerkzeug.

5 Die Gesetzgebungsgewalt des Ministerrates für die Reichsverteidigung, des normalen Gesetzgebers.

6 Verordnungen des Triumvirats der Generalbevollmächtigten, zum Teil Durchführungsbestimmungen zur Verwirklichung von Gesetzgebungsakten des Ministerrates, zum Teil darüber hinausgehende Verordnungen. In diese Sparte fällt die Verordnungsbefugnis des Beauftragten für den Vierjahresplan.

7 Die Gesetzgebungsbefugnisse des Reichsmarschalls für den Luftschutz.

8 Die den Reichsministern in ihrem jeweiligen Kompetenzbereich übertragene Gesetzgebungsgewalt, die sich auf besondere Ermächtigungen stützt, und natürlich die große Zahl anderer Fälle von delegierter Gesetzgebung.

Die Konzentration der politischen Macht beschränkt sich nicht auf die höchste Ebene, sondern ist auch auf die Bezirksebene ausgedehnt worden. Eine Verordnung des Ministerrats vom 1. September 1939 bestimmte 18 Reichsverteidigungskommissare mit Sitz am Ort der 18 Wehrkreiskommandos. Sie sind die Vollzugsorgane des Ministerrates auf Bezirksebene. Ihre Aufgabe ist die Vereinheitlichung der zivilen Verteidigung. Sie verfügen nicht über einen eigenen Apparat, sondern müssen sich der vorhandenen Maschinerie der Oberpräsidenten (in Preußen), der Reichsstatthalter oder der Länderministerien bedienen, je nachdem, wo das Wehrkreiskommando seinen Sitz hat. Die Reichsverteidigungskommissare sind damit die obersten Verwaltungsbeamten in den Wehrkreisen, ermächtigt, sämtlichen Verwaltungsbehörden in ihrem Amtsbereich – außer in Ausnahmefällen – Weisungen zu erteilen. Ihre Bevollmächtigten, die in der Praxis häufig die eigentliche Arbeit leisten, sind die Chefs jener Verwaltungsbehörden, von denen die Reichsverteidigungskommissare zur Erledigung ihrer Aufgaben Gebrauch machen. Diese Regelung bedeutet die völlige Zerstörung der überkommenen hierarchischen Struktur des deutschen Beamtentums und ist zugleich ein Zeugnis dafür, daß die Notwendigkeit einer leistungsfähigen Verwaltung höher geschätzt wird als traditionelle Begriffe und Wertvorstellungen. Um ein Beispiel zu geben: Der Reichsverteidigungskommissar Nummer XII für das Wehrkreiskommando mit Sitz in Wiesbaden bedient sich zur Erfüllung seiner Aufgaben des Amtes des Regierungspräsidenten in Wiesbaden. Sein Bevollmächtigter ist demnach von Rechts wegen der Regierungspräsident. Normalerweise ist dieser Regierungspräsident der Untergebene des Oberpräsidenten, aber als Bevollmächtigter des Reichsverteidigungskommissars steht er tatsächlich über seinem Vorgesetzten.

Gemäß einer weiteren Verordnung des Ministerrates vom 22. September 1939 können die Verteidigungskommissare besondere Beauftragte für bestimmte Gebiete bestellen.

Zum gleichen Zeitpunkt wurden 18 Reichsverteidigungsausschüsse zur Unterstützung der Reichsverteidigungskommissare gebildet. Ihnen gehören die Reichsstatthalter, die Gauleiter, die Oberpräsidenten, die Ministerpräsidenten und Minister der Länder, die höheren SS-Führer, die Regierungspräsidenten, die Reichstreuhänder der Arbeit, die Landesarbeitsamtspräsidenten und andere Männer an, die als Mitglieder berufen werden können. Die Funktion dieser Ausschüsse ist rein beratender Natur.

Der Krieg hat mithin den totalitären Staat zu seiner vollen Entwicklung gebracht. Die politische Macht liegt ausschließlich beim Ministerrat für die Reichsverteidigung.

Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges wurden die durch Verwaltungsgerichte auferlegten Beschränkungen weitgehend aufgehoben. Durch Führererlaß vom 28. August 1939 wurde die Vereinfachung der Verwaltung zum Tagesordnungspunkt Nummer 1 erhoben. Unter dieser irreführenden Bezeichnung wurden die Einschränkungen der autoritären Macht der Verwaltungsbehörden weitgehend beseitigt. In Verwaltungsverfahren des Reiches, der Länder, der Gemeinden und der öffentlichen Körperschaften wurde das Recht der »weiteren Beschwerde« beseitigt. An die Stelle der Anfechtung einer Verfügung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren trat die bloße Beschwerde bei der vorgesetzten Verwaltungs- oder Aufsichtsbehörde. Nur dann, wenn die untere Beschwerdebehörde eine Anrufung des höheren Verwaltungsgerichts zuläßt, kann ein verwaltungsgerichtliches Verfahren erfolgen.

Die am 6. November 1939 erlassene zweite Verordnung über die Vereinfachung der Verwaltung hob einfach alle unteren Verwaltungsgerichte auf, und eine weitere Verordnung vom 26. September 1939 beseitigte die untersten Verwaltungsbehörden in den Verwaltungsbezirken. Gemäß dem Führererlaß wurden die öffentlichen Körperschaften schlicht zu Organen des Staates. Sie werden nun nicht nur vom Staat beaufsichtigt, sondern sind zum untrennbaren Bestandteil des Verwaltungsapparates geworden. Die Reichsbehörden können sie nach freiem Ermessen auflösen. Nur die Partei und die ihr angeschlossenen Verbände sind von dieser Möglichkeit ausgenommen.

Ein Erlaß vom 3. April 1941 begründete ein neues Reichsverwaltungsgericht. In ihm sind das preußische Verwaltungsgericht, das frühere österreichische Verwaltungsgericht, der frühere Reichsdienststrafhof und andere zusammengefaßt. Seine Mitglieder werden vom Führer ernannt, können aber am Ende jeden Jahres in andere Ämter versetzt werden. Außerordentliche Mitglieder, deren Aufgabe die Behandlung von Sonderproblemen ist, können für befristete Zeiträume vom Reichsinnenminister bestellt und selbst Außenseiter dürfen ernannt werden. Das neue Reichsverwaltungsgericht ist folglich keine unabhängige Instanz, und die Richter genießen keine garantierte Unabhängigkeit. In Wirklichkeit ist also die Macht des Ministerrates für die Reichsverteidigung und der ihm nachgeordneten Behörden, der 18 Reichsverteidigungskommissionen, völlig unbeschränkt und unbegrenzt. Sie unterliegt keiner institutionellen Kontrolle. Die tatsächliche Realisierung des totalitären Staates ist mithin im gegenwärtigen Krieg so weit gediehen, daß für eine weitere Entfaltung kaum noch Raum sein dürfte.

Doch diese Realität stimmt nicht mit der Ideologie überein. In dem Maße, wie die politische Macht des Staates gewachsen ist, ist die Idee des totalitären Staates verworfen worden.

II. Die Revolte der Partei und der Staat der »Bewegung«

1. Der ideologische Protest gegen den totalitären Staat

Der Anspruch der Partei und der des totalitären Staates stehen offensichtlich in Widerspruch zueinander. Ist der Staat die oberste Gewalt, dann kann die Partei nur einer seiner Arme sein, so wie das Beamtentum oder die Reichswehr, und vielleicht sogar weniger bedeutend als diese. Doch der Sieg des Nationalsozialismus war in erster Linie den Anstrengungen der Partei, ihren politischen Gruppen und angeschlossenen Militärverbänden, Handwerksvereinen, Bauernbünden, ja sogar ihrem Arbeiterflügel zu verdanken. Die Parteifunktionäre hungerten nach Beute und riefen nach den Posten der Beamten, die der Partei größtenteils nicht, oder nur um ihres Vorteils willen statt aus Überzeugung, beigetreten waren; der kleine Mittelstand forderte seinen Anteil an Warenhäusern und Genossenschaften; und die Braunhemden, geführt von Hauptmann Röhm, dürsteten danach, der Reichswehr gleichgestellt zu werden, deren Führer sie verächtlich als »Schreibtischgeneräle« bezeichneten. Alfred Rosenberg, das philosophische Orakel der Partei, war über Baron von Neuraths vorsichtige Außenpolitik ungehalten. Die Unmutsäußerungen nahmen zu. Die Partei versuchte, der Unzufriedenheit ein Ende zu setzen, indem sie einen großangelegten Propagandafeldzug startete und ihm mit den drohenden Konzentrationslagern Nachdruck verlieh. Aber die von den Braunhemden angeführte Rede von der zweiten Revolution verstummte nicht, und aus dem allgemeinen Murren war ein unheilverkündendes Grollen deutlich herauszuhören. Die Braunhemden, ein Heer von entwurzelten Proletariern und kleinen Mittelständlern, waren enttäuscht, als Hitler General von Fritsch zum Nachfolger General von Hammersteins auf dem Posten des Reichswehrchefs ernannte und von Blomberg gestattete, das Kriegsministerium zu behalten. Röhm sah seine ehrgeizigen Pläne vereitelt. Die Spannung nahm zu; es gab dauernde Reibereien zwischen den Braunhemden, dem nationalistischen »Stahlhelm« und der Reichswehr. Die illegalen Eingriffe in die Wirtschaft nahmen ein ernsthaftes Ausmaß an. Am 17. Juni 1934 hielt Vizekanzler von Papen in Marburg seine berühmte Rede, in der er besonders das Recht des Bürgers, das Regime zu kritisieren, hervorhob.1 Hitler entschloß sich, sich seines »Berges« zu entledigen. Das Resultat war das Massaker vom 30. Juni 1934, das den Ereignissen der Bartholomäusnacht von 1572 vergleichbar ist. Die staatliche Autorität hatte ihre Rechte auf blutige Weise wiederhergestellt; die zweite Revolution war tot.

 

Zur gleichen Zeit wurde der Gedanke der Totalität des Staates dennoch über Bord geworfen. Mit einem Artikel im Völkischen Beobachter, dem Zentralorgan der Partei, eröffnete Alfred Rosenberg die Attacke (9. Januar 1934).2 Der totale oder »abstrakte« Staat, so erklärte er, gehört dem liberalistischen Zeitalter an, wo er als technisches Machtinstrument diente. Im Liberalismus stand der Staat über der Nation; seine Vertreter beanspruchten Vorrang vor allen sonstigen Bürgern. »Die Revolution des 30. Januar 1933 ist nun nicht etwa die Fortsetzung des absolutistischen Staates, wieder mit einem neuen Vorzeichen, sondern der Staat wird hier zu Volk und Volkstum in eine andere Beziehung gesetzt wie 1918, aber auch wie 1871. Was sich in diesem vergangenen Jahr vollzogen hat … ist nicht die sogenannte Totalität des Staates, sondern die Totalität der nationalsozialistischen Bewegung. Der Staat ist nicht mehr etwas, was neben dem Volk und neben der Bewegung, sei es als mechanischer Apparat, sei es als herrschendes Instrument, bestehen soll, sondern Werkzeug der nationalsozialistischen Weltanschauung.«

Rosenberg nannte auch klar und deutlich die Gründe, aus denen er die Obergewalt des Staates ablehnte. Die Idealisierung des Staates, so sagte er, bedeutet die Verherrlichung der Staatsbeamten auf Kosten der Bewegung. Er empfahl, mit dem Gerede über den totalen Staat Schluß zu machen, und statt dessen die Totalität der nationalsozialistischen Weltanschauung mit der NSDAP als ihrer Trägerin und dem nationalsozialistischen Staat als ihrem Werkzeug nachdrücklich zu betonen.

Rosenbergs Protestartikel gegen die Obergewalt des Staates stand in vollem Einklang mit seiner langen, Der Mythos des 20. Jahrhunderts genannten Abhandlung, in der er den Staat anprangerte, sich weigerte, vor ihm »im Staube zu liegen« und Hegel kritisierte.3 In Mein Kampf, das lange vor seinem Machtantritt erschien, bringt Hitler ähnliche Gefühle zum Ausdruck, läßt seiner Verachtung für die Weimarer Demokratie vollen Lauf und prophezeit die Ankunft einer neuen Ära. Die Verfassungsrechtler und politischen Theoretiker, die sich in den Jahren 1933 und 1934 als zum Nationalsozialismus bekehrt bezeichneten, unterließen es offenbar, dieses Buch zu lesen, in dem jegliche Forderung des Staates und für den Staat zurückgewiesen wird. Der Staat, sagt Hitler, ist weder ein Begriff der Moral noch die Verwirklichung einer absoluten Idee, sondern der Diener des Volkstums. Er ist kein »Zweck, sondern ein Mittel. Er ist wohl die Voraussetzung zur Bildung einer höheren menschlichen Kultur, allein nicht die Ursache derselben. Diese liegt vielmehr ausschließlich im Vorhandensein einer zur Kultur befähigten Rasse.« An anderer Stelle sagt er: »Der Staat ist ein Mittel zum Zweck. Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen.« Er befähige sie zur besseren Erhaltung ihrer Art. Daher kann »die Güte eines Staates … nicht bewertet werden nach der kulturellen Höhe oder der Machtbedeutung dieses Staates im Rahmen der übrigen Welt, sondern ausschließlich nur nach dem Grade der Güte dieser Einrichtung für das jeweils in Frage kommende Volkstum … Also kann umgekehrt ein Staat als schlecht bezeichnet werden, wenn er, bei aller kulturellen Höhe, den Träger dieser Kultur in seiner rassischen Zusammensetzung dem Untergange weiht.« Aus diesen Gründen lehnt Hitler den unbedingten Gehorsam gegenüber dem Staat ab und bejaht ein biologisches Recht auf Widerstand. »Nicht die Erhaltung eines Staates oder gar die einer Regierung«, so schreibt er, ist »höchster Zweck des Daseins der Menschen, … sondern die Bewahrung ihrer Art. Ist aber einmal diese selber in Gefahr, unterdrückt oder gar beseitigt zu werden, dann spielt die Frage der Legalität nur mehr eine untergeordnete Rolle. Es mag dann sein, daß sich die herrschende Macht tausendmal sogenannter legaler Mittel in ihrem Vorgehen bedient, so ist dennoch der Selbsterhaltungstrieb der Unterdrückten immer die erhabenste Rechtfertigung für ihren Kampf mit allen Waffen … Menschenrecht bricht Staatsrecht.«

Hitler erklärt entsprechend weiter: »Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht … Denn wer nicht bereit oder fähig ist, für sein Dasein zu streiten, dem hat die ewig gerechte Vorsehung schon das Ende bestimmt.«4

Die Theorie ist unverkennbar eine Art von pervertiertem Liberalismus, der sich auf eine biologische Vorstellung vom Naturrecht stützt und dem die Reinerhaltung der Rasse die angeborenen Rechte des Individuums ersetzt. Auch der Liberalismus begreift den Staat als Werkzeug oder Mechanismus; Hitlers Berufung der Vorsehung erinnert an die liberalistischen deistischen Philosophen, welche die Hilfe der Vorsehung als Garantie sozialer Harmonie beschworen. Jedoch sind die Unterschiede gewaltig. Die liberale Lehre hatte staatlichen Schutz ohne Ansehung von Rasse, Glauben oder Klasse versichert. An ihre Stelle ist heute die Doktrin von der Herrenrasse getreten.

Die Doktrin, nach welcher der Staat eine untergeordnete Rolle zu spielen hat, wurde nach dem Blutbad vom 30. Juni 1934 zu neuem Leben erweckt. Der Parteitag vom September 1934 bot Gelegenheit zur Neuformulierung des Verhältnisses von Partei und Staat, und der Führer legte in seinem Aufruf besonderen Nachdruck darauf, daß die nationalsozialistische Revolution eine Sache der Vergangenheit sei.5 Hitler verwarf den Gedanken der permanenten Revolution mit dem Hinweis, sie führe zur Zerrüttung des völkischen, staatlichen und wirtschaftlichen Lebens. Permanente Revolutionen, so führte er weiter aus, sind nichts anderes als Machtkämpfe beutegieriger Politiker. Erfolg ist nicht ohne Stabilität zu erreichen. Die nationalsozialistische Revolution mußte beendet werden, weil das Volk bereits von der nationalsozialistischen Weltanschauung erfüllt und die Reichswehr zu einem auf ewig zuverlässigen Bollwerk des NS-Staates geworden ist. In der soeben zuendegegangenen Phase war es die oberste Aufgabe, die Autorität des Staates zu stärken. Die Aufgabe der Zukunft besteht darin, die Partei und ihre alten Braunhemd- und Leibgarde-Kämpfer zu einer einzigen Gemeinschaft zu verschmelzen, die durch einen feierlichen Eid verpflichtet ist, das ganze Volk zu reinigen, zu mobilisieren und den Glauben an die Partei zu stärken. Eine weitere Rede, die er zum Abschluß des Parteitages hielt, enthielt die bisher aggressivste Kritik an der Theorie des totalitären Staates. Die Partei, so erklärte Hitler, stellt die politische Elite: »Nicht der Staat befiehlt uns, sondern wir befehlen dem Staat!«6

2. Der dreigegliederte Staat

Politische Theoretiker und Verfassungsrechtler, deren konformistische Instinkte geweckt waren, machten sich sogleich daran, die nationalsozialistische Lehre neu zu formulieren. Den entscheidenden Beitrag dazu leistete wiederum Carl Schmitt.7 Das politische Gebäude Deutschlands, so schrieb er, ruht auf einem dreigliedrigen Fundament: Staat, Bewegung und Volk. Der Staat ist der »politisch-statische Teil«, die Bewegung »das politisch-dynamische Element« und das Volk »die im Schutz und Schatten der politischen Entscheidungen wachsende unpolitische Seite« (S. 12). Obwohl Schmitt jeden Versuch, »ein Element gegen die anderen in sophistischer Weise auszuspielen«, ablehnt, enthält das von ihm erstellte Schema doch eine hierarchische Struktur. In der nationalsozialistischen oder faschistischen Tradition rangiert das »Dynamische« (was immer das bedeuten mag) höher als das »Statische« und das Unpolitische niedriger als das Politische. Tatsächlich weist Schmitt in seinem Buch jeden Versuch der Gleichsetzung des Staates mit seiner Bürokratie und Justiz zurück: »Die politisch führende Partei trägt als Organisation der ›Bewegung‹ sowohl den Staats›apparat‹, wie die Sozial- und Wirtschaftsordnung« (S. 14).

Carl Schmitt trifft eine strenge Unterscheidung zwischen seiner Theorie der Dreigliederung des Staates und der dualistischen Theorie des Liberalismus, in der Staat und Gesellschaft einander als zwei getrennte Subjekte gegenüberstehen. In der neuen Theorie besitzt der Staat nicht das Monopol der politischen Entscheidung. Schmitt folgert, daß es nicht mehr der Staat sei, der das politische Element bestimmt, sondern umgekehrt der Staat vom politischen Element, das heißt der Partei, bestimmt werde.

Das genaue Verhältnis von Staat und Bewegung bleibt freilich ungewiß. Obwohl unlösbar mit dem Staat verbunden, ist die Partei nicht identisch mit ihm. Sie gibt dem Staat Anweisungen, handelt aber nur durch ihren Führer. Führertum seinerseits darf nicht mit Oberaufsicht, Befehlsgewalt, Diktatur oder bürokratischer Herrschaft verwechselt werden. Die Rolle, die das Volk dabei zu spielen hat, ist noch unklarer. Per definitionem ist das Volk der unpolitische Teil, das heißt, es hat keinen Einfluß auf das Zustandekommen politischer Entscheidungen. Doch wurde dieser Teil der Schmittschen These nicht akzeptiert; denn seine eindeutige Folgerung, das Volk sei nur dazu da, regiert zu werden, löste leidenschaftliche Proteste aus. Schmitt wurde entgegengehalten, daß das Volk nicht unpolitisch, sondern politisch ist, daß es die Urkraft ist, von der alle Individuen ihre Recht herleiten. »Die politische Totalität des Nationalsozialismus ist gegründet auf eine alldurchdringende politische Idee, getragen von einem in sich geschlossenen politischen Volk, verwirklicht durch eine einzigartige politische Bewegung, und sie erhält Gestalt in der lebendigen, dauernden Form des Staates.«8

Wie wir sehen werden, ist der Nationalsozialismus stolz darauf, das Volk in den Mittelpunkt seiner sozialen und politischen Ideologie gestellt zu haben. Carl Schmitts Dreigliederungstheorie wurde mit einer bezeichnenden Korrektur beibehalten: das Volk wurde zum Bestandteil der politischen Struktur erklärt. Wie das Volk politisch handeln könne, ist nicht dargelegt worden; lediglich die Führung der »Bewegung« wurde berücksichtigt.

Unzählige Theoretiker und Pamphletisten traten hervor und nannten das Volk den Urquell des Staates, aber keiner von ihnen war in der Lage anzugeben, was das Volk als solches leisten könne, zumal der Führer nicht an Plebiszite gebunden ist. An die Stelle jeder rationalen Diskussion des Problems trat schlechte Metaphysik.

3. Partei und Staat

Die Aussagen der nationalsozialistischen politischen Theorie zum Verhältnis von Partei und Staat sind gleichermaßen vage. In seiner Rede auf dem Parteitag von 1935 versuchte Hitler persönlich eine Definition: »Staatsaufgabe«, so sagte er, »ist die Fortführung der historisch gewordenen und entwickelten Verwaltung der staatlichen Organisationen im Rahmen und mittels der Gesetze. Parteiaufgabe ist: 1. Aufbau ihrer inneren Organisation zur Herstellung einer stabilen, sich selbst forterhaltenden ewigen Zelle der nationalsozialistischen Lehre. 2. Die Erziehung des gesamten Volkes im Sinne der Gedanken dieser Idee. 3. Die Abstellung der Erzogenen an den Staat zu seiner Führung und als seine Gefolgschaft. Im übrigen gilt das Prinzip der Respektierung und Einhaltung der beiderseitigen Kompetenzen.«9 Damit sind wir genau da, wo wir vorher waren, denn es ging ja gerade darum, präzise zu definieren, wo die Kompetenz des Staates endet und die der Partei beginnt.

 

Einparteistaaten weisen drei Typen des Verhältnisses von Partei und Staat auf. In Italien ist die Partei in den Staat »eingegliedert«; sie ist ein Organ des Staates, eine »Staatspartei«. Sowjetrußland gibt der Partei volle Befehlsgewalt über den Staat; die periodischen Säuberungen zielen zu einem beträchtlichen Teil darauf ab, die Anhäufung autonomer politischer Macht in den Händen der Staatsbürokratie zu verhindern. Der deutsche Typ liegt etwa in der Mitte zwischen den beiden anderen und ist schwer zu analysieren. Die Analyse muß aber geleistet werden – nicht so sehr, um die Neugier von Verfassungs- und Verwaltungsrechtlern zu befriedigen, sondern um die Grundprobleme: bei wem liegt die politische Macht, und wie stark haben die nationalsozialistischen Ideen Armee und Beamtentum durchdrungen, zu klären.10

Beginnen wir unser Bemühen um Klärung mit einer Analyse der einschlägigen Praxis in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Die verfassungsrechtliche Grundlage des Verhältnisses Partei-Staat ist das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« vom 1. Dezember 1933, das seine Ergänzung in der Führerverordnung vom 29. März 1935 findet. Diesem Gesetz zufolge ist die Partei »die Trägerin des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staat unlöslich verbunden«. Sie wurde zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gemacht, ihr Statut ist vom Führer zu erlassen. Zur organisatorischen Zementierung dieser Einheit wurden Heß, der Stellvertreter des Führers, und Röhm, damals Chef der Braunhemden, zu Mitgliedern der Reichsregierung ernannt. Dasselbe Gesetz unterstellte die Mitglieder der NSDAP und die Braunhemden einer besonderen Partei- und SA-Gerichtsbarkeit. Das Einheitsgesetz war der logische Schlußpunkt unter alle jene Gesetzesmaßnahmen, die die konkurrierenden politischen Parteien zerschlagen hatten: die polizeilichen Bestimmungen der Notverordnung des Reichspräsidenten vom 28. Februar 1933; das Gesetz vom 26. Mai 1933 zur Beschlagnahmung des sozialdemokratischen Vermögens; die vom preußischen Innenminister am 23. Juni 1933 unterzeichnete Verordnung, die sämtliche Aktivitäten der Sozialdemokratischen Partei, ihrer Vertreter im Reichstag, in den Landtagen, in den Bezirks-, Kreis- und Gemeindevertretungen verbot; das Verbot der nationalistischen Kampfringe (1. Juni 1933) ; die freiwillige Auflösung der Deutschnationalen Volkspartei (27. Juni 1933), der Bayrischen Volkspartei (4. Juli 1933) und der katholischen Zentrumspartei (5. Juli 1933). Alle diese Maßnahmen kulminierten in dem Gesetz vom 14. Juli 1933, das die Neubildung von Parteien verbot und jeden Versuch der Wiederbelebung oder Neugründung einer anderen als der Nationalsozialistischen Partei mit Zuchthaus oder Gefängnis bedrohte.

Wörtlich genommen unterscheidet sich das Gesetz kaum von dem italienischen Gesetz von 1932, welches das Verhältnis zwischen der National-Faschistischen Partei und dem italienischen Staat regelt. Es stellt die Partei nicht über andere öffentliche Körperschaften wie Kirchen, Gemeinderäte oder Behörden, die Krankenversicherungsgelder verwalten. Nach deutschem Staatsrecht ist die öffentliche Körperschaft nur eine bedingt freie Einrichtung. Es gibt ihm zufolge keiner Körperschaft des öffentlichen Rechts, die nicht vom Staat beaufsichtigt wird.11 Ihre Aufgaben sind gesetzlich eindeutig festgelegt, das Maß ihrer Autorität ist streng begrenzt, und ihre Tätigkeit unterliegt der Kontrolle von Verwaltungsgerichten und anderen Behörden. Faktisch besitzen Körperschaften des öffentlichen Rechts im modernen Staat keine generelle Unabhängigkeit. Jede einzelne bezieht ihre Macht als vom Staat delegierte; einige Theoretiker hat diese Tatsache ganz folgerichtig dazu veranlaßt, den Begriff der Unabhängigkeit als mit dem Rechtssystem des modernen Staates unvereinbar abzulehnen. Wenn wir die Partei als öffentlich-rechtliche Körperschaft beschreiben, heißt dies, daß Aufgaben und Autorität der Partei gesetzlich umrissen sind, und daß ihre Aktivitäten vom Staat überwacht werden. Die Partei stünde demnach auf derselben Ebene wie jede andere relativ unabhängige staatliche Institution.

Derlei Erwägungen schienen indes nicht mit der Behauptung, die »Bewegung« repräsentiere und führe den Staat, übereinzustimmen. Folglich wich die Verfassungs- und Rechtstheorie (und -praxis) von dem Wortlaut des Einheitsgesetzes von 1933 ab und formulierte es so um, daß die Partei völlig unabhängig vom Staat wurde und sogar über ihm stand.12 Die tatsächliche Entwicklung des Verhältnisses von Partei und Staat zeigt an, daß der Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts hier nicht anwendbar ist. Die Partei wirkt nicht nur in Sachen Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz mit, sondern sie nimmt eine dem Staate übergeordnete Stellung ein. Das gilt ganz besonders für die SS und die Hitlerjugend.

4. SS und Hitlerjugend

Die SS, der »Eliteorden«, ist eine Polizei und folglich der Staat in seiner wichtigsten innenpolitischen Funktion. Sie dient als Schutzpolizei und stellt Personal für die Geheime Staatspolizei. Seit ihrer Gründung im Jahre 1925 und ihrer Erweiterung 1929 bildet die SS eine geschlossene Gruppe, die nach ihren eigenen Gesetzen lebt. Die Auswahl ihrer Mitglieder erfolgt primär nach biologischen Prinzipien, wie sie der »Saatzüchter« anwendet; der Zweck ist »die Auswahl derjenigen, die körperlich dem Wunschbild, dem nordisch-bestimmten Menschen nahekommen«.13 Die bestimmenden Elemente der Ideologie ihrer Mitglieder sind Glaube, Ehre und bedingungsloser Gehorsam. Ihr Elitebewußtsein wird in einer Verordnung vom 9. November 1935 bekräftigt, die jeden SS-Mann berechtigt und verpflichtet, seine Ehre mit der Waffe zu verteidigen. Derselben Verordnung zufolge muß er mindestens 21 Jahre alt sein, eine Lehrzeit von 18 Monaten ab leisten, seinem Führer einen Eid schwören und seinen Arbeits- und Wehrdienst hinter sich haben. Mit dem Empfang seines SS-Dolches ist er endgültig aufgenommen. Die der SS zugebilligten Privilegien wurden vom Reichsgericht noch erweitert. Der § 53 des Strafgesetzbuches gestattet dem gewöhnlichen Bürger Waffengebrauch nur in Notwehr, aber eine Gerichtsentscheidung bestimmte, daß SS-Männern der Gebrauch ihrer Waffe selbst dann erlaubt ist, wenn der Angriff mit anderen Mitteln abgewehrt werden könnte. »Der Träger der SS-Uniform kann den Volksgenossen nicht das Schauspiel einer öffentlichen ›Balgerei‹ bieten. Das ist mit dem Ansehen der SS-Uniform unvereinbar.«14

Eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung vom 26. Mai 1939 definiert die SS im Verhältnis zur Polizei.15 Ihre Aufgabe ist die Verteidigung des Staates gegen alle offenen und verborgenen Feinde. Die drei SS-Abteilungen unterscheiden sich jedoch so stark voneinander, daß sie kaum mehr als den Namen gemein haben.16 Die »Allgemeine« SS ist eine reine Parteiorganisation, deren Leitung beim Reichsschatzmeister der NSDAP liegt (er ist auch der Chef der Parteiverwaltung).17 Aus der Allgemeinen SS haben sich zwei Spezialgruppen herausgebildet: die »SS-Verfügungstruppen« und die »SS-Totenkopfstandarten«; beide unterstehen der Kontrolle des Reichsinnenministers.18 Die Parteitruppen stehen dem Staat zur Verfügung, und der Reichsführer der SS (Himmler) ist zugleich Chef der Reichspolizei (Gesetz vom 17. Juni 1936).