Behemoth

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Nach diesen deutschen Volkszugehörigen kommen die Ukrainer, Goralen und Weißrussen, die alle noch bevorzugt behandelt werden. Sie dürfen, wenn sie auch von diesem Recht noch keinen Gebrauch machten, ihre eigene Gerichtsbarkeit einsetzen (Verordnung vom 19. Februar 1940). Ihnen ist sogar erlaubt, ihre Rundfunkgeräte zu behalten. Nach ihnen kommen die Polen, und nach den Polen, am unteren Ende der Stufenleiter, die Juden. Ihr kulturelles, wirtschaftliches, rechtliches und politisches Getto ist, wie in Warschau und Krakau, Schritt für Schritt in ein physisches Getto verwandelt worden. Die deutschen »Judengesetze« gelangen in Polen weitgehend zur Anwendung. Aufgrund einer Verordnung vom 28. November 1939 hat jede jüdische Gemeinde einen »Judenrat« zu bilden, der mit den deutschen Dienststellen zusammenarbeiten muß. Während die Polen lediglich eine »Arbeitspflicht« haben, unterliegen grundsätzlich alle Juden vom 14. bis zum 60. Lebensjahr dem »Arbeitszwang«, einer »nach den Weisungen des Höheren SS- und Polizeiführers« ausgeübten Zwangsarbeit. Sie sind zum Tragen einer weißen Armbinde mit Zionsstern verpflichtet (Verordnung vom 23. November 1939). Ihr Vermögen (1. April 1941) wurde bereits oder wird noch konfisziert.

Drittens schließlich ist der Antisemitismus in Deutschland ein Ausdruck der Ablehnung des Christentums und all dessen, wofür es steht.90 Die antichristlichen Strömungen in Deutschland stammen aus zwei verschiedenen Quellen und gehen in zwei einander entgegengesetzte Richtungen. Die eine lehnt das Christentum ab, weil es christlich ist; die andere, weil es nicht christlich genug ist. Die Freidenkerbewegung wandte sich nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Unhaltbarkeit gegen das Christentum, sondern auch, weil die Kirchen ihrer Auffassung nach die Bergpredigt verraten haben. Die Freidenker setzten nicht Rassenhaß, Führervergötzung oder Terrorismus an die Stelle der christlichen Liebe, Karitas und Brüderlichkeit der Menschen, sondern die Entwicklung einer wissenschaftlich haltbaren, vernünftigen Theorie der Gerechtigkeit und Moral. Der christliche Sozialismus (von Protestanten und Katholiken) in Deutschland hat sich um eine Verbindung von Sozialismus und christlicher Moral bemüht.

Die zweite antichristliche Strömung wendet sich nicht gegen die Kirchen wegen deren scheinbarem Verrat christlicher Prinzipien, sondern verwirft die christlichen Prinzipien selbst, weil sie ihr als unvereinbar mit den besonderen Aufgaben, die Deutschland erfüllen müsse, gelten, oder weil diese Prinzipien die Menschen verkrüppelten und fesselten.

Wie erwähnt bedeutet der religiöse Antisemitismus – und insoweit teile ich die Auffassung von Maurice Samuel – die erklärte Ablehnung der christlichen Moral, beschränkt sich jedoch auf den semitischen Ursprung Christi, da das Christentum zu tief im deutschen Volk verwurzelt ist, und seine Ausrottung eine so gewaltige Aufgabe wäre, daß der Nationalsozialismus sie nur durch einen langen Umerziehungsprozeß bewältigen kann. Der ideologisch stärkste antichristliche Einfluß im deutschen Kaiserreich ging von Nietzsche aus. Aber Nietzsche war kein Antisemit, und jeder Versuch, ihn als solchen abzustempeln, muß am Ende scheitern. Selbst die Nationalsozialisten gaben schließlich zu, daß seine pro-semitischen Äußerungen zu zahlreich seien, als daß man sie übergehen könne.91 Nietzsche geißelte den Antisemitismus als bloßen Neid auf den Geist und das Geld und die Antisemiten als die »neuesten Spekulanten in Idealismus«.92 Nietzsches Werk ist ein überaus machtvoller Angriff auf die Philosophie des 19. Jahrhunderts. Sein Haß richtet sich in erster Linie gegen Christentum, Liberalismus, Demokratie und Sozialismus, das heißt gegen jene Strömungen, die seiner Meinung nach die Versklavung der Menschheit begonnen und vollendet haben. Nach Nietzsche kann nur eine totale »Umwertung aller Werte« die Situation retten. Quelle der neuen Ordnung ist der »Wille zur Macht«. Die alte Ordnung bedeutet ihm die vom Judentum und Christentum, dabei aber weit mehr vom Neuen als vom Alten Testament, verschuldete Versklavung der gesunden und vitalen Instinkte des Menschen. Das Christentum hat die Idee der Gleichheit eingeführt, »hat die Menschheit den Satz von der Gleichheit … religiös stammeln gelehrt«,93 Demokratie ist nichts anderes als säkularisiertes, »das vernatürlichte Christenthum: eine Art ›Rückkehr zur Natur‹«.94 »Das Gift der Lehre ›gleiche Rechte für alle‹ – das Christenthum hat es … ausgesät.«95 »Die ›Gleichheit der Seelen vor Gott‹, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Princip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist, – ist christlicher Dynamit.«96 Der heilige Paulus, Rousseau und der Sozialismus sind allesamt Ausdruck derselben Perversion. »Das Evangelium: die Nachricht, daß den Niedrigen und Armen ein Zugang zum Glück offen steht, – daß man Nichts zu thun hat als sich von der Institution, der Tradition, der Bevormundung der oberen Stände loszumachen: insofern ist die Heraufkunft des Christenthums Nichts weiter, als die typische Socialisten-Lehre.«97

Aber genau so sehr wie Demokratie, Liberalismus, Sozialismus und Christentum lehnt Nietzsche Nationalismus und Imperialismus ab. Er war so fest davon überzeugt, daß Christus die gesunden Instinkte des Menschen verstümmelt habe, daß er seinem Freund Richard Wagner die Oper »Parsifal«, in der dieser zum Christentum zurückkehrte, nie verzieh. Sein Haß auf das Christentum weist, namentlich im »Zarathustra«, sadistische Züge auf. Das Christentum als Negation der Natur ist unnatürlich und daher verachtenswert.

Obwohl Nietzsches Philosophie und die nationalsozialistische Ideologie eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten aufweisen, gibt es doch eine unüberbrückbare Kluft zwischen beiden, denn Nietzsches Individualismus sprengt den Rahmen jeder autoritären Ordnung.

Was immer Nietzsche letztlich bedeutet haben mag – seine Rezeption in Deutschland begünstigte das Aufkommen des Nationalsozialismus.98 Sie lieferte dem Nationalsozialismus einen geistigen Stammvater, der Größe und Scharfsinn besaß, dessen Stil schön und nicht ein Greuel war und dem es gelang, die Ressentiments sowohl gegen den Monopolkapitalismus wie auch gegen das aufsteigende Proletariat zu artikulieren. Besonders die freie Jugendbewegung, die sogenannte Bündische Jugend, lehnte sich gegen die Morschheit der bürgerlichen Kultur, die Selbstgefälligkeit der protestantischen Pfarrer, die traditionellen Formen des Nationalismus, gegen die Herrschaft der Bürokraten und Schreibtischgeneräle, Gewerkschaftsbosse, Industriebarone, Börsenjobber – kurz, gegen die ganze Welt der bürgerlichen Kultur auf. Aber ebenso wie Nietzsche dieser verhaßten Realität und den christlichen Lehren nichts anderes als einen verfeinerten Naturalismus, eine darwinistische Lehre von der natürlichen Auslese entgegenzusetzen vermochte, so gelang es auch der freien Jugendbewegung, die einen Gutteil nationalsozialistischer Führer stellen sollte, nicht, eine andere Philosophie als einen moralischen und religiösen Nihilismus hervorzubringen – er führt, wie jede nihilistische Bewegung, am Ende dazu, daß jede Macht akzeptiert wird, wenn sie nur stark genug ist, sämtliche Gegner niederzuschmettern. Wieder waren es die Mittelschichten, bei denen Nietzsches Antichristentum den nachhaltigsten Eindruck hinterließ. Der Protest gegen eine Welt, die ihren Ehrgeiz nicht befriedigte und gegen ein Wertsystem, das ihnen moralische Zwänge auferlegte, drückt sich in der antichristlichen und antijüdischen Bewegung aus.

V. Das Großdeutsche Reich

»Lebensraum« und deutsche Monroe-Doktrin

Für einen gläubigen Anhänger rechtfertigt die Rassenlehre die »Befreiung« der Deutschen von fremder Herrschaft und Eingliederung von Gebieten mit überwiegend deutscher Bevölkerung in ein Großdeutschland. Das »völkische Selbstbestimmungsrecht« brachte Danzig, Memel, Oberschlesien, den polnischen Korridor, das Sudetenland und die Provinz Posen »heim ins Reich«. In seinen jüngeren Phasen konnte der Rassismus sogar als ideologische Waffe gegen England und die Vereinigten Staaten dienen, denn nun verkünden die Nationalsozialisten, der neue Weltkrieg sei ein Kampf zwischen einem proletarischen Volk und den plutokratischen Demokratien1.

Aber selbst bei aller Anstrengung der Phantasie kann der Rassismus oder die Lehre des Sozialimperialismus keine Rechtfertigung für Deutschlands »Neuordnung Europas«, die Eroberung zweifellos nichtdeutscher rückständiger Staaten abgeben. Polen, die Tschechoslowakei, Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien sind noch »proletarischer« als Deutschland, und ihre Völker sind weder der Geschichte noch der »Rasse« nach deutsch. Zu ihrer Eingliederung in das Reich bedarf es einer anderen ideologischen Waffe, nämlich der Doktrin vom »Lebensraum«. Hitler selbst erläuterte diesen Begriff am 28. April 1939 in einer Rede vor dem Reichstag. Anlaß war die Friedensbotschaft des Präsidenten Roosevelt, in der dieser die Überzeugung äußerte, alle internationalen Probleme könnten auf friedliche Weise am Verhandlungstisch gelöst werden. Im Punkt 12 seiner Antwort auf das Roosevelt-Telegramm sagte Hitler:

»Meine Antwort: Theoretisch müßte man wirklich glauben, daß dies möglich sein könnte, denn die Vernunft würde ja in vielen Fällen die Berechtigung von Forderungen auf der einen Seite und die zwingende Notwendigkeit des Entgegenkommens auf der anderen ohne weiteres aufweisen. Zum Beispiel: Nach aller Vernunft, Logik und nach allen Grundsätzen einer menschlichen allgemeinen und höheren Gerechtigkeit, ja sogar nach den Gesetzen eines göttlichen Willens müßten alle Völker an den Gütern dieser Welt gleichen Anteil haben. Es dürfte dann nicht vorkommen, daß ein Volk so viel Lebensraum beansprucht, daß es mit noch nicht einmal 15 Menschen auf den Quadratkilometer auskommen kann, während andere Völker gezwungen sind, 140, 150 oder gar 200 Menschen auf derselben Fläche zu ernähren. Auf keinen Fall aber dürften diese glücklichen Völker dann den an sich Leidenden noch ihren vorhandenen Lebensraum beschneiden, ihnen zum Beispiel auch noch ihre Kolonien wegzunehmen. Ich würde mich also freuen, wenn am Konferenztisch wirklich diese Probleme ihre Lösung finden könnten.«2 Seit der Teilung der Tschechoslowakei war »Lebensraum« stets die Hauptparole deutscher Politik. »Der Aufstand des Festlandes«, meint die einflußreiche Frankfurter Zeitung, bestehe im endgültigen Ausschluß Englands aus Europa. Europa sei dabei, sich von der wirtschaftlichen und politischen Hegemonie Englands zu befreien.3 »Lebensraum« ist ein sehr komplizierter Begriff, der wesentliche Änderungen der Bevölkerungspolitik und eine vollständige Revision traditioneller völkerrechtlicher Vorstellungen erfordert. Er leitet seine angeblich wissenschaftliche Gestalt aus der Geopolitik ab, und seine Wurzeln reichen in der deutschen Tradition bis ins Mittelalter zurück.

 

1. Das Erbe des Mittelalters

Eng verknüpft mit dem Gedanken des Lebensraumes ist der Begriff des »Großdeutschen Reichs«. In charakteristischer Weise griffen die Nationalsozialisten diesen Begriff – mit dem ihm eigenen Reiz von Tradition und Romantik – auf und machten ihn zur ideologischen Grundlage ihrer Neuordnung.

Es läßt sich nicht leugnen, daß dieses Schlagwort eine starke Anziehungskraft besitzt. Durch alle Kämpfe der vergangenen sechs oder sieben Jahrhunderte europäischer Geschichte hindurch, haben die Menschen ihre Sehnsucht nach einem geeinten Europa nie aufgegeben, einem unter einer einzigen politischen Führung, aber nicht durch brutale militärische Gewalt und wirtschaftliche Ausbeutung, sondern durch eine gemeinsame Weltanschauung vereinten Europa. Diese Sehnsucht hat sich zu jeder Zeit und in jedem Land anders geäußert; doch ihr grundlegender Reiz hat sich im wesentlichen unverändert erhalten.

Eine der frühesten und tiefsten Äußerungen dieser Sehnsucht findet sich in Dantes Idee einer Kaiserherrschaft, die Ausdruck der humana civilitas wäre.4 Die Menschheit soll eine politische Einheit sein, die auf der bewußten Hingebung des Individuums an diese Einheit beruht, eine gemeinsame Kultur und Weltanschauung umschließt. Die Einheit sollte in einem Kaiser personifiziert sein, der seinen Sitz in Rom hat und dessen Bestreben es ist, Frieden und Ordnung zu schaffen. Er soll die vis coactiva, der Papst die vis contemplativa verkörpern. Unter völlig anderen Umständen suchte Novalis (Friedrich von Hardenberg), der deutsche Dichter um die Wende des 19. Jahrhunderts, einen ähnlichen Ausweg aus den Widersprüchen, Disharmonien und der Enge der realen Welt. In einem wunderschönen Fragment, »Die Christenheit oder Europa«, sah auch er die Möglichkeit für eine geordnete, geeinte Welt in der romantischen Wiedererweckung der mittelalterlichen Idee eines in der Person des christlichen Kaisers verkörperten Universalismus.

Der größte deutsche Dichter zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Stefan George, stellte dasselbe Thema in den Mittelpunkt seines Werkes. Die Tätigkeit des George-Kreises, der großen Einfluß auf die deutsche Kultur der Nachkriegszeit hatte (so zum Beispiel auf die Geschichtsschreibung; die Schule schuf bedeutende Biographien von Cäsar, Shakespeare, Goethe, Napoleon, Nietzsche, Kleist und Friedrich II. von Hohenstaufen), war ein unablässiger Protest gegen die Mechanisierung und Kommerzialisierung des zeitgenössischen Lebens, gegen die bürgerliche Zivilisation mit ihrem Krämergeist und ihren billigen Freuden und Genüssen. Mit Dante und Novalis als ihren anerkannten Vorgängern, träumten die George-Anhänger von der Wiedergeburt eines Reiches, in dem der Universalismus der Kirche und die Autorität des Römischen Reiches miteinander vereint wären. Georges langes Gedicht »Der siebente Ring« idealisiert die Wiederkehr der Zeiten des größten deutschen Kaisers, Friedrich II. von Hohenstaufen.5

All das war Wasser auf die Mühle der Nationalsozialisten. Die Reichsidee geht auf das Heilige Römische Reich zurück, fand ihren neuen Ausdruck in den größten literarischen Werken des modernen Deutschland, und sie beflügelt den »kleinen Mann«. Welche Waffe hätte sich besser und rascher umformen und den Zielen des neuen Reiches anpassen lassen als diese?

Freilich war dieser Schritt äußerst kühn, denn die Reichsidee ist in Wirklichkeit mit dem Nationalsozialismus unvereinbar. Alfred Rosenberg war einmal ehrlich genug, dies auszusprechen. Der Nationalsozialismus, so schrieb er, ist nicht etwa Erbe des Heiligen Römischen Reiches, sondern im Gegenteil Erbe der Kämpfe des deutschen Volkes gegen den Universalismus jenes Reiches.6 Und selbst in seiner Zeit versank das mittelalterliche Reich in einem Labyrinth von Widersprüchen. Es konnte keine Einheit des christlichen Begriffs einer Weltordnung, der Hegemonie des deutschen Kaisers und der demokratischen Bestrebungen italienischer Kommunen geben. Dem päpstlichen Anspruch auf universale Autorität, der in der thomistischen Vorstellung einer in der Universalordnung gipfelnden Hierarchie von Ordnungen wurzelt, setzten die Kaiser die »konstitutionelle« Autorität des alten Roms entgegen. Beide Ansprüche gerieten in Konflikt mit dem römischen Gedanken der Volkssouveränität. Tatsächlich blieb das Heilige Römische Reich als organisierende Kraft einer deutschen Nation, bis auf einige wenige Jahre, nur ein Mythos.7

Der Fall Stefan George liefert ein schlagendes Beispiel für die Unfähigkeit der Nationalsozialisten, diesen jahrhundertealten Konflikt zu lösen. Auf den ersten Blick wirkt George wie ein echter Vorläufer der nationalsozialistischen Ideologie; diese Charakterisierung seines Werkes ist auch allgemein verbreitet. Das Organ des George-Kreises, die »Blätter für die Kunst«, führten einen unablässigen Kampf gegen Naturalismus und Realismus in der Literatur.8 Freilich richtete sich dieser Kampf nicht gegen die verhaßte reale Welt, denn ein solches Vorgehen liefe gerade auf eine Ansteckung durch die Wirklichkeit hinaus. Stattdessen flüchteten sich George und seine Anhänger in das Reich des l’art pour l’art. Das heroische Individuum soll sich selbst, nicht aber die Welt verändern. Es soll auf den Glauben statt auf die Vernunft, stärker auf das Blut als auf den Intellekt, auf die Natur und nicht auf die Gesellschaft bauen9.

Die Verwandtschaft dieser heroischen Gestalt mit nationalsozialistischen Ideen liegt auf der Hand. Mehr noch, es war George, der den Begriff »Drittes Reich« zu neuem Leben erweckte (sein letztes Werk – ironischer Weise eines seiner schwächsten – trägt den Titel »Das Neue Reich«). Allerdings ist der Begriff bei ihm ausschließlich kulturell gemeint. Er enthält nicht die Anerkennung der preußischen Hegemonie in Europa. Auf die entscheidende Probe gestellt, konnte Stefan George den Nationalsozialismus nicht akzeptieren. Er verließ Deutschland und ging in Begleitung eines engen Freundes, des Dichters Karl Wolfskehl, eines Juden, in die Schweiz. Er kehrte nie zurück. Als er 1935 in Locarno starb, nahm er – einem Bericht zufolge – seinen Freunden das Versprechen ab, nicht zuzulassen, daß seine Leiche je in ein nationalsozialistisches Deutschland zurückgebracht werde.

Nach George beschäftigten sich deutsche Schriftsteller in zunehmendem Maße mit dem Gedanken des Dritten Reiches. Moeller van den Bruck schnitt ihn dann auf die Bedürfnisse des neuen deutschen Imperialismus zu.10 Obwohl er darauf beharrt, daß die »Kontinuität der deutschen Geschichte« im Programm des Dritten Reiches nicht vergessen werden dürfe, kann man Moeller van den Bruck nicht direkt in eine Reihe mit den Wiedererweckern der alten Reichsidee stellen. Er war vielmehr der klarste Fürsprecher der neuen Theorie des Sozialimperialismus11.

Mit der Veröffentlichung von Christoph Stedings nachgelassenem Werk »Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur«12 im Jahre 1938 – mit einer Vorrede von Walter Frank, dem Leiter des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands – erfuhr Stefan Georges Begriff vom Dritten Reich eine völlige Umkehrung. Steding war von einem nachgerade pathologischen Haß auf Kultur und »Neutralität« besessen. Sein Buch ist ein Pauschalangriff auf Wissen, Bildung und Intellekt, auf das endlose »Palaver« der Demokratien. Für ihn gibt es nur eine Realität, das Reich, die mächtiger ist als alle Philosophie und Theorie. Jeder Kulturbeitrag, der den Reichsgedanken nicht anerkennt, sei als wertlos und häufig als gefährlich abzulehnen. Und da Steding zufolge die unpolitische Kultur ein fremder Einfuhrartikel der Neutralen ist, müssen diese auch zur Verantwortung gezogen werden. Neutralität bedeutet ihm das Vermeiden von politischen Entscheidungen. Der Neutrale ist der geborene Pharisäer; wie ein Kommissionär protestiert er gegen die Barbarei des Reiches und nimmt zugleich seine eigene »Kultur« zurück. »Es ist nicht tugendhaft (für den Neutralen), fest auf beiden Beinen zu stehen. Tugendhaft ist vielmehr, auf beiden Beinen zu hinken.« (S. 71)

Steding betrachtet in seinem Buch so die ganze europäische Kultur als eine gewaltige Verschwörung gegen das Reich und sein Schicksal. Und diese Reichsfeindschaft sei die Krankheit der europäischen Kultur. Kulturhistoriker – wie der Schweizer Jakob Burckhardt oder der Niederländer Huizinga – sind Reichsfeinde; sie diskutieren mit dem gleichen Ernst über Tischsitten wie über die Geschichte des Reiches. Sprach nicht Burckhardt vom Staate selbst »in neutralisierender Art als von einem Kunstwerk«, und konzentrierte er sich nicht unentwegt auf »das Intime, Innerliche«, statt auf die Politik? (S. 207) Außer gegen die Kulturhistoriker, Nietzsche und die skandinavischen Dramatiker Ibsen und Strindberg, richtet sich Stedings Haß besonders gegen die Vertreter der dialektischen Theologie (Barth, Overbeck, Thurneysen, Brunner, Kierkegaard). »Young- und Dawes-Plan«, so schreibt er, »Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und dialektische Theologie Karl Barths sind ein und dasselbe.« (S. 97) Eine solche schlagende Kritik verschlägt einem die Sprache. Endlich sei die Kultur der Neutralen nicht nur dualistisch und vermittelnd, sondern auch abweichlerisch (S. 201). Mit anderen Worten: neutral zu sein heißt von allem, was für das Reich wesentlich ist, abzuweichen.

Nur ein starkes Reich kann die Realität Deutschlands und Europas garantieren und die Gewähr dafür bieten, »daß ein englischer Generalkonsul nicht mit einem Land wie Norwegen macht, was er will« (S. 269). Nur das Reich kann den eigentlichen Charakter der Wissenschaft, Objektivität, wiederherstellen. Wissenschaft heißt «objektiv«, wenn sie ihrem Wesen nach politisch ist; denn nur dann »lebt sie von der Polis, vom Staate, vom Reich her ihr Dasein« (S. 299). Zwar beruht dieses Reich auf der Tradition des Heiligen Römischen Reiches, doch nicht als Kulturgedanke, sondern als politische Realität (S. 350). Daher verwundert es nicht, daß Steding Stefan George und Moeller van den Bruck gleichermaßen als Vertreter der Philosophie des Zweiten Reiches abtut. Der Realität des Dritten Reiches sind sie nicht genug angepaßt. Selbst ein Nationalsozialist wie der Psychologe Jung (ganz zu schweigen von Nietzsche) wird wegen seines dualistischen Denkens verdammt (S. 127).

Was aber Steding selbst unter dem Reich versteht, bleibt völlig dunkel. Als das Buch 1938 erschien, kündigte der Herausgeber Walter Frank in seiner Vorrede vorsichtig an, es gehe Steding nicht um die Revision politischer Grenzen, sondern um die Revision geistiger Horizonte (S. XLVII). Diese offensichtliche Verzerrung, die gleichermaßen offen sichtbaren Motiven entspringt, hätte Steding natürlich als intellektuellen Nonsens zurückgewiesen. Gerade die Einverleibung Europas, oder zumindest der alten Gebiete des Heiligen Römischen Reiches durch Deutschland ist es ja, um die es ihm in erster Linie geht.

Damit haben wir ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeiten, die der Begriff des Reiches für die nationalsozialistische Ideologie aufwirft. Der Rassismus kommt in Stedings Buch schlecht weg. Obwohl er der offiziellen Philosophie ein gelegentliches Kompliment erweist, hat Steding für die Völkerkundler, die auf der Suche nach spezifischen Rassenmerkmalen in der Vergangenheit herumgraben, nichts als Verachtung übrig. »Sie, die häufig vom Volk reden und den Staat, das Politische hassen, tun dies ebenso, wie ihre Gegner vom Staat reden und das Volk hassen.« (S. 555) Die Rasse ist nicht das schöpferische Element; sie ist lediglich der Rohstoff, aus dem das Reich geformt werden muß.

 

Was bleibt dem Reich als Rechtfertigung? Nicht der Rassismus, nicht der Gedanke des Heiligen Römischen Reiches und ganz gewiß nicht irgendein demokratischer Unsinn wie Volkssouveränität oder Selbstbestimmung. Nur das Reich selbst bleibt. Es ist seine eigene Rechtfertigung. Die philosophischen Wurzeln dieses Arguments sind in der Existenzphilosophie Heideggers zu finden. Übertragen auf den Bereich der Politik, behauptet der Existenzialismus, daß Macht und Stärke gelten: Macht ist eine ausreichende theoretische Grundlage für mehr Macht. Deutschland liegt in der Mitte, ist potentiell die größte Macht in Europa, ja es ist schon auf dem Wege, der mächtigste Staat zu werden. Daher hat es die Berechtigung, die neue Ordnung zu errichten. Ein scharfer Kritiker hat zu Steding bemerkt: »Aus den Überresten dessen, was bei Heidegger noch ein wirklicher transzendentaler Solipsismus war, konstruiert sein Schüler einen nationalen Solipsismus.«13

Freilich bereitet selbst der »nationale Solipsismus« den Nationalsozialisten Schwierigkeiten. Dies hat Heinrich Triepel in seinem jüngst erschienenen Werk »Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten« gut belegt.14 Das Buch des reaktionären, aber keineswegs nationalsozialistischen Verfassungsrechtlers bietet eine realistische Analyse der rechtlichen und soziologischen Merkmale der Hegemonie. Hegemonie wird definiert als führender Charakter eines Staates gegenüber einem anderen (S. 343) und steht somit in der Mitte zwischen bloßem Einfluß und offener Herrschaft. Wenngleich er von einem ganz anderen Ansatz ausgeht, hat Triepel doch mit Steding die Definition von Hegemonie in reinen, aller kulturellen Elemente entkleideten Machtkategorien gemein. Das mittelalterliche Reich war eine doppelte Hegemonie; das Dritte Reich setzt weitgehend die preußische Tradition fort. Da es der mächtigste Staat in Europa ist, kann das neue Deutschland legitimerweise noch mehr Macht für sich beanspruchen.

Als guter Konservativer, in die Tradition des deutschen Idealismus getaucht, muß Triepel dennoch nach einer moralischen Begründung für Führung und Hegemonie suchen. Er findet sie in der freiwilligen Zustimmung durch die Gefolgschaft (S. 44). Führung ist einfach »energische aber gebändigte Macht« (S. 41); »der politische Führer ist nur einer unter vielen Arten von Führern« (S. 16). Das Phänomen der Führung und ihrer freiwilligen Anerkennung durchzieht sämtliche sozialen und politischen Beziehungen. Triepels Schweigen über die rassische Identifikation von Führer und Gefolgschaft sowie die metaphysischen Eigenschaften der Führung ist vernichtend. Er stellt eine simple Gleichung auf: Hegemonie ist Macht. Daher liegt der große Wert des Buches in seiner entlarvenden Funktion. Der offizielle Nationalsozialismus mit seiner grotesken Metaphysik und Pseudo-Anthropologie nahm das Werk kühl auf.15

2. Geopolitik

Ein zweiter und weitaus wichtigerer ideologischer Pfeiler für das expansionistische Programm des Nationalsozialismus ist die Geopolitik. Sie wird als wissenschaftliche Grundlage des »Lebensraum«-Konzeptes betrachtet. In der Tat wurde der Begriff »Lebensraum« offensichtlich erstmals von dem Vater der Geopolitik, dem Geographen Friedrich Ratzel, in einer kleinen Schrift dieses Titels, die zu Beginn unseres Jahrhunderts erschien, gebraucht. Aber selbst bei Ratzel war diese »Wissenschaft«, die er Anthropogeographie nannte, nicht so sehr Geographie als vielmehr eine Philosophie der Geschichte. In den darauf folgenden Entwicklungsphasen ist es gelungen, sie jedes wissenschaftlichen Elementes zu entkleiden und an deren Stelle politische Gründe, metaphysische Überlegungen und eine Menge inhaltlosen Geschwätzes zu setzen.

Die völlige Unterordnung der politischen Geographie unter die Bedürfnisse des deutschen Imperialismus ist hauptsächlich das Werk zweier Männer: Rudolf Kjellens und Karl Haushofers. Kjellen war ein schwedischer Politikwissenschaftler (er starb 1922), dessen Schriften zum größten Teil übersetzt und in Deutschland verbreitet wurden. Er prägte den Begriff »Geopolitik« und machte ihn zu einem modischen Schlagwort. Ein Gelehrter erzählt die folgende Geschichte: »Im Frühjahr 1924 konnte man auf der Leipziger Messe im Ausstellungshaus des Buchhandels ein wirkungsvolles Plakat sehen: Ein angestrengt arbeitender Mann treibt einen Bohrer in die unter seinem Knie liegende Erdkugel; darüber stand als Überschrift: ›Politische Geographie – gute Geschäfte!‹«16 Gute Geschäfte nicht nur für die Buchhändler, sondern auch für die deutschen Imperialisten! Denn dieses Plakat verweist auf mehr als bloß das neue populäre Interesse für Geopolitik. 1924 überwand Deutschland die verheerende Nachkriegsinflation, und seine Imperialisten machten sich daran, die schicke neue »Wissenschaft« zu verwenden. 1924 war auch das Jahr, in dem die geopolitische Schule sich in einer Arbeitsgruppe zu organisieren begann und die erste Nummer der »Zeitschrift für Geopolitik« erschien.

Der unermüdlichste Sprecher der geopolitischen Schule ist Karl Haushofer, Professor der Geographie an der Universität München, Gründer der Deutschen Akademie, Generalmajor a. D., Weltreisender – Lehrer und Freund von Rudolf Heß. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte Haushofer damit begonnen, eine Flut von Büchern und Artikeln über Grenzen, Macht und Boden, »raumüberwindende Mächte«, die Geopolitik des Pazifik und über allgemeine theoretische Fragen zu schreiben.17 Sein populärstes Buch, »Weltpolitik von heute«, erschien 1934 und war Rudolf Heß sowie einem weiteren Freund gewidmet. Im Vorwort wird der Zweck des Buches als »Denken in großen Räumen« bezeichnet. Die »Zeitschrift für Geopolitik« ist das Hausorgan Haushofers und seiner Schüler. Dazu verfügen sie über »Raumforschung und Raumordnung«, das Monatsblatt der »Reichsstelle für Raumforschung«.

Die Geschichte der Geopolitik besitzt für uns mehr als nur beiläufiges Interesse, weil sie uns weiteres ausgezeichnetes Anschauungsmaterial darüber liefert, wie die Nationalsozialisten bereits bestehende Lehren verdreht und verändert haben, um sie in ihr eigenes Ideen- und Handlungsschema einzupassen. Die Geopolitik ist genau so wenig ihre Erfindung wie die Idee des Großdeutschen Reiches. Sie haben sie lediglich wesentlich erfolgreicher als frühere deutsche Imperialisten ausgebeutet.

Ratzel prägte den Begriff »Anthropogeographie«, um die Thematik, die sich mit den natürlichen Faktoren im menschlichen Leben befaßt, zu bezeichnen. Das Interesse am Klima und an anderen geographischen Faktoren ist in der Geschichtsschreibung immer beträchtlich gewesen. Es ist sehr verführerisch, sich auf die ewige, stabile, unwandelbare Mutter Erde als dem wichtigsten Element in der Entwicklung menschlicher Kultur zu berufen. Ratzel suchte nun eine »mechanische Anthropogeographie«;18 sie sollte die Gesetze enthüllen, welche »die einfache Beziehung zwischen der ruhenden Erdoberfläche und dem veränderlichen Menschentum auf ihr« regeln.19 Ihr Hauptthema ist das Verhältnis zwischen dem beweglichen Menschen und der unbeweglichen Erde: »Leben ist Bewegung«.20

Zwei geographische Faktoren, die Lage und der Raum, spielen die Hauptrolle bei der Bestimmung der Gesetze der Anthropogeographie, und diese beiden Faktoren besitzen in der nationalsozialistischen Ideologie kategorischen Charakter. Die Lage ist dabei für Ratzel weitaus wichtiger.21 Der Begriff umfaßt Größe und Form eines gegebenen Gebietes, seine Eigenschaften, wie Klima und Pflanzenwuchs, sein Verhältnis zu benachbarten Räumen, seine trennenden und verbindenden Merkmale. Die Lage entscheidet darüber, ob ein Gebiet auf freundschaftlichem oder feindlichem Fuß mit seinen Nachbarn lebt. Sie trägt zur Prägung der Kultur bei: die isolierte Lage bietet zwar Sicherheit, führt aber auch zur kulturellen Sterilität. Allein die zentrale Lage macht ein starkes Land höchst einflußreich; ein schwaches Land wie Deutschland bringt sie jedoch in tödliche Gefahr.22 Die überragende Bedeutung des Meeres in diesem Zusammenhang ist augenfällig.

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