Der Kodex des Bösen

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Die Sorge um ihren Mann hatte sie die ganze Nacht hindurch weinen lassen. Des Morgens hatte sie ihren Mut wiedergefunden und eilte nun mit trotzigen Schritten auf das domus episcopalis, das Haus des erzbischöflichen Kurfürsten zu. Sein ständiger Stellvertreter in der Stadt, der Schultheiß, ging von hier aus seinen Amtsgeschäften nach. Sie würde nicht eher wieder nach Hause gehen, bevor sie nicht das Missverständnis aufgeklärt hätte und sicher sein könnte, dass Berthold in den nächsten Stunden in den ›Schwarzen Krug‹ zurückkehren würde. Ob sich der kühne Vorsatz wirklich in die Tat umsetzen ließ? Insgeheim befürchtete sie, dass die unerwartete Verhaftung ihres Mannes mit dem plötzlichen Verschwinden von Marcus zu tun haben könnte. Wo steckte der Junge nur?

Wo sich ihr Mann befand, war ihr hingegen bekannt. Auch wenn sie den Blutturm, Gott sei es gedankt, bis heute noch nie betreten hatte, so verhießen die Schreie, die man vernahm, wenn man an ihm vorbeiging, nichts Gutes. Die Geschichten, die man sich über die Vorgänge im Inneren erzählte, taten ihr Übriges. Den üblen Dieben und Mördern geschah dies zu Recht. Doch ihrem Mann? Auch wenn er oft ruppig wirkte, so hatte er noch nie einer Fliege etwas zuleide getan. Annehild ging voller Angst um das Wohl ihres Gatten noch schneller und stand nun vor dem Haus des Schultheißen. Auch die prunkvolle Fassade würde sie nicht einschüchtern können und sie von ihrem Vorhaben abbringen. Beherzt griff sie nach dem Türklopfer und brachte das Holz der schweren Eingangspforte zum Klingen.

Kurze Zeit später öffnete sich das Tor, und Gernhard trat ihr entgegen. Er war derjenige der Männer, der ihr bei der Verhaftung Bertholds am gestrigen Abend Mut und Trost zugesprochen hatte.

»Annehild!« Er schien erschrocken, blickte andererseits so, als hätte er ihren Besuch voller Befürchtungen erwartet.

»Ich muss sofort zum Schultheißen, Gernhard.« Ihre Stimme klang entschlossen.

»Das geht nicht. Ich kann dich beim besten Willen nicht vorlassen, Annehild.«

»Mein Mann ist unschuldig, er hat niemals etwas Unrechtes getan!«

»Ich weiß …«

»Oh, doch!« Hubertus von Hohenfels erschien nun ebenfalls im Eingang. »Dass er mit dem Reliquiendiebstahl dieses Burschen nichts zu tun hat, wollen wir glauben, aber er schützt den üblen Mörder!«

Annehild verstand kein Wort. Welcher Reliquiendiebstahl? Welcher Mörder?

Hubertus fuhr mit unerbittlicher Stimme fort: »Wir haben dem Wirt Janssen ausreichend Gelegenheit gegeben, uns über den momentanen Aufenthaltsort seines Mündels Auskunft zu geben. Ausreichende Gelegenheit, um geständig zu sein, bevor wir weitere Schritte einleiten. Doch er behauptet, nicht zu wissen, wo sich der Lump aufhält. Sollte er auch heute im Rahmen der gütigen Befragung durch den Schultheißen bei seiner Aussage bleiben, so ist dies eine Falschaussage, die ihre Folgen hat.«

Seines Mündels? Die Frau des Schankwirts war starr vor Schreck und brachte angesichts der unerhörten Beschuldigungen kein weiteres Wort hervor. Die Sache hatte tatsächlich mit Marcus zu tun! Heiß und kalt liefen ihr Schauer über den Rücken, und in ihrer Verzweiflung flehte sie Hohenfels an: »Hubertus, ich kann vor Gott bezeugen, dass mein Gatte wirklich keine Ahnung hat, wo sich Marcus aufhält. Aus Sorge um dessen Verschwinden grämte er sich zu jener Stunde, als Ihr ihn aus unserer Schenke fortholtet.« Tränen der Angst schossen ihr wieder in die Augen. Sie wusste sehr wohl, welche Strafe den erwartete, der vor dem hohen Gericht eine Falschaussage tätigte. Dem Meineidigen wurde ein Teil der Zunge abgeschnitten, wenn man sie ihm nicht ganz herausriss. Noch mehr Angst hatte sie vor der Befragung selbst, die sie bis zu einem möglichen Prozess durchführen würden.

»Ihr könnt so viel bezeugen, wie Ihr mögt, Weib. Doch lasst unseren Herrgott aus Eurem verruchten Spiel. Dem Schultheißen allein steht das Recht zu, sieben Männer zu benennen, die für den Wirt bürgen – oder auch nicht.« Damit schien die Unterredung für Hubertus erledigt. Er zog Gernhard mit sich ins Innere des Hauses und schloss die Pforte mit einem dumpfen Knall. Laut schluchzend brach Annehild Janssen vor dem Haus des Schultheißen zusammen. Sie hatte sich für diesen Besuch so viel vorgenommen. Hatte Gott sie beide verlassen? Welche Hoffnung konnte sie noch haben, Berthold lebendig wiederzusehen?

Erst einige Zeit später kam sie wieder auf die Beine und schleppte sich in ihrer tiefen Verzweiflung zurück in ihre Schenke. Sie war in dieser Stunde um Jahre gealtert.

*

Der Löffel fiel platschend in den dünnen Haferbrei, und das Stielende schlug für alle hörbar auf die blanke Tischplatte. Verdammt! Er war einmal mehr eingeschlafen. Der Vorleser schaute verärgert zu ihm herüber und stockte in seinem gleichmäßigen Redefluss. Rasch nahm er den Löffel wieder auf, als sei nichts geschehen. Nur seine roten Wangen ließen erkennen, dass es in seinem Inneren anders aussah.

Es war nicht das erste Mal, dass ihm die Augen bei einer Mahlzeit vor Müdigkeit zugefallen waren. Die nächtlichen Stunden zur Erholung fehlten ihm einfach. Eigentlich war es nicht der wenige Schlaf, der an seinen Kräften zehrte. Es war der Druck, der auf ihm lastete, das Schwert des Damokles, das über ihm schwebte. Er mochte sich nicht ausmalen, was ihm widerfahren würde, wenn er es nicht fände. Die Strafe auf Erden würde noch das Geringste sein. Aber wie sollte er vor den Schöpfer treten? Unter den jetzigen Umständen wäre ihm die ewige Verdammnis im Fegefeuer gewiss. Worauf hatte er sich nur eingelassen?

Einmal mehr verfluchte er den Tag, an dem er den Kodex entdeckt hatte. Einmal mehr verfluchte er die Stunde, in der sich ihm die versteckte Botschaft offenbart hatte.

Der unscheinbare Kodex war ihm nur aufgefallen, weil das Werk eine Art Psalmen enthielt. Die anderen Schriftsammlungen hingegen befassten sich ausschließlich mit Alchemie, Zauberei und allerlei heidnischem Aberglauben. Er hatte seinen Zeigefinger angefeuchtet, um das Pergament besser umblättern zu können, als sich die Seite durch die Feuchtigkeit auffällig wellte. Es war eine dumme Gewohnheit von ihm, den Finger zu befeuchten. Oft war er als Junge dafür getadelt und gezüchtigt worden, da man befürchtet hatte, er würde die kostbaren Werke durch seinen Speichel beschädigen. Noch nie hatte sich ein Pergament derart gewellt.

Einmal mehr verfluchte er die Minuten, in denen seine unbeherrschte Neugierde ihn so lange gepeinigt hatte, bis er das wellige Schriftstück näher untersucht hatte. Die Seite hatte sich spalten lassen und auf diese Weise eine merkwürdige Buchstaben-Zahlenfolge zutage gebracht: A/2/14 – I/12/27 – T/11/32 – A/3/29 – I/28/17 – A/17/52 …

Das Geheimnis der Buchstaben hatte sich schnell geklärt. Der Kodex war in drei Kapitel unterteilt. Als Deckblatt zu den Kapiteln gab es je eine Seite, auf der einer der Buchstaben, ›A‹, ›I‹ und ›T‹, in kunstvoll verzierter Weise dargestellt war. Die Zahlen waren es, die ihn lange Zeit hatten rätseln lassen. Stundenlang hatte er über den Seiten gebrütet und versucht, des Rätsels Lösung zu finden. Dann wieder hatte er den Gedanken, die Kombinationen hätten einen tieferen Sinn, verworfen und die Schriftsammlung zu den anderen zurückgelegt. Doch sie hatte ihm keine Ruhe gelassen. Immer wieder hatte er das Pergament in verstohlener Zurückgezogenheit zur Hand genommen und versucht, die Lösung zu finden. Nach Monaten des Forschens hatte er schließlich die geheimen Zeichen entschlüsselt. Die fast vollständig verblassten Notizen am Seitenrand hatten ihn auf die richtige Spur gebracht.

Die erste Zahl einer Ziffernkombination bezeichnete den Psalm innerhalb des Kapitels, auf den der vorangehende Buchstabe hinwies. Die zweite Zahl wiederum bezifferte das Wort. Nach diesem Muster hatte er begonnen, das Geheimnis zu lüften: A/2/14 bedeutete demnach Kapitel A, zweites Gebet, 14. Wort – ›Die‹. Die Kombination I/12/27 wies auf das Kapitel I, 12. Gebet, 27. Wort – ›Häupter‹ hin. Nach und nach entstand so dieser Vers. Dieser Vers, den er seither jede Nacht verfluchte.

Am meisten verfluchte er den Augenblick, in dem er sich ihm anvertraut hatte. Nachdem er erkannt hatte, auf welches Geheimnis er gestoßen war, musste er es einfach mit jemandem teilen, der ihn vor dem letzten endgültigen Schritt bewahren würde. Doch es war anders gekommen.

Nun sehnte er sich ungeheuer danach, seine Arbeit zu beenden, um endlich zur Ruhe zu kommen. Zur Ruhe vor ihm. Aber er ließ nicht locker, wie ein Bluthund, der sich an die Spur des waidwunden Keilers geheftet hatte.

Schlussendlich war da dieses eine Wort. Dieses eine Wort, das nun wirklich nicht so recht in die Zeilen passen wollte. Hatte er etwas übersehen? Immer wieder ging er die Schritte der Entschlüsselung vor seinem geistigen Auge durch. Es war kein Wunder, dass er die Kombinationen nach all den Monaten der Suche bereits auswendig konnte.

Der Vorleser erhob seine Stimme, als habe er bemerkt, dass der junge Mann mit seinen Gedanken dort war, wo diese nicht sein sollten. Ermahnend wurde er lauter und lauter. – Oder bildete er sich das nur ein? Trieben ihn seine quälenden Gedanken und diese unendliche Müdigkeit nun gänzlich in den Wahnsinn?

Als er ihm von seiner Entdeckung berichtet hatte, hatte er ihm anfangs interessiert zugehört, aber dann nur noch gelacht. Laut gelacht. Erst als er ihm das Schreiben gezeigt hatte, war sein Gelächter verstummt. Schlagartig hatte diese irre Gier die ausgelassen Heiterkeit in seinem Gesichtsausdruck ersetzt. Wie die Schläge des Bauers einen Ochsen zur Arbeit antreiben, so ließen ihn seine Drohungen seither unermüdlich weitersuchen; weitersuchen nach dem richtigen, dem letzten Wort. Nacht für Nacht. Immer und immer wieder war er den Kodex durchgegangen und hatte nach diesem verdammten Wort gesucht. Bisher ohne Erfolg.

 

Die gemeinsame Zeit des Mahls war vorübergegangen, ohne dass er die ohnehin spärliche Ration angerührt hätte, die ihm als einem der Jüngeren nur zustand.

*

Sie blieben eine ganze Weile bei den Pferden und schauten ihnen beim Grasen zu. »Was ist eigentlich mit diesem Walter geschehen? Ich meine, wie kommt es, dass ein Verwundeter ausgerechnet in Eurem Vorratszelt liegt?«, fragte Marcus und versuchte, dabei so belanglos wie möglich zu klingen.

Dobberstein blickte sich nervös zu allen Seiten um. Da niemand in der Nähe zu sein schien, der sie belauschen konnte, antwortete er leise: »Er ist der Knappe des Herzogs Johann von Brabant, der Gegner des Erzbischofs in der bevorstehenden Schlacht. So wie ich die Sache sehe, hat er sich hier ins Lager eingeschlichen, um die Pläne Siegfrieds und seiner Vasallen auszukundschaften. Patty hat beobachtet, wie ihn die Männer des Dietrich von Keppel überrascht haben und sich seiner mit Knüppeln und Fußtritten eine ganze Weile angenommen haben. Vor lauter Spaß an ihrem ›fröhlichen‹ Zeitvertreib haben ihn die Kerle in ihrer Trunkenheit nicht recht erkannt und ihn für einen simplen Neugierpinsel gehalten, den nur die Langeweile umhertrieb. Es war sein Glück, dass sie in ihm einen Burschen sahen, der zum Lager gehört. Anderenfalls wäre dies sein Todesurteil gewesen. Aus Mitleid mit dem armen Jungen und Ekel vor den niederträchtigen Kerlen hat Patty ein wenig ihre Reize spielen lassen und die Peiniger abgelenkt, während Jacobus ihn in unser Vorrats­zelt brachte.«

»Ihr sagt, die Männer des Dietrich von Keppel? Sind dies die weiß Gewandeten mit dem gezackten roten Brustring?« Marcus deutete dabei die Breite des Streifens mit gespreizten Fingern an.

»Ich höre, du hast auch schon Bekanntschaft mit den Raufbolden gemacht. Gehe ihnen lieber aus dem Weg, mein Junge. Sie sind nicht nur streitlustig, sondern in erster Linie feige und hinterhältig. Eine gefährliche Mischung.«

Marcus’ Verdacht hatte sich bestätigt. Schon nach Pattys Schilderung hätte er seinen letzten wärmenden Gugel verwettet, dass es sich um diese betrunkenen Kerle handeln musste, denen er bereits kurz nach seiner Ankunft im Lager begegnet war.

Schlagartig kam Marcus wieder der unfreundliche Empfang des Dolchwerfers in den Sinn. »Warum ist Niko eigentlich so, wie er ist? Ich meine, hat er jemals mit dir darüber gesprochen, was ihn zu so einem zurückgezogenen finsteren Menschen gemacht hat?«

»Nein. Die Worte, die er mit uns gesprochen hat und die über das Nötigste hinausgehen, kannst du an einer Hand abzählen.« Dominikus hielt ihm alle fünf Finger seiner ausgestreckten Hand dicht vors Gesicht. »Urplötzlich stand er vor sechs Monaten in unserem Lager und fragte, wohin wir reisen. Als ich ihm erzählte, dass wir wohl Richtung Norden, ins Rheinland ziehen würden, strahlte er mich freundlich an und bat mich, mit uns kommen zu dürfen.« Dobberstein lachte kurz auf. »Ich glaube, dies war das erste und letzte Mal, dass ich ihn habe lächeln sehen. Es muss ihm viel daran gelegen haben, hierherzukommen.«

Marcus fragte sich, was es hier im Rheinland nur so Wichtiges für Niko geben mochte. – Niko? Urplötzlich kamen ihm die letzten Worte des sterbenden Priesters in den Sinn: ›Armarius Niko…!‹ Hatte er jenen Niko gemeint? War der Kroate wegen der Reliquie des heiligen Quirinus ins Rheinland, nach Neuss gekommen? Doch was bedeutete ›Armarius‹? Marcus hatte einmal von einem fernen Land namens Armenien gehört. »Dominikus, bist du sicher, dass Niko aus Kroatien kommt und nicht vielleicht aus Armenien?«

»Armenien? Was für ein ausgemachter Blödsinn. Wie kommst du darauf, Junge?«

Marcus überging die Gegenfrage mit einem missmutigen Gesichtsausdruck und ließ nicht locker. »Weißt du es nun, oder nicht?« Seine Stimme klang zornig. Er bemerkte gar nicht, dass er Dobberstein fest an den Schultern gepackt hatte.

Der Gaukler riss sich verärgert los. »Nein, sicher bin ich mir natürlich nicht. Warum sollte ich ihm nicht glauben? Nur weil er wenig über sich und seine Vergangenheit spricht? Du fragst zu viel, Marcus! – Wir fragen dich ja auch nicht, warum du dich hier versteckt hältst. Stattdessen gewähren wir dir Unterschlupf und teilen mit dir unser weniges Brot.«

Dobberstein hatte recht, und Marcus wusste es. Doch der Reliquiendieb, wer immer er war, hatte für ihn Schicksal gespielt und sein Leben grundlegend verändert, ja, ihn in tödliche Gefahr gebracht.

»Entschuldige, Dominikus«, brachte er leise und nachdenklich über die Lippen.

»Schon in Ordnung. Du hast es zurzeit bestimmt nicht leicht. Sonst würdest du dich nicht mit unserer lausigen Gauklertruppe abgeben.«

Dem ersten Impuls folgend, wollte er dem Mann erneut recht geben, aber dann musste er an Patty denken. So gesehen war es alles andere als ein Unglück, dass er auf die Spielleute getroffen war.

Dominikus schaute Marcus durchdringend an. Dann schien er seine Gedanken erraten zu haben und grinste ihn breit an. »Komm, lass uns zurück zu den Zelten gehen. Vielleicht kannst du ja Patty ein wenig zur Hand gehen.« Sein Lächeln wurde noch breiter und verschmitzter, als Marcus seinem Vorschlag mit eifrigem Kopfnicken und glückseligem Blick zustimmte.

Als sie gerade zwischen den Zelten hindurch in das Halbrund treten wollten, kam ihnen Niko entgegen. Er hatte es offensichtlich eilig und stieß beinahe mit Marcus zusammen. In der letzten Sekunde konnte der junge Mann einen Zusammenprall verhindern, als ein tönernes Klimpern seine Aufmerksamkeit erregte. Es war der Halsschmuck des Kroaten, dessen Anhänger das Geräusch verursacht hatten. Marcus erstarrte und stand mit weit aufgerissenen Augen da. An einem Lederband baumelten drei kleine Muscheln. ›Drei Muscheln … Armarius Niko…‹, dröhnte die Stimme des ermordeten Priesters in seinen Ohren. Die Welt um ihn herum schien mit einem Mal nicht mehr zu existieren; die Zeit mit einem Mal stillzustehen. Sichtlich irritiert bemerkte der Kroate Marcus’ starrenden Blick und umklammerte die Muscheln mit seiner stark behaarten Pranke. Hastig steckte er sie in den Ausschnitt seiner Tunika und zwängte sich mit einem Blick an ihm vorbei, der Marcus das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Was ist mit dir?«, fragte Dobberstein besorgt, der Marcus’ plötzliche Veränderung bemerkt hatte und ihm stützend unter den Arm griff. Mit weichen Knien ließ sich der junge Mann hinüber zur Feuerstelle führen. Vorsichtig lenkte Dominikus ihn auf den Scherenstuhl, auf dem sonst nur er sitzen durfte.

»Es ist … es ist nichts«, stammelte Marcus, der sich zusehends erholte. Er konnte Dobberstein nicht erklären, was ihn so in Angst und Schrecken versetzt hatte. Hätte er ihm gesagt, dass es die drei Muscheln an Nikos Hals gewesen waren, so hätte er ihm die ganze Geschichte erzählen müssen. Doch konnte er ihm vertrauen? Konnte er hier überhaupt einem Menschen vertrauen? Gewiss, die Gaukler waren nett zu ihm und hatten ihn vor den Schergen des Schultheißen versteckt. – Sie? Nein, eigentlich war es nur Patty gewesen, die die Truppe durch ihr beherztes Handeln vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Vielleicht warteten die anderen nur auf eine Gelegenheit, ihn gegen ein sattes Lösegeld auszuliefern. Was denkst du da, du undankbarer Bastard?, ermahnte er sich sogleich. Wut auf sich selbst stieg augenblicklich in Marcus auf. Tat er ihnen, den ebenfalls Verfolgten und Verstoßenen, nicht schweres Unrecht, wenn er sie so verdächtigte? Er wusste nicht mehr, wen er beargwöhnen sollte und wem er vertrauen konnte. Seine Gedanken überschlugen sich. Auf Patty konnte er sich verlassen! Das wusste er. Durfte er sie mit in diesen verdammten Reliquiendiebstahl hineinziehen? Nein, je weniger sie wusste, umso besser war es für sie. Das Beste würde sein, von hier zu verschwinden. Sofort fiel ihm wieder Gernot Thelen, sein Freund, der Ziegenhirte, ein. Ihm konnte er ebenfalls vertrauen. Noch heute würde er sich auf den Weg zu ihm machen!

»Was ist mit dir?« Ein geschnitzter Holzbecher erschien urplötzlich in seinem Blickfeld, und der Duft verdünnten Weins und ein Hauch von Lavendel stiegen ihm in die Nase. Erstaunt schaute er auf die zarte Hand, die ihm das Gefäß entgegenstreckte. Sein Blick wanderte den schlanken Arm hinauf, bis er direkt auf Pattys besorgtes Gesicht traf.

*

Knarzend öffnete sich die Zellentür. Kamen die Schergen wieder, um erneut auf ihn einzuprügeln? Angst durchfuhr den Schankwirt. Doch der Gottesdiener, der nun zu ihm trat, war allein gekommen. Er erkannte den Priester sofort wieder. Dieser wirkte wie verwandelt. War seine Miene gestern noch versteinert und ausdruckslos gewesen, so schaute er ihn heute Morgen nahezu freundlich an. Gütig lächelnd, segnete er Janssen mit einer ausladenden Handbewegung. Dann reichte er ihm den Becher, den er in der Linken hielt. Voller Misstrauen griff der Schankwirt danach. Das laute Rasseln der eisernen Kette seiner Handfesseln durchbrach die angespannte Stille. Wie einen Schwerverbrecher hatten sie ihn am Abend zuvor an den großen Ring an der Wand gefesselt. Die Kette war zu kurz gewesen, als dass sich der stämmige Mann hätte auf dem Boden ausstrecken können, und so hatte er die ganze Nacht mit emporgestreckten Armen dagelegen. Seine Gelenke schmerzten.

»Gott segne dich und gebe dir Einsicht. Der Herr ist gütig und wird dir verzeihen, wie auch wir es tun werden. Zuvor benötigen wir aber die Antworten auf unsere Fragen.«

»Tatsächlich?« Spöttisch schaute Janssen zu dem Geistlichen auf, der sich angestrengt bemühte, seinen aufgesetzten Gesichtsausdruck der Milde beizubehalten.

»Gewiss, Bruder. Hilf uns, den schändlichen Dieb zu finden, und der gerechte Arm Gottes wird dich zu deiner lieben Frau zurückführen.«

»Ich hoffe, zumindest Gott weiß, warum Ihr Marcus sucht, denn ich weiß es nicht.« Man hatte Janssen zwar mit körperlichem Nachdruck nach dem Verbleib seines Zöglings befragt, die Hintergründe indes verschwiegen.

»Er hat die Reliquie des heiligen Quirinus aus dem Münster gestohlen und auf seiner Flucht einen Priester unserer Kirche feige ermordet. Es ist Gottes Wille, dass der Schädel des heiligen Quirinus an seinen Platz zurückgelangt und der schändliche Dieb und Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt wird.«

Gewiss, Marcus war ein Dieb gewesen, doch das war Jahre her. Selbst wenn er seinem alten Gewerbe wieder nachgegangen wäre, einen solchen Raub traute Berthold Janssen seinem Schützling auf keinen Fall zu. Und einen Mord? »Ihr sagt, er hat einen Mann getötet? Erzählt mir, wie es dazu kam und wie er es angestellt haben soll.«

Hoffnung keimte in dem Priester auf, der Schankwirt würde sich besinnen und ihnen weiterhelfen. »Er hatte den Schrein bereits aufgebrochen und die Reliquie herausgenommen, als Bruder Herbert ihn bei seiner gotteslästerlichen Tat überraschte. Er folgte ihm auf den Freithoff, wo Euer Mündel sein Schwert zog und ihn mit einem tödlichen Hieb niederstreckte.«

Hätte der Geistliche gesagt, er habe mit bloßen Händen gemordet, so hätten Janssen, angesichts der Kraft, die in Marcus steckte, Zweifel an der Unschuld des Jungen kommen können. Doch mit einem Schwert? Marcus hatte nie ein Schwert besessen. Warum hätte er sich für eine solche Tat, einen Raub, eines beschaffen sollen? Spätestens an dieser Stelle der infamen Beschuldigungen war sich der Schankwirt sicher, dass es sich nur um ausgemachten Unsinn handeln konnte, den man ihm hier auftischen wollte. »Wie kommt Ihr darauf, dass es Marcus war, der die Tat beging?«

»Zwei Diakone haben ihn gesehen, als er floh.« Der Priester ließ durch die Entschlossenheit seiner Stimme erkennen, dass es für ihn keinerlei Zweifel daran gab, dass Marcus der Dieb und Mörder war.

»Und sie sahen ihn mit einem Schwert davonlaufen? Oder hat er die Waffe gar zurückgelassen?« Janssen blickte dem Priester misstrauisch in die Augen.

Der Geistliche stutzte und wirkte sichtlich irritiert. Schnell kam seine Selbstsicherheit zurück, und Wut breitete sich auf seinen Zügen aus. »Du weißt, Bruder, dass es deine Pflicht vor Gott ist, uns zu helfen, den Heiligen zurückzuholen? Die ewige Verdammnis wird dich ereilen, falls du den Mörder schützt und auf diese Weise mit ihm schuldig wirst. Schuldig vor Gott!« Erwartungsvoll schaute er den Gefangenen an.

»So werde ich im Feuer des Satans enden«, entgegnete Janssen und wandte seinen Blick vom Priester ab, der erkennen musste, dass auch er keine Auskunft erhalten würde.

Wütend stapfte er zur Tür und drehte sich nochmals um. »Solltet Ihr Euer Seelenheil noch retten wollen, um ohne Schuld vor unseren Herrgott treten zu können, so schickt nach mir«. Seine Stimme bebte vor Zorn. Dann verließ er stumm die Zelle.

 

Eine Stunde war wohl vergangen, als sich die Tür erneut knarrend öffnete und vier Männer den Kerker betraten. Diesmal war es der Schultheiß, der Berthold Janssen einen Besuch abstattete. Hubertus Hohenfels und einer der Männer, die Janssen festgenommen hatten, waren bei ihm. Während Hubertus hämisch grinste, drückte die Miene des anderen eher Mitleid denn Schadenfreude aus. Den vierten kannte Janssen nur vom Sehen, und man erzählte sich in den Straßen, dass er der Folterknecht des Schultheißen sei. Er war ein eher kleiner, stämmiger Zeitgenosse, dessen Nackenmuskeln aus dem Halsausschnitt seines ärmellosen Lederwamses quollen. Seine mächtigen Oberarme glänzten kraftstrotzend im Schein der Wandfackel.

Nun richtete der Schultheiß das Wort an Berthold: »Meine Männer haben mir mitgeteilt, dass Ihr Euch wenig kooperativ zeigt und uns keine Auskunft über den Aufenthalt des jungen Mannes namens Marcus geben wollt. Vielleicht wollt Ihr es ja nur mir persönlich sagen?« Fragend blickte er mit zusammengezogenen Augenbrauen auf Berthold herunter. Sein Blick war streng und Respekt einflößend. Der Schankwirt schüttelte nur kurz den Kopf. Nach den hanebüchenen Anschuldigungen gegen Marcus, die der Pfaffe eben noch geäußert hatte, würde er ihn niemals an diese Burschen ausgeliefern. Selbst wenn er wüsste, wo er sich aufhielt.

»Stehe gefälligst auf, wenn der hohe Herr das Wort an dich richtet, Halunke!« Hohenfels verpasste dem am Boden hockenden Schankwirt einen ordentlichen Tritt mit seinen schweren Stiefeln. Ein heftiger Schmerz durchfuhr Janssens Körper, als er versuchte, auf die Beine zu kommen. Die Kette war zu kurz, als dass er sich hätte gerade aufrichten können, und so stand er halb gebückt vor dem Schultheißen. »So ist’s recht«, murmelte Hohenfels, dem die erzwungen devote Haltung seines Häftlings zu gefallen schien. Berthold Janssen spürte, dass die eisernen Handfesseln bereits begonnen hatten, seine Gelenke wund zu scheuern. »Also, Schwankwirt, erspare uns Zeit und Mühe und sage uns, wo sich dieser Marcus aufhält.«

Das Kopfschütteln des Befragten wurde energischer. Als sei diese Geste ein stummes Kommando, ein geheimes Zeichen gewesen, erklang im selben Augenblick ein markerschütternder Schrei, der sich wie eine Woge des Schreckens im Gemäuer des Blutturms ausbreitete. Er stammte von einer Frau und schien aus dem oberen Stockwerk gekommen zu sein. Auch wenn ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, so war Berthold Janssen froh, dass es nicht Annehild, seine Frau, war, die dort wehklagte.

»Hört Ihr sie? – Auch diese Frau verweigert uns seit Tagen die Antwort, um die wir sie gebeten haben. Und dies trotz der Güte unserer Befragung.« Der Schultheiß schaute kopfschüttelnd und mit geheucheltem Bedauern zur Zellen­decke. »Ich denke jedoch, dass sie sich die Sache noch anders überlegen wird.« Hohenfels’ Grinsen wurde bei den Worten des Schultheißen noch breiter und hämischer. »Wie steht es nun mit Euch? Ist Euch wieder eingefallen, wo sich Euer Mündel gegenwärtig aufhält?«

»Nein! Und wenn Ihr mich noch so häufig fragt: Ich weiß es nicht und kann es Euch folglich auch nicht sagen.« Eine Mischung aus Trotz und Verzweiflung klang aus den Worten des Schankwirts. Die gespielte Anteilnahme im Blick des Schultheißen wurde noch intensiver, das mitleidige Kopfschütteln noch heftiger. Auf sein Handzeichen hin trat der Mann vor, den Janssen für den Folterknecht hielt.

»Dies ist Meister Hans«, sprach der Schultheiß und deutete auf den muskulösen Kerl. Er wird Euch nun seine, sagen wir, ›überzeugenden Werkzeuge‹ zeigen und erläutern, wozu sie nütze sind. Er ist ein Meister seines Fachs. Es liegt allein in Eurer Hand, Schankwirt, ob es bei einem bloßem Zeigen und Erläutern bleibt.«

*

»Es geht schon wieder«, entgegnete Marcus und gab Patty den Becher zurück, den er in einem Zug geleert hatte. Zweifelnd blickte sie ihn an. »Ich werde Euch heute noch verlassen. Ihr habt schon genug Scherereien, auch ohne mich.« Hatte sich die Skepsis in ihren Augen urplötzlich in einen traurigen Blick verwandelt? Marcus erhob sich nur zögerlich.

»Unsinn!«, fuhr Dobberstein dazwischen und senkte zugleich seine Stimme wieder. »Der Brabanter ist schon bald wieder auf den Beinen und kann zu seinem Herzog zurückkehren. Und so sind wir eine Sorge los. Einen kräftigen Burschen wie dich, der sich nicht zu fein ist, mit anzupacken, können wir hingegen jederzeit brauchen.«

Ein Hoffnungsschimmer kehrte in Pattys Miene zurück. »Wer soll mich denn sonst beim nächsten Mal retten, wenn ich in den Bach zu fallen drohe?«, leise lachend zwinkerte sie ihm zu.

Unverhofft tauchte Niko zwischen den Zelten auf und schaute grimmig zu den dreien herüber. Marcus meinte zu erkennen, dass das Lederband mit den drei Muscheln von seinem Hals verschwunden war. Ohne ein Wort zog der Kroate sich in sein Zelt zurück. Wenn er der Dieb und Mörder war und er Marcus’ Blick auf seinen Halsschmuck tatsächlich bemerkt hatte, so wären dieser Dietrich von Keppel und seine Männer noch die geringste Gefahr für ihn. Der Kroate könnte ihm in einem unbeobachteten Moment einen seiner Dolche in den Leib stoßen und schließlich behaupten, er habe einen Pfaffenmörder zur Strecke gebracht, als dieser ihm gegenüber mit seiner Tat geprahlt hatte. Die Reliquie bliebe verschwunden, und Niko würde unbemerkt mit dem heiligen Diebesgut untertauchen können. »Ich danke Euch, dass Ihr mich gestern Abend versteckt habt, aber die Schergen des Schultheißen können jederzeit wiederkommen. Nein, ich kann und will Euch nicht in Gefahr bringen. Gott möge Euch beschützen.«

»Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, gerade jetzt aufzubrechen«, mischte sich nun auch Tilmann in das Gespräch mit ein. Er kauerte vor seinem Zelt, schaute nach oben und reckte seinen wurstigen Zeigefinger gen Himmel. Dicke Gewitterwolken waren direkt über dem Lager aufgezogen. Im selben Augenblick zuckte ein Blitz hernieder, und noch vor dem Grollen des ersten Donners platschten dicke Tropfen in Marcus’ Gesicht. Tilmann griff nach seiner Schalmei und brachte das Instrument vor einem unerwünschten Bad in Sicherheit. Der Regen prasselte herab, als habe der Herrgott seinen Badezuber auf ein Mal entleert. Auch Dobberstein hatte bereits in seiner Behausung Unterschlupf gefunden, als Marcus zum Vorratszelt eilen wollte. Unerwartet wurde er in die entgegengesetzte Richtung gezerrt. Die Naht seines Hemdsärmels zerriss mit einem lauten Krachen. Verdutzt wandte er sich zu Patty um, die ihn immer noch an seinem aufgerissenem Ärmel hielt. Der einsetzende Schauer hatte ihre roten Locken durchnässt, und ein Rinnsal lief über ihre kleine Nase.

»Ich glaube, Walter braucht noch etwas Ruhe. Und um deinen Ärmel muss ich mich auch kümmern.« Sie ließ betont langsam von ihm ab, strich sich eine nasse Lockensträhne aus dem Gesicht und lief zu ihrem Zelt. Für einen kurzen Moment stand Marcus allein im Regen und rührte sich nicht. Ein besonders dicker Tropfen platschte auf seine Stirn und schien ihn aus seiner Lethargie aufwecken zu wollen. Eilig folgte er ihr.

Patty streifte gerade ihr nasses Oberkleid ab, als er das Zelt betrat. Das Grün des Stoffes glänzte dunkel vor Feuchtigkeit. »Gib mir dein zerrissenes Hemd«, verlangte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen. Etwas schüchtern zog er das grobe Leinen über seinen Kopf und reichte es ihr. Mit der Linken nahm sie das feuchte Kleidungsstück, während sie mit der Rechten über seinen muskulösen Oberarm strich. Das fahle Licht, das durch die Zeltwand drang, zeichnete einen konturreichen Schatten auf den vor Nässe glänzenden Muskel. Sie öffnete die Bänder ihres Unterkleides und trat ganz nah an ihn heran. Mit zitternden Händen ergriff er ihre halb entblößten Schultern und zog sie noch enger an sich. Deutlich spürte er die Wärme ihres Körpers. Ihre Blicke begegneten sich.