Erniedrigte und Beleidigte

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Zehntes Kapitel

Fünf Tage nach Smith' Tod siedelte ich in seine Wohnung über. Diesen ganzen Tag lang war mir sehr traurig zumute. Das Wetter war trüb und kalt: es fiel ein feuchter, mit Regen gemischter Schnee. Erst gegen Abend brach die Sonne auf einen Augenblick durch, und ein verirrter Strahl blickte, wahrscheinlich aus Neugier, in mein Zimmer. Ich fing schon an zu bereuen, daß ich hierhergezogen war. Das Zimmer war zwar groß, aber sehr niedrig, verräuchert und dumpfig und machte trotz der darinstehenden paar Möbelstücke einen unangenehm leeren Eindruck. Es kam mir gleich damals der Gedanke, daß ich mir in diesem Zimmer unfehlbar den Rest meiner Gesundheit verderben würde. Und das ist denn auch geschehen.

Diesen ganzen Vormittag war ich mit meinen Papieren beschäftigt, die ich sichtete und ordnete. In Ermangelung einer Mappe hatte ich sie in einem Kopfkissenbezug transportiert, und dabei waren sie arg zerknittert und durcheinandergeraten. Dann setzte ich mich hin, um zu schreiben. Ich schrieb damals immer noch an meinem großen Roman; aber ich hörte bald wieder auf; mein Kopf war mit anderen Gedanken erfüllt . . .

Ich warf die Feder hin und setzte mich ans Fenster. Die Dunkelheit brach herein, und meine Stimmung wurde immer trauriger und trauriger. Mancherlei bedrückende Gedanken bemächtigten sich meiner. Ich hatte die Empfindung, daß ich in Petersburg schließlich völlig zugrunde gehen würde. Der Frühling nahte; ich dachte: ›Könnte ich mich nur aus dieser beklemmenden Enge in die freie Natur flüchten und den Geruch der frischen Felder und Wälder einatmen, die ich so lange nicht gesehen habe; dann würde ich wieder aufleben! . . .‹

Es kam mir auch der Gedanke: ›Wie gut wäre es, wenn ich durch irgendwelche Zauberei oder durch ein Wunder alles in den letzten Jahren Geschehene und Erlebte vollständig vergäße, einen frischen Geist bekäme und wieder mit neuer Kraft anfinge!‹ Damals hing ich noch solchen Zukunftsträumereien nach und hoffte auf eine Art von Wiedergeburt. ›Meinetwegen will ich sogar ins Irrenhaus kommen‹, sagte ich mir, ›damit man mir da auf irgendwelche Weise das ganze Gehirn umkehrt und neu einrichtet und ich dann wieder ganz gesund werde!‹ Es steckte noch ein starker Lebensdurst in mir, und ich glaubte noch an das Leben! . . . Aber ich erinnere mich, daß ich damals in ein Gelächter ausbrach. ›Was sollte ich denn nach dem Aufenthalt im Irrenhaus tun?‹ fragte ich mich. ›Etwa wieder Romane schreiben?‹

So überließ ich mich meinen Träumereien und meinem Trübsinn; aber unterdessen rückte die Zeit weiter, und die Nacht kam heran. Für diesen Abend hatte ich Natascha zugesagt, zu ihr zu kommen; sie hatte mich schon tags zuvor durch ein Billett dringend dazu aufgefordert. Ich sprang auf und begann, mich zurechtzumachen. Auch ohnedies war es mir ein Bedürfnis, möglichst schnell aus der Wohnung hinauszukommen, irgendwohin, meinetwegen in den Regen und in den Schmutz.

Je stärker die Finsternis wurde, um so geräumiger schien mein Zimmer zu werden, um so mehr schien es sich auszudehnen. Ich hatte die Vorstellung, ich würde in jeder Nacht in jeder Ecke den alten Smith sehen: er werde dasitzen und mich regungslos anblicken, so wie er in der Konditorei Adam Iwanowitsch angeblickt hatte, und Asorka werde zu seinen Füßen liegen. Und gerade in diesem Augenblick hatte ich ein Erlebnis, das mir einen starken Eindruck machte.

Aber ich muß alles offen bekennen: ob nun infolge meiner Nervenzerrüttung oder infolge der Eindrücke in der neuen Wohnung oder infolge der neuerdings über mich gekommenen Melancholie, kurz, ich war gleich von dem Einbruch der Dämmerung an allmählich und stufenweise in denjenigen Seelenzustand hineingeraten, der jetzt während meiner Krankheit nachts bei mir so häufig vorkommt und den ich ›mystische Angst‹ nenne. Es ist dies eine überaus peinliche, qualvolle Furcht vor etwas, was ich selbst nicht zu definieren vermag, vor etwas Unbegreiflichem, das in der natürlichen Ordnung der Dinge nicht existiert, das aber unfehlbar, vielleicht gleich im nächsten Augenblick, sich verwirklichen, allen Vernunftgründen zum Trotz zu mir kommen und als unwiderlegliche, schreckliche, grauenhafte, unerbittliche Tatsache vor mich hintreten wird. Diese Furcht wächst gewöhnlich immer stärker und stärker heran, ohne sich an irgendwelche Gründe des Verstandes zu kehren, so daß schließlich der Verstand, obwohl er in diesen Augenblicken vielleicht noch größere Klarheit besitzt als sonst, schlechterdings keine Möglichkeit hat, den Empfindungen entgegenzuwirken. Er findet kein Gehör, er ist nutzlos, und durch diese Zwiespältigkeit wird die ängstliche Pein der Erwartung noch vermehrt. Ich glaube, von dieser Art ist die schreckliche Empfindung der Leute, die sich vor Leichen fürchten. Aber bei mir wird die Qual noch durch die Undefinierbarkeit der Gefahr gesteigert.

Ich stand mit dem Rücken nach der Tür und nahm gerade meinen Hut vom Tisch; in diesem Augenblick kam mir plötzlich der Gedanke, wenn ich mich umsähe, würde ich bestimmt den alten Smith erblicken; zunächst werde er sachte die Tür öffnen, auf der Schwelle stehenbleiben und im Zimmer umherschauen; dann werde er leise mit gesenktem Kopf eintreten, sich vor mich hinstellen, mich mit seinen trüben Augen anstarren und mir auf einmal mit seinem zahnlosen Mund gerade ins Gesicht lachen, lange und unhörbar, und sein ganzer Körper werde von diesem Lachen erschüttert werden und lange hin und her schwanken. Diese ganze Vision stand mir auf einmal mit größter Klarheit und Deutlichkeit vor dem geistigen Auge, und gleichzeitig bildete sich bei mir die volle unerschütterliche Überzeugung heraus, daß das alles unfehlbar und unabwendbar geschehen werde, ja, daß es bereits geschehe und ich es nur nicht sähe, weil ich mit dem Rücken nach der Tür stände, und daß sich gerade in diesem Augenblick die Tür vielleicht schon öffne. Schnell drehte ich mich um, und was sah ich? Die Tür öffnete sich wirklich, sachte und unhörbar, ebenso wie ich mir das gerade vorgestellt hatte. Ich schrie auf. Lange Zeit erschien niemand, als ob die Tür sich von selbst geöffnet hätte; auf einmal zeigte sich auf der Schwelle ein seltsames Wesen: seine Augen blickten mich, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte, starr und unverwandt an. Ein kalter Schauer lief durch alle meine Glieder. Zu meinem größten Schrecken sah ich, daß es ein Kind, ein Mädchen war, und wenn es sogar der alte Smith selbst gewesen wäre, so wäre ich über ihn vielleicht nicht so erschrocken, wie über die seltsame, unerwartete Erscheinung dieses Kindes in meinem Zimmer zu einer solchen Tageszeit.

Ich habe bereits gesagt, daß die Kleine die Tür so unhörbar und langsam öffnete, als ob sie sich fürchtete hereinzukommen. Als sie in der Tür erschien, blieb sie auf der Schwelle stehen und sah mich lange mit einem an Erstarrung grenzenden Erstaunen an; endlich tat sie sachte und langsam zwei Schritte vorwärts und blieb vor mir stehen, immer noch ohne ein Wort zu sprechen. Ich musterte sie nun aus größerer Nähe. Es war ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren, von kleiner Statur, mager und blaß, als ob sie eben erst eine schwere Krankheit durchgemacht hätte. Um so heller funkelten ihre großen schwarzen Augen. Mit der linken Hand hielt sie über der Brust ein altes, zerrissenes Tuch zusammen, das sie um ihren noch von der Abendkälte zitternden Oberkörper geschlagen hatte. Ihren Anzug konnte man geradezu als Lumpen bezeichnen; das dichte, schwarze Haar war ungekämmt und zerzaust. So standen wir ein paar Minuten lang da und blickten einander unverwandt an.

»Wo ist der Großvater?« fragte sie endlich mit kaum hörbarer, heiserer Stimme, wie wenn ihr die Brust oder die Kehle weh täte.

Meine ganze mystische Angst verflog bei dieser Frage. Da fragte jemand nach Smith; also hatte ich unerwartet eine Spur von ihm gefunden.

»Dein Großvater? Aber der ist ja schon gestorben!« erwiderte ich, da ich in keiner Weise darauf vorbereitet war, auf eine solche Frage zu antworten, bereute aber meine Antwort sofort. Eine Weile blieb sie noch in der früheren Haltung stehen; dann aber fing sie auf einmal an am ganzen Leib zu zittern, und zwar so stark, als ob ein gefährlicher nervöser Anfall im Anzug sei. Ich wollte sie schon anfassen und halten, damit sie nicht hinfiele; aber nach einigen Augenblicken wurde ihr besser, und ich sah deutlich, daß sie gewaltsame Anstrengungen machte, um mir ihre Erregung zu verbergen.

»Verzeih mir, verzeih mir, mein Kind!« sagte ich. »Ich habe das so plötzlich ausgesprochen, und vielleicht ist es gar nicht einmal richtig . . . du Ärmste! . . . Wen suchst du denn? Den alten Mann, der hier gewohnt hat?«

»Ja«, flüsterte sie mühsam und sah mich ängstlich an.

»Hieß er Smith? Ja?«

»J-ja!«

»Der ist . . . nun ja, der ist allerdings gestorben . . . Aber gräme dich nicht zu sehr, liebes Kind! Warum bist du denn nicht schon früher einmal hergekommen? Von wo kommst du jetzt? Er ist gestern begraben worden; er war ganz plötzlich und unerwartet gestorben . . . Also du bist seine Enkelin?«

Das Mädchen antwortete auf meine hastigen, ungeordneten Fragen nicht. Schweigend wandte sie sich ab und ging sachte aus dem Zimmer. Ich war so überrascht, daß ich sie nicht zurückhielt und sie nicht weiter fragte. Auf der Schwelle blieb sie noch einmal stehen, wandte sich halb mir zu und fragte:

»Ist Asorka auch gestorben?«

»Ja, Asorka ist auch gestorben«, antwortete ich. Die Frage erschien mir sonderbar; sie klang, als ob die Kleine davon überzeugt wäre, daß Asorka jedenfalls mit dem alten Mann zugleich gestorben sein müsse.

Als das Mädchen meine Antwort vernommen hatte, verließ sie unhörbar das Zimmer und schloß behutsam hinter sich die Tür.

Einen Augenblick darauf lief ich ihr nach; ich ärgerte mich sehr darüber, daß ich sie hatte fortgehen lassen. Sie war so leise hinausgegangen, daß ich nicht hatte hören können, wie sie die nach der Treppe führende Flurtür öffnete. ›Die Treppe kann sie noch nicht hinunter sein‹, dachte ich und blieb stehen, um zu horchen. Aber alles war still, und es waren keine Schritte zu hören. Es klappte nur irgendwo in einem tieferen Stockwerk eine Tür; dann wurde wieder alles still.

 

Eilig begann ich die Treppe hinunterzusteigen. Die Treppe von meiner Wohnung im fünften Stock nach dem vierten Stock war eine Wendeltreppe; vom vierten Stock an begann eine gerade Treppe. Es war eine jener unsauberen, immer dunklen Treppen, wie man sie gewöhnlich in Mietskasernen mit kleinen Wohnungen findet. In diesem Augenblick war es auf ihr schon völlig dunkel. Tastend stieg ich nach dem vierten Stock hinunter; hier blieb ich stehen und hatte auf einmal ein Gefühl, als ob ich angestoßen und darauf aufmerksam gemacht würde, daß hier jemand auf dem Flur war und sich vor mir versteckte. Ich begann mit den Händen umherzutasten; ganz in einer Ecke stand das Mädchen mit dem Gesicht zur Wand und weinte still und lautlos.

»Höre, mein Kind, warum fürchtest du dich?« sagte ich. »Ich habe dich so erschreckt; es tut mir leid. Dein Großvater hat, als er starb, noch von dir gesprochen; das waren seine letzten Worte . . . Ich habe auch noch Bücher von ihm; wahrscheinlich gehören sie dir. Wie heißt du denn? Wo wohnst du? Er sagte, in der Sechsten Linie . . .«

Aber ich konnte nicht zu Ende sprechen. Sie schrie erschrocken auf, anscheinend darüber, daß ich wußte, wo sie wohnte, stieß mich mit ihren dünnen, mageren Armen zurück und lief die Treppe hinunter. Ich eilte ihr nach; ich konnte noch ihre Schritte unten hören. Auf einmal hörten sie auf . . . Als ich auf die Straße hinausstürzte, war das Mädchen nicht da. Ich lief bis zum Wosnessenskiprospekt und sah, daß all mein Suchen vergeblich war: sie war verschwunden. »Wahrscheinlich hat sie sich schon beim Hinuntersteigen von der Treppe irgendwo vor mir versteckt«, dachte ich.

Elftes Kapitel

Aber kaum hatte ich das nasse, schmutzige Trottoir des Prospektes betreten, als ich mit einem Passanten zusammenstieß, der, anscheinend in tiefen Gedanken, mit gesenktem Kopf eilig dahinging. Zu meinem größten Erstaunen erkannte ich den alten Ichmenew. Dies war für mich ein Abend der unerwarteten Begegnungen. Ich wußte, daß der alte Mann vor drei Tagen ernstlich erkrankt war, und nun traf ich ihn plötzlich bei solchem feuchten Wetter auf der Straße. Zudem war er auch früher abends nie ausgegangen, und seit Natascha das Haus verlassen hatte, das heißt seit beinah einem halben Jahr, war er ein richtiger Stubenhocker geworden. Er freute sich außerordentlich über das Zusammentreffen mit mir, wie jemand, der endlich einen Freund gefunden hat, mit dem er sich aussprechen kann, ergriff meine Hand, drückte sie kräftig und zog mich, ohne zu fragen, wohin ich ginge, mit sich fort. Er war über etwas in Aufregung, hastete und redete abgebrochen. »Wo mag er nur gewesen sein?« dachte ich bei mir. Ihn danach zu fragen wäre unnütz gewesen; er war furchtbar mißtrauisch geworden und witterte manchmal in der harmlosesten Frage oder Bemerkung eine Kränkung, eine beleidigende Anspielung.

Ich blickte ihn von der Seite an: sein Gesicht sah krankhaft aus; er war in der letzten Zeit sehr abgemagert; rasiert hatte er sich seit einer Woche nicht. Sein ganz ergrautes Haar hing unordentlich unter dem verbeulten Hut hervor und lag in langen Strähnen auf dem Kragen seines alten, abgetragenen Mantels. Ich hatte schon früher bemerkt, daß er manchmal wie geistesabwesend war; er vergaß zum Beispiel, daß er nicht allein im Zimmer war, redete mit sich selbst und gestikulierte mit den Händen. Es war peinlich, ihn anzusehen.

»Nun, wie geht's, Wanja, wie geht's?« sagte er. »Wo kommst du her? Ich bin ausgewesen, lieber Freund, in Geschäften. Bist du gesund?«

»Sind Sie selbst gesund?« antwortete ich. »Sie waren ja noch vor kurzem krank, und da gehen Sie aus?«

Der Alte antwortete nicht, als hätte er mich gar nicht verstanden.

»Wie befindet sich Anna Andrejewna?«

»Sie ist gesund, sie ist gesund . . . Übrigens, ein bißchen kränklich ist sie auch. Sie ist so trübsinnig geworden . . . sie hat auch von dir gesprochen, warum du gar nicht zu uns kämest. Aber du warst wohl jetzt gerade auf dem Weg zu uns, Wanja? Oder nicht? Ich habe dich vielleicht gestört und halte dich von etwas ab?« fragte er plötzlich, mich mißtrauisch und argwöhnisch anblickend.

Der alte Mann war dermaßen empfindlich und reizbar geworden, daß, wenn ich ihm jetzt geantwortet hätte, ich sei nicht auf dem Weg zu ihnen, er sich unfehlbar beleidigt gefühlt und sich kalt von mir getrennt hätte. Ich beeilte mich, bejahend zu antworten, daß ich gerade vorhätte, Anna Andrejewna zu besuchen, obwohl ich wußte, daß ich dann bei Natascha zu spät kommen und sie vielleicht überhaupt nicht mehr antreffen würde.

»Nun, das ist ja schön«, erwiderte der Alte, durch meine Antwort beruhigt. »Das ist ja schön . . .«

Auf einmal verstummte er und versank in Gedanken, als ob er noch etwas unausgesprochen gelassen hätte.

»Ja, das ist schön!« wiederholte er mechanisch nach etwa fünf Minuten, wie wenn er nach seiner tiefen Versunkenheit wieder zu sich käme. »Hm! . . . Siehst du, Wanja, wir haben dich immer wie einen eigenen Sohn gehalten; Gott hat mich und Anna Andrejewna nicht mit einem Sohn gesegnet . . . da hat er uns dich gesandt, ich habe es immer so aufgefaßt. Und meine Frau auch . . . ja! Und du hast dich gegen uns immer respektvoll und zärtlich benommen wie ein leiblicher, dankbarer Sohn. Möge dich Gott dafür segnen, Wanja, so wie wir beiden alten Leute dich segnen und lieben . . . ja!«

Seine Stimme fing an zu zittern, er machte eine kleine Pause.

»Ja . . . nun aber, wie geht es dir? Du bist doch nicht krank gewesen? Weil du so lange nicht bei uns warst.«

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte von Smith, sagte zu meiner Entschuldigung, diese Angelegenheit habe mich am Kommen gehindert; außerdem sei ich wirklich beinah krank gewesen und hätte wegen all dieser Abhaltungen den weiten Weg nach der Wassili-Insel (da wohnten sie damals) nicht machen können. Ich hätte mich beinah versprochen und gesagt, daß ich trotzdem auch in dieser Zeit die Möglichkeit gefunden hatte, Natascha zu besuchen; aber ich unterdrückte dies noch rechtzeitig.

Die Geschichte von Smith interessierte den alten Mann sehr. Er wurde aufmerksamer. Als er hörte, daß meine neue Wohnung feucht und noch schlechter als die frühere sei und sechs Rubel monatlich koste, wurde er ordentlich hitzig. Er war überhaupt in der letzten Zeit sehr heftig und ungeduldig geworden. Nur Anna Andrejewna verstand es noch, in solchen Augenblicken mit ihm zurechtzukommen, und auch ihr gelang es nicht immer.

»Hm! . . . Das kommt alles von deiner Schriftstellerei, Wanja!« rief er fast zornig. »Die hat dich in die Dachstube gebracht und wird dich noch auf den Kirchhof bringen! Ich habe es dir schon damals gesagt und dich gewarnt! . . . Was macht denn B.? Schreibt er immer noch Kritiken?«

»Der ist ja schon gestorben, an der Schwindsucht. Ich glaube, ich habe es Ihnen schon gesagt.«

»Gestorben, hm! . . . gestorben! Anders konnte es auch nicht kommen. Hat er denn seiner Frau und seinen Kindern etwas hinterlassen? Du sagtest ja wohl, er sei verheiratet, nicht? . . . Wozu solche Leute nur heiraten!«

»Nein, er hat nichts hinterlassen«, antwortete ich.

»Na, da haben wir's!« rief er mit solcher Erregung, wie wenn die Sache ihn als nahen Verwandten anginge, wie wenn der verstorbene B. sein leiblicher Bruder gewesen wäre. »Nichts! Gar nichts! Weißt du, Wanja, ich habe das schon vorhergeahnt, daß es so mit ihm enden werde, schon damals, du erinnerst dich, als du ihn mir so lobtest. Das spricht sich so leicht hin: er hat nichts hinterlassen! Hm! . . . Ruhm hat er sich ja erworben, meinetwegen sogar unsterblichen Ruhm; aber vom Ruhm wird man nicht satt. Und auch was dich betrifft, Wanjuscha, so habe ich schon damals alles vorausgesehen; ich habe dich gelobt, aber im stillen habe ich alles vorausgesehen. Also B. ist gestorben? Wie sollte einer da auch nicht sterben? Ein unerfreuliches Dasein und . . . ein unerfreulicher Wohnort; da sieh!«

Und mit einer schnellen, unwillkürlichen Handbewegung wies er auf die neblige, sich vor uns hinziehende Straße, die die aus dem feuchten Dunst hervorschimmernden Laternen nur schwach beleuchteten, auf die schmutzigen Häuser, auf die von Nässe glänzenden Trottoirplatten, auf die mürrischen, ärgerlichen, durchnäßten Passanten, auf dieses ganze Bild, über welchem sich die schwarze, wie mit Kienruß überzogene Kuppel des Petersburger Himmels wölbte. Wir waren nun schon auf den Marienplatz gelangt; vor uns ragte in der Dunkelheit, von unten her durch die Gasflammen erhellt, das Denkmal des Zaren Nikolaus auf, und noch weiter hin erhob sich die finstere, gewaltige Masse der Isaakskathedrale, die sich nur undeutlich von der dunklen Farbe des Himmels abhob.

»Du hast gesagt, Wanja, er wäre ein guter, edeldenkender, sympathischer Mensch, ein Mensch mit Herz und Gemüt. Na, es ist alles dieselbe Sorte, deine sympathischen Menschen mit Herz und Gemüt! Sie verstehen weiter nichts, als die Zahl der armen Waisen zu vermehren! Hm! . . . Und auch das Sterben, meine ich, wird ihm nicht vergnüglich gewesen sein! Ja, ja! Er hätte von hier wegfahren sollen, irgendwohin, und wenn's nach Sibirien gewesen wäre! . . . Was willst du, Kind?« fragte er auf einmal, als er auf dem Trottoir ein kleines Mädchen sah, das um ein Almosen bat.

Es war ein kümmerliches, mageres Wesen, nicht älter als sieben oder acht Jahre, in schmutzige Lumpen gekleidet; die kleinen Füße steckten ohne Strümpfe in zerrissenen Schuhen. Sie suchte ihr vor Kälte zitterndes Körperchen mit einem alten kurzen Mäntelchen zu schützen, aus dem sie schon längst herausgewachsen war. Ihr hageres, blasses, kränkliches Gesichtchen war uns zugewendet; schüchtern und schweigend, mit einer Art von ergebungsvoller Furcht vor einem abschlägigen Bescheid, streckte sie uns ihr zitterndes Händchen hin. Der Alte fing bei ihrem Anblick am ganzen Leib ordentlich zu zittern an und wendete sich so schnell zu ihr hin, daß er sie sogar erschreckte. Sie fuhr zusammen und schwankte vor ihm zurück.

»Was willst du, Kind? Was willst du?« rief er. »Eine Gabe? Ja? Da hast du etwas, da . . . Nimm, da!«

Hastig und vor Aufregung zitternd, suchte er in seiner Tasche umher und zog zwei oder drei Silbermünzen heraus. Aber das kam ihm noch zuwenig vor; er holte sein Portemonnaie hervor, entnahm ihm einen Rubelschein (alles, was darin war) und legte das Geld in die Hand der kleinen Bettlerin.

»Christus behüte dich, du mein liebes kleines Kind! Gottes Engel mögen um dich sein!«

Er bekreuzte das arme Kind mehrmals mit zitternder Hand; plötzlich aber, als er bemerkte, daß ich ihm zusah, machte er ein finsteres Gesicht und ging mit schnellen Schritten weiter.

»Siehst du, Wanja, ich kann das gar nicht mit ansehen«, begann er, nachdem er ziemlich lange ärgerlich geschwiegen hatte, »wie diese kleinen, unschuldigen Wesen vor Kälte auf der Straße zittern . . . um ihrer verfluchten Mütter und Väter willen. Aber freilich, welche Mutter wird auch ein Kind bei solchem Wetter hinausschicken, wenn sie nicht selbst unglücklich ist! . . . Gewiß hat sie da in ihrem elenden Kämmerchen noch andere vaterlose Waisen sitzen, und dies ist die älteste; sie selbst, die Mutter, ist krank; und . . . hm! Es sind keine Fürstenkinder! Es gibt auf der Welt viele Kinder, Wanja, die keine Fürstenkinder sind! Hm!«

Er schwieg eine Weile, wie wenn es ihm Schwierigkeiten machte, das, was er noch sagen wollte, auszusprechen.

»Siehst du, Wanja«, begann er dann etwas verwirrt und stockend, »ich habe meiner Frau versprochen, das heißt, ich bin mit Anna Andrejewna übereingekommen, ein Waisenmädchen zur Erziehung anzunehmen, ein armes Kind, ein kleines Kind, ins Haus, ganz und gar; du verstehst? Sonst ist es uns alten Leuten doch gar zu langweilig, so allein, hm! . . . Aber, siehst du, Anna Andrejewna ist dagegen. Also rede du mit ihr darüber, weißt du, nicht so, als ob ich dich dazu veranlaßt hätte, sondern als ob du es von selbst tätest . . . überrede sie dazu . . . verstehst du? Ich wollte dich schon längst darum bitten . . . daß du sie überreden möchtest einzuwilligen; sie selbst darum so sehr zu bitten behagt mir nicht recht . . . was soll man über solche Lappalien viel reden! Was habe ich von so einem kleinen Mädchen? Ich bedarf ihrer nicht; es ist nur so zur Erheiterung . . . damit man eine Kinderstimme hört . . . übrigens möchte ich es eigentlich nur um meiner Frau willen tun; es wird ihr vergnüglicher sein, als immer nur so mit mir allein zu sitzen. Aber das ist alles nur dummes Zeug! Weißt du, Wanja, auf die Art wird es lange dauern, bis wir hinkommen; wir wollen eine Droschke nehmen; es ist zu weit zum Gehen, und Anna Andrejewna wartet gewiß schon ungeduldig auf uns . . .«

 

Es war halb acht, als wir zu Anna Andrejewna kamen.