Sprachenlernen und Kognition

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From the series: Kompendium DaF/DaZ #1
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1.2.3 Neuroplastizität und Zweitspracherwerb

Obwohl das Gehirn lange Zeit als feste Struktur gesehen wurde, die menschliches Verhalten einschränkt, wird heutzutage übereinstimmend davon ausgegangen, dass das Gehirn tatsächlich auf äußere Reize reagiert und sich ihnen anpasst. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Ausmaß des Einflusses, den der Erwerb und die Verwendung einer Zweit-, Dritt-, Viertsprache auf funktionale und strukturelle Veränderungen im Gehirn ausüben.

Green, Crinion & Price (2006) beziehen sich auf eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, dass es ein Verhältnis zwischen der Struktur des menschlichen Gehirns und bestimmten Lernaufgaben gibt. Die bekannteste Studie ist vermutlich von Maguire, Spiers, Good, Hartley, Frackowiak & Burgess (2003), die sich mit Unterschieden in der Gehirnstruktur zwischen erfahrenen und unerfahrenen Taxifahrern und Taxifahrerinnen in London beschäftigte. Diese Querschnittsstudie kam zu dem Ergebnis, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Erfahrenheit des Taxifahrers oder der Taxifahrerin und der Dichte der grauen Substanz sowie der Größe bestimmter Areale gibt. Bestimmte Erfahrungen führten also zu strukturellen Veränderungen im Gehirn.

Harding, Paul & Mendl (2004) beobachteten das Verhältnis zwischen dem Erlernen des Jonglierens und der lernbedingten Formbarkeit (Plastizität) des Gehirns. Sie verglichen eine Gruppe, die dabei war, das Jonglieren zu lernen, mit einer Gruppe, die nicht jonglieren konnte. Ihre Gehirne wurden vor dem Jongliertraining, drei Monate nach dessen Beginn und nach drei weiteren Monaten untersucht. Bei der ersten Untersuchung gab es keinen Unterschied zwischen den Gruppen bezüglich der Dichte der grauen Substanz, bei der zweiten Untersuchung gab es bei der Jongliergruppe im Vergleich zur vorherigen Messung eine signifikante, bilaterale Expansion der grauen Substanz im mittleren Bereich des Temporallappens und im linken hinteren sulcus intraparietalis. Dieser Unterschied vergrößerte sich nochmals in der Zeit nach dem zweiten Scan. In dieser Zeit jonglierten beiden Gruppen nicht. Die Plastizität war in den visuellen Bereichen ausgeprägter als in den motorischen Arealen, was womöglich mit den spezifischen Anforderungen der geübten Drei-Ball-Kaskade zusammenhängt. Die Frage ist nun: Ist auch das Erlernen einer Sprache eine Aufgabe, die strukturelle und funktionale Veränderungen im Gehirn hervorrufen kann? Diese Frage wurde bisher nur teilweise beantwortet.

Die nächste Einheit beschäftigt sich mit den spezifischen neurologischen bildgebenden Verfahren, die verwendet werden, um zu erkennen, ob die Verwendung einer Zweit- oder Drittsprache zu Veränderungen im Gehirn führt.

1.2.4 Zusammenfassung

 Die klassischen Sprachbereiche im Gehirn sind das Broca-Areal, das hauptsächlich für die Sprachproduktion zuständig ist, und das Wernicke-Areal, das hauptsächlich für das Sprachverständnis zuständig ist. Jüngere neurologische Untersuchungen schlagen allerdings differenziertere Erklärungen vor, wie zum Beispiel die Aufteilung zwischen Grammatik (Broca) und Bedeutung (Wernicke).

 Unterschiedliche Sprachen besitzen nicht jeweils einen eigenen Ort im Gehirn, sondern befinden sich in einzelnen Zell-Netzwerken innerhalb der bekannten Sprachbereiche im Gehirn.

 Bezogen auf wiederkehrende Muster beim Verlust und der Wiedererlangung (Restitution) verschiedener Sprachen gibt es fünf Muster:

 Parallele Restitution: Die Sprachen sind im gleichen Ausmaß gestört und werden gleichmäßig wiedererlangt.

 Differentielle Restitution: Die Sprachen sind in unterschiedlichem Maße gestört, aber die Wiedererlangung vollzieht sich dennoch in allen Sprachen.

 Sukzessive Restitution: Die Sprachen werden nacheinander wiedererworben.

 Selektive Restitution: Eine oder mehrere Sprachen bleiben dauerhaft gestört, während eine andere Sprache wiedererlangt wird.

 Antagonistische Restitution: Durch die Restitution einer Sprache verschlechtert sich eine andere.

1.2.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle

1 Beschreiben Sie die Struktur des Gehirns. Welche Bereiche sind für die Sprachverarbeitung zuständig?

2 Wie sind mehrere Sprachen im Gehirn dargestellt? Welche Untersuchungsergebnisse sprechen dafür?

3 Welche Arten der Aphasie und der Wiedererlangung der Sprache gibt es? Welche Faktoren spielen hierbei eine Rolle?

4 Welche Unterschiede zwischen bilingualer und multilingualer Aphasie konnten festgestellt werden?

1.3 Die Untersuchung des mehrsprachigen Gehirns

Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer)

Im 18. und 19. Jahrhundert haben Hirnforscher mit der Beschreibung unterschiedlicher Fälle begonnen, bei denen Schäden in bestimmten Gehirnarealen zu sehr spezifischen Sprachdefiziten führen können. Wie bereits in Einheit 1.2 erwähnt, waren die frühen anatomisch-klinischen Beobachtungen insofern bahnbrechend, da sie die speziellen Regionen für Sprachproduktion (Broca-Areal) und Verständnis (Wernicke-Areal) sichtbar machten. Leider war es den Forschern aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Verfahren nur auf dem Autopsie-Tisch möglich, die Stellen der Gehirnläsionen zu untersuchen, d. h. erst nach dem Tod der Patienten und Patientinnen. Erst in den frühen 1970er Jahren sind bildgebende Verfahren entwickelt worden, die es Forschern ermöglichen, bestimmte Gehirnareale mit ihren Funktionen in Verbindung zu setzen, indem sie Bilder vom lebendigen Gehirn machen. Dabei wird zwischen struktureller und funktioneller Bildgebung unterschieden.

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 die Unterschiede zwischen den verschiedenen bildgebenden Verfahren erklären können;

 die grundlegenden Unterschiede zwischen der Verarbeitung der L1 und der L2 in Bezug auf die Struktur und die elektrische Aktivität des Gehirns aufzeigen können.

1.3.1 Die Untersuchung anatomischer Unterschiede mittels struktureller Bildgebung

Die ersten Neuroimaging-Studien verwendeten Verfahren der strukturellen Bildgebungstrukturelle Bildgebung, um die anatomische Struktur des Gehirns zu untersuchen und so mögliche strukturelle Abweichungen aufgrund von Tumoren zu diagnostizieren. Die ComputertomographieComputertomographie (CT) (CT) oder die computerisierte axiale Tomographie (CAT) werden zu diesem Zweck immer noch häufig verwendet: Sie stellen eine recht schnelle und (meist) nichtinvasive Möglichkeit dar, scheibenweise oder in manchen Fällen dreidimensionale Bilder des Gehirns zu produzieren. Mithilfe dieser Technik werden die konventionellen Röntgenbilder aus vielen verschiedenen Perspektiven kombiniert und zu Querschnittsansichten des Gehirns (oder des Körpers) zusammengefügt. Jedes Querschnittsbild steht für eine Scheibe und es kann digital eine Scheibe des Gehirns wie eine Scheibe Brot abgeschnitten werden, um hineinzusehen und die Struktur zu untersuchen (vergleiche Abbildung 1.4).

Abbildung 1.4:

CT-Scan (Kurowski, Blumstein & Alexander 1996: 7)

Der Proband, der gescannt werden soll, muss sich dafür auf einen horizontal fahrenden Tisch legen. Der liegende Körper wird daraufhin durch einen Detektorring geführt, der wie ein riesengroßer Donut aussieht. In diesem rotierenden Ring befindet sich auf der einen Seite eine Röntgenröhre und auf der anderen Seite ein Detektor. Während der Ring sich um den Kopf des Probanden beziehungsweise der Probandin bewegt, durchdringen die Röntgenstrahlen den Kopf des Probanden beziehungsweise der Probandin und erstellen dabei Bilder. Scans mittels eines Computertomographen funktionieren genauso wie konventionelle Röntgenmaschinen. Die meisten Menschen sind mit Röntgenbildern des Körpers vertraut, auf denen die Organe in Grautönen und die Knochen in mehr oder weniger opakem Weiß dargestellt sind. Das liegt daran, dass die verschiedenen Gewebearten die Röntgenstrahlen unterschiedlich stark absorbieren. Knochen absorbieren ziemlich viele Röntgenstrahlen, wohingegen Gewebe mit geringer Dichte, beispielsweise Organe, weniger Strahlung in sich aufnehmen, da eine große Menge der Strahlung diese Art von Gewebe einfach durchdringt. Auf Röntgen- und CT-Scans wird Gewebe mit hoher Dichte weiß dargestellt, Gewebe mit geringer Dichte in Grautönen und Luft ist schwarz. Gesundes Gehirngewebe sieht auf einem CT-Scan grau aus, wohingegen ein Gehirntumor oder eine stark erhöhte Blutmenge aufgrund einer Gehirnblutung normalerweise als weißes Areal auf dem CT-Scan auftaucht. Gehirnläsionen und Schlaganfälle führen hingegen zur Abnahme oder sogar zum Verlust von Gewebe. Deshalb erscheinen sie auf einem CT-Scan dunkler als gesundes Gehirngewebe.

Ein ähnliches, aber detaillierteres anatomisches Bild können wir mithilfe der Aufnahmen aus der Magnetresonanztomographie (MRT oder auch MRI) erhalten. Ein Magnetresonanztomograph ähnelt dem Computertomographen insoweit, als dass auch er aus einer horizontalen Röhre besteht, in der der Patient oder die Patientin still liegt, während das Bild angefertigt wird. Anders als bei CT-Scans ist die Röhre des MRI-Scanners oft ziemlich eng; das kann für Menschen unbehaglich werden, die unter Klaustrophobie leiden. M#RI-Scanner verwenden keine Röntgenstrahlen, sondern stattdessen Magnetismus, um ein dreidimensionales Bild vom lebenden Gehirn zu erstellen. Der Ring des MRI-Scanners beherbergt einen sehr starken Magneten. Deshalb dürfen sich Personen nicht in der Nähe der Maschine aufhalten, wenn sie metallische Objekte bei sich tragen oder sich metallische Objekte in ihrem Körper befinden.

 

Der Magnet des Magnetresonanztomographen ist in der Lage, ein sehr starkes und stabiles magnetisches Feld von 0,5 bis 2,0 Tesla zu erzeugen (zum Vergleich: Das magnetische Feld der Erde hat nur ungefähr 50 Mikrotesla). Im Gehirn befinden sich Atome, die sich an dem magnetischen Feld ausrichten. Der Magnetresonanztomograph zielt mit Impulsen von Radiowellen auf das Gehirn und sorgt dafür, dass die Atome zeitweise durcheinandergeraten. Während sich die Atome neu ausrichten, geben sie Radiowellen ab, die aufgegriffen werden können, um daraus ein anatomisches Querschnittsbild zu erstellen.

Eine typische MRI-Untersuchung ist für Patienten und Patientinnen weniger angenehm als ein CT-Scan. Dem Patienten oder der Patientin werden nicht nur alle metallischen Objekte entfernt, die er oder sie bei sich trägt. Er oder sie wird zusätzlich den eher lästigen und lauten Geräuschen während einer MRI-Untersuchung ausgesetzt, während er oder sie eine Stunde oder länger möglichst regungslos liegen muss. Trotzdem ziehen die meisten Neurologen und Neurologinnen die Magnetresonanztomographie der Computertomographie vor: Die Kontrastierung ist bei CT-Scans eingeschränkt und die Patienten und Patientinnen sind während eines CT-Scans einer größeren Strahlungsmenge ausgesetzt. Magnetresonanztomographie wird als die beste Methode dafür bezeichnet, wie in ein Gehirn oder einen Körper hineingesehen werden kann, ohne ihn aufschneiden zu müssen, denn die Magnetresonanztomographie kann zusätzlich den Unterschied zwischen grauer und weißer Substanz sichtbar machen. Graue Substanz besteht hauptsächlich aus Zellkörpern und wird größtenteils mit der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen assoziiert. Weiße Substanz besteht hauptsächlich aus Nervenfasern (Axone). Sie sind von weißem Myelin bedeckt, das der Isolierung dient. Weiße Substanz ist deshalb hauptsächlich dafür zuständig, Signale von einer Gehirnregion in eine andere zu übertragen.

In der Sprachforschung wird die strukturelle Bildgebung dazu verwendet, Gehirnstrukturen und Regionen zu lokalisieren, die Sprachfunktionen unterstützen. In einer typischen Studie werden unter Verwendung der strukturellen Bildgebung die Gehirnstrukturen (graue oder weiße Substanz) von unterschiedlichen Personengruppen verglichen, um herauszufinden, ob die jeweilige Gehirnstruktur mit Sprachfähigkeiten in Zusammenhang gebracht werden kann (Richardson & Price 2009). Mechelli, Grinion, Noppeney, O’Doherty, Ashburner, Frackowiak & Price (2004) untersuchten die Gehirne von mehrsprachigen Personen in einer voxel-basierten Morphologie-Studie. Sie haben eine Gruppe einsprachiger Probanden und Probandinnen mit einer Gruppe früher bilingualer Personen (Beginn des L2-Erwerbs mit weniger als fünf Jahren) und einer Gruppe später bilingualer Personen (Beginn des L2-Erwerbs zwischen zehn und 15 Jahren) verglichen. Ein zusätzliches Kriterium war, dass die erste Vergleichsgruppe die Sprache regelmäßig seit dem Erlernen verwendeten, wohingegen die späten Lerner die Sprache nur während der letzten fünf Jahre regelmäßig verwendet haben. In dem Forschungsbericht werden keine Informationen zur Art oder Häufigkeit der Verwendung oder zu den möglichen Auswirkungen von Unterschieden zwischen der L1 und der L2 erörtert. Doch die Ergebnisse dieser ersten Studie zeigen eine höhere Dichte der grauen Substanz im inferioren Parietalkortex bei den bilingualen im Vergleich zu den monolingualen Personen. Dieser Effekt ist bei den frühen bilingualen Probanden und Probandinnen stärker als bei den späten. In einer zweiten Studie untersuchten Mechelli et al. (2004) italienische Englischlerner mit unterschiedlichem Erwerbsbeginn (im Alter von zwei bis 34 Jahre) sowie mit unterschiedlichen L2-Kompetenzstufen. Eine sehr hohe positive Korrelation wurde zwischen der Dichte der grauen Substanz und dem Alter nachgewiesen, in dem der L2-Erwerb begonnen hatte. Das deutet darauf hin, dass es zu einer Verdichtung der grauen Substanz kommt, wenn eine Sprache erlernt wird. Diese Verdichtung geht mit zunehmendem Alter zurück.

In einer aktuelleren Studie von Luk, Bialystok, Craik & Grady (2011) wurde eine spezielle Variante der strukturellen Bildgebung verwendet, um einsprachige mit mehrsprachigen älteren Erwachsenen zu vergleichen: die sogenannte Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI). Bei der DTI wird ein MRI-Scanner verwendet, der Schwerpunkt liegt jedoch auf der bildlichen Erfassung der Datenwege weißer Substanz im Gehirn. Die Daten zeigen, dass die weiße Substanz in der Gruppe der mehrsprachigen Personen in höherem Maße unversehrt vorliegt, insbesondere im corpus callosum (der Balken oder das Bündel der Nervenfasern, das beide Hemisphären verbindet). Das deutet darauf hin, dass die Strukturen der weißen Substanz im Alterungsprozess bei mehrsprachigen im Vergleich zu einsprachigen Personen besser erhalten bleiben.

Green, Crinion & Price (2006) erörtern kurz eigene Ergebnisse aus Studien mit bi- und multilingualen Personen. Dabei erwähnen sie, dass »preliminary analyses indicate an area in the left parietal context that shows a significant effect of the number of languages spoken« (Green et al. 2006: 116). Auf der Grundlage der besprochenen Literatur und ihrer eigenen Erkenntnisse schließen sie darauf, dass der Erwerb einer zweiten Sprache zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führt, insbesondere zur weiteren Entwicklung der grauen Substanz oder zur Zunahme von grauer Substanz in bestimmten Bereichen.

In Kombination deuten die Studien darauf hin, dass der L2-Erwerb vor allem im jungen Alter zu einer Zunahme der grauen Substanz führt (zumindest in bestimmten Gehirnregionen) und zur Verbesserung des Zustands der weißen Substanz im alternden Gehirn. Es wird vermutet, dass die ständigen kognitiven Übungen aufgrund von Mehrsprachigkeit (zum Beispiel Sprachenwechsel) für das alternde Gehirn von Vorteil sind. Es hat sich herausgestellt, dass das mehrsprachige Gehirn besser bei der Bewältigung bestimmter exekutiver Aufgaben ist. Außerdem stellt sich heraus, dass bei mehrsprachigen Personen Demenz in einem höheren Alter diagnostiziert wird als bei einsprachigen Personen (Bialystok, Craik & Freedman, 2007). Abschließend lässt sich sagen, dass das Gehirn einerseits die Variationsmöglichkeiten beim Zweitsprachenerwerb einschränkt. Andererseits ist das Gehirn plastisch und durch bestimmte Erfahrungen veränderbar. Die Grenzen sowohl der Einschränkungen als auch der Formbarkeit des Gehirns müssen jedoch noch bestimmt werden.

1.3.2 Die Untersuchung der aktiven Areale mittels Verfahren der funktionellen Bildgebung

Die strukturelle Bildgebung ist immer noch weitverbreitet, um Anomalien zu lokalisieren und Strukturen bei unterschiedlichen Personengruppen zu vergleichen: Etwa bei Legasthenikern, bei Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen und bei älteren Personen. In den vergangenen Jahrzehnten überwogen jedoch die Verfahren der funktionellen Bildgebung in der psycho- und neurolinguistischen Forschung, denn diese Verfahren ermöglichen die Untersuchung der Gehirnaktivität, indem Veränderungen der Durchblutung, elektrische Aktivität oder magnetische Felder beobachtet werden. Unser Gehirn ist pausenlos aktiv und wenn es Informationen verarbeitet, übertragen die Nervenzellen im Gehirn Informationen an andere Nervenzellen. Die Kommunikation dieser Nervenzellen (oder Neuronen) verursacht einen elektrischen Strom im Gehirn. Wenn eine ausreichende Anzahl Neuronen an der Verarbeitung derselben Information beteiligt ist, erzeugen sie ein elektrisches und magnetisches Feld, das außerhalb des Schädels gemessen werden kann. Bei den Verfahren der funktionellen Bildgebung wird zwischen solchen unterschieden, die zur Lokalisierung von Gehirnregionen verwendet werden – sogenannte Wo-Verfahren – und solchen, bei denen die Bildgebung auf Basis von magnetischer oder elektrischer Aktivität im Gehirn entsteht, die Wann-Verfahren.

Wann-Verfahren, die elektromagnetische Aktivität verwenden

Der Kommunikationsprozess innerhalb des Gehirns erfolgt durch das Feuern der Neuronen, das zu elektrischer Strömung führt. Dieser Strom fließt in Zellen hinein und wieder heraus und erzeugt dabei in geringem Abstand Dipole mit negativer und positiver elektrischer Ladung. Wenn viele neuronale Dipole dieselbe Art von Input erhalten und ähnlich ausgerichtet sind (positiv oder negativ), addieren sie sich auf und können dann mittels der Elektroenzephalographie (EEG) außerhalb des Schädels gemessen werden. Während einer EEG-Aufzeichnung trägt der Proband oder die Probandin eine Kappe, die mit 32, 64 oder sogar noch mehr Elektroden bestückt ist. Die Kappe ist so beschaffen und wird so aufgesetzt, dass jede Elektrode an einer bestimmten Stelle auf die Kopfhaut trifft; jede Elektrode zeichnet die elektrische Aktivität von Tausenden Neuronen auf. Das Ergebnis stellt ein Gesamtbild der Gehirnaktivität dar. Dabei wird pro positionierter Elektrode eine Wellenlinie ausgegeben. Als ereigniskorrelierte Hirnpotentiale (ERPs) werden die Veränderungen in der elektrischen Strömung bezeichnet, die sich aufgrund eines spezifischen Stimulus oder einer bestimmten Aktivität ereignen, zum Beispiel durch ein Wort oder ein Bild. Um herauszufinden, welcher Teil des EEG die durch den Stimulus erzeugte Aktivität abbildet, sind mehrfache Messungen vonnöten. Denn die Aufzeichnung erfasst auch viele irrelevante Gehirnaktivitäten zusammen mit den ereigniskorrelierten Hirnpotentialen.

Für ein aussagekräftiges Ergebnis muss das EEG deshalb zeitlich auf den spezifischen Stimulus eingegrenzt und der Durchschnitt ermittelt werden. Danach erst wird das ereigniskorrelierte Hirnpotential sichtbar, denn die nicht zeitlich eingegrenzten, irrelevanten Gehirnaktivitäten werden ausgeglichen.

Viele Studien, die ereigniskorrelierte Hirnpotentiale zur Untersuchung von Sprachverarbeitung verwenden, machen sich das Erwartungsverletzungsparadigma zunutze. Bei diesem Verfahren werden ereigniskorrelierte Hirnpotentiale miteinander verglichen, die als Reaktion auf zwei Sätze entstehen. Die beiden Sätze unterscheiden sich nur in einem einzigen Aspekt. Es wird davon ausgegangen, dass die Unterschiede in der Wellenform der beiden ERPs die Verarbeitungsunterschiede im Gehirn abbilden. Es ist möglich, diese Abweichung auf den einen Aspekt zurückzuführen, der in den beiden Sätzen anders war. Wenn zum Beispiel der zeitliche Verlauf der semantischen Verarbeitung untersucht werden soll, kann die Reaktionen des Gehirns auf die Wörter Buch und Wasser in den folgenden beiden Sätzen verglichen werden:


(1)Ich werde dieses Buch im Zug lesen.
(2)Ich werde dieses Wasser im Zug lesen.

Die daraus resultierenden ERP-Effekte oder -Komponenten, das heißt der Unterschied in der Aktivierung zwischen den beiden Sätzen ab Beginn des Wortes Buch beziehungsweise Wasser, werden oft nach der Polarität und dem Zeitpunkt benannt, an dem sie ihren Höhepunkt erreichen (N400 ist eine negativ gerichtete Welle, der Höhepunkt liegt bei 400 Millisekunden nach Beginn); oder sie werden nach der Verteilung und der Polarität benannt (LAN ist links anterior negativ bei verschiedenen Latenzzeiten nach Beginn). Im Verlauf der Jahre sind mit Experimenten mittels ereigniskorrelierter Hirnpotentiale verschiedene Komponenten der Hirnpotentiale identifiziert worden, die überwiegend mit bestimmten Aspekten des Sprachverstehens in Verbindung gebracht werden können.

N400 ist die bekannteste ERP-Komponente, die bei Verstößen gegen die Semantik sicher beobachtet werden kann (Kutas & Hillyard 1980), so wie in Ich werde dieses Wasser im Zug lesen. Diese Komponente zeigt einen negativen Ausschlag, der bei ungefähr 400 Millisekunden seinen Höhepunkt erreicht, nachdem ein semantisch nicht plausibles Wort verarbeitet worden ist. Am besten ist dieser Effekt über den zentralen parietalen Arealen der Kopfhaut sichtbar (vergleiche dazu Abbildung 1.5 weiter unten). N400 ist stärker bei Wörtern, die schwer in einen Satz integriert werden können und schwach bei leicht integrierbaren Wörtern. Es wäre zum Beispiel einfach, das Wort Pferd in so einem Satz zu verarbeiten: Der Cowboy ritt auf dem Pferd. Es wäre weitaus aufwändiger für das Gehirn, das Wort Pferd in diesem Satz zu verarbeiten: Der Einbrecher bewegte sein Pferd. Wenn die ERP-Wellenformen bei einer Person als Reaktion auf das Wort Pferd in diesen beiden Sätzen verglichen werden, dann würden die Gehirnwellen einen relativen negativen Höhepunkt als Reaktion auf das Wort Pferd im Satz Der Einbrecher bewegte sein Pferd aufweisen. Der Höhepunkt steht für die erhöhte Aktivität und kann die relative Schwierigkeit bei der Verarbeitung der Information abbilden.

 

Kutas und Hillyard (1983) haben zuerst gezeigt, dass morphosyntaktische Verstöße andere ERP-Komponenten hervorrufen als semantische Verstöße. Ihre Studie umfasste sowohl semantische Anomalien als auch deplatzierte finite und infinite Verben. Die semantischen Anomalien erzeugten ein N400, wohingegen alle morphosyntaktischen Anomalien frontal zentral negativ bei 300–400 Millisekunden und rückwärtig positiv bei 300 Millisekunden nach Beginn auftraten. Sie leiten daraus ab, dass Semantik und Syntax über separate neurale Verarbeitungssysteme gesteuert werden. Aber es ist auch denkbar, dass diese Annahme schlichtweg die vorherrschenden Sprachtheorien dieser Zeit wiederspiegelt, in denen strikt zwischen Syntax und Semantik getrennt wurde.

Die ermittelte spät positive Reaktion erreicht bei syntaktischen Verstößen bei 600 Millisekunden nach Beginn ihren Höhepunkt, beginnt bei 500 Millisekunden und dauert bis zu 800 oder 1000 Millisekunden an. Am deutlichsten wird sie auf der Rückseite des Kopfes sichtbar (vergleiche 1.5). Osterhout & Holcomb (1992) bezeichneten dies zuerst als einen syntaktischen Effekt und nannten es den P600-Effekt. Der P600-Effekt wird von einer Vielzahl syntaktischer Verstöße ausgelöst. Dazu gehören morphosyntaktische Verstöße und Verstöße gegen die Kategorienerwartung. In einem Satz wie Der Cowboy hat sein Pferd reiten muss der Leser oder die Leserin die falsche Zeit des Verbs korrigieren und den Satz neu analysieren, um die verarbeiteten Informationen zu verstehen. Das zeigt sich im größeren positiven Ausschlag bei 600 Millisekunden für reiten im Vergleich zur korrekten Zeitform geritten. Außer bei syntaktischen Verstößen wurde der P600-Effekt auch als Reaktion auf grammatikalisch korrekte Sätze mit unterschiedlicher Komplexität gemessen (Kaan, Harris, Gibson & Holcomb 2000).

Abbildung 1.5:

ERP-Wellenformen nach Loerts, Stowe & Schmid (2013: 573)

Abbildung 1.5 zeigt Wellenformen ereigniskorrelierter Hirnpotentiale als Reaktion auf ein Zielwort, das innerhalb eines Satzes semantisch und grammatikalisch korrekt war (die schwarze Linie), und auf das Wort, als es semantisch und grammatikalisch nicht vollständig korrekt war. Die X-Achse zeigt die Latenzzeit in Millisekunden nach dem Beginn des Wortes und die Y-Achse zeigt die Höhe der Mikrovolt, die zu den bestimmten Zeitpunkten gemessen wurden. Beachten Sie, dass positiv nach unten und negativ nach oben ausgerichtet ist. Aus unbekannten Gründen ist dies in der Forschung so üblich.

Die räumliche Auflösung in ereigniskorrelierten Hirnpotentialen ist mangelhaft, ihre zeitliche Auflösung nach Millisekunden ist jedoch hervorragend. Deshalb ist das ERP-Verfahren eine erprobte und verlässliche Messmethode der Sprachverarbeitung in Echtzeit. Einige Forscher und Forscherinnen bevorzugen die Magnetenzephalographie (MEG) anstelle der Elektroenzephalographie. Ein Magnetenzephalograph misst magnetische Felder, die von elektrischen Strömungen im Gehirn produziert werden. Das magnetische Feld wird in Reaktion auf so genannte Events von Hunderten Sensoren in einem helmartigen Scanner gemessen, der um den Kopf des Probanden oder der Probandin herum aufgebaut wird. Der Magnetenzephalograph ähnelt dem Elektroenzephalographen, ermöglicht jedoch eine bessere Lokalisierung der Quelle, da die magnetischen Felder nicht so sehr vom Schädel verzerrt werden wie die elektrische Aktivität, die vom Elektroenzephalographen gemessen wird. Ein Nachteil des Magnetenzephalographen ist, dass er nur neurale Strömungen erkennen kann, die parallel zur Oberfläche des Schädels fließen.

Bei der Verwendung von Wann-Verfahren in der Zwei- und Mehrsprachigkeitsforschung wird hauptsächlich der Frage nachgegangen, ob bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieselben Reaktionen und dieselben zeitlichen Abläufe und Ausschläge der Reaktionen in ihrer Zweitsprache messbar sind wie bei einsprachigen Personen. Ein wichtiger Vorteil dieses Verfahrens ist: Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind sich nicht bewusst, dass sie auf bestimmte Aspekte der Sprache und unbewusste Reaktionen auf Verstöße oder Komplexität in der L2 getestet werden. Wenn weder N400-Effekte noch P600-Effekte während der Verarbeitung von semantischen und syntaktischen Verstößen in der Zweitsprache nachgewiesen werden, kann das darauf hindeuten, dass der L2-Lerner den Fehler nicht sieht oder hört. Eine verspäteter N400- oder P600-Effekt könnte auf langsamere Verarbeitung hindeuten und ein geringerer Ausschlag des N400- oder P600-Effekts könnte eine weniger genaue Verarbeitung der Verstöße oder Komplexität in der L2 widerspiegeln.

Der Großteil der Forschung bis heute hat gezeigt, dass fortgeschrittene L2-Lerner in der Lage sind, semantische Aspekte in ihrer Zweitsprache zu verarbeiten (wie in N400-Effekten (verspätet) abgebildet). Es scheint allerdings insbesondere für ältere Lerner schwierig zu sein, syntaktische Eigenschaften in der L2 ähnlich wie in der Muttersprache zu verarbeiten. Einige Studien zeigen keine P600-Effekte als Reaktion auf syntaktische Verstöße in der L2, was darauf hindeuten könnte, dass die L2-Lerner den Fehler nicht bewusst bemerkt und verarbeitet haben. Andere wiederum zeigen eine verzögerte oder abgeschwächte P600-Reaktion bei L2-Sprechern: Das ist ein Hinweis auf eine weniger detailgenaue Verarbeitung der syntaktischen Verstöße in der L2 (vergleiche die Übersicht von van Hell & Tokowicz 2010).

Das Vorhandensein oder das Fehlen von P600-Effekten könnte in Verbindung mit Ähnlichkeiten zwischen der L1 und der L2 stehen, aber auch mit der Kompetenzstufe (Loerts 2012). Eine interessante Longitudinalstudie zu ereigniskorrelierten Hirnpotentialen untersuchte die Gehirnaktivierung als Reaktion auf syntaktische Strukturen der L2, während die Lerner im Verlauf des ersten Jahres formalen Unterrichts an der Universität in der L2 Französisch Fortschritte erzielten (McLaughlin, Tanner, Pitkänen, Frenck-Mestre, Inoue, Valentine & Osterhout 2010). Aufgrund der Daten konnte man darauf schließen, dass die Lerner zu Beginn grammatikalische Fehler als lexikalische Einheiten verarbeiten. Dabei zeigten sich N400-Effekte als Reaktion auf einen Regelverstoß nach vier Wochen Unterricht in der L2 Französisch. Während der zweiten Testphase und nach ungefähr 16 Wochen Unterricht traten bei einigen immer noch N400-Effekte auf, wohingegen bei anderen eine verzögerte Reaktion auf Regelverstöße ähnlich wie in der Muttersprache zu beobachten war (erkennbar in Form von kleinen P600-Effekten). Während der dritten Phase und nach 26 Wochen Unterricht war bei den meisten Studentinnen und Studenten verlässlich eintretende P600-Effekte nachweisbar, die auf muttersprachenähnliche Verarbeitung, Korrektur oder Neuanalyse syntaktischer Verstöße hindeuten. Die Autoren vermuteten, dass die Abweichungen in der zweiten Phase auf Unterschiede in der Erwerbsgeschwindigkeit hindeuten.

Wo-Verfahren, die hämodynamische Aktivität verwenden

Da Elektroenzephalographen und Magnetenzephalographen nicht sehr nützlich für die Lokalisierung von Aktivität sind, können Wo-Verfahren verwendet werden, um Fragen hinsichtlich der Aktivierung spezifischer Regionen im Gehirn zu beantworten. Das bekannteste Wo-Verfahren ist die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI). Diese Methode verwendet die MRI-Technologie, bezieht aber die Tatsache mit ein, dass Blut in einen bestimmten Teil des Gehirns fließt, wenn Gruppen von Neuronen in diesem Bereich aktiv werden (zum Beispiel wenn dieser Teil genutzt wird, um auf einen speziellen Stimulus wie ein Geräusch, ein Bild oder einen Film zu reagieren). In unserem Blut befindet sich Eisen und wenn frisches Blut fließt, dann verzerrt das Eisen das magnetische Feld. Ein fMRI-Scanner kann dies aufzeichnen. Genauer gesagt findet eine Veränderung im Blutfluss statt, wenn Neuronen in einem bestimmten Gebiet des Gehirns kommunizieren. Dabei wird Sauerstoff absorbiert und das Blut desoxidiert. In Studien mit funktioneller Magnetresonanztomographie wird das Verhältnis zwischen oxidiertem (mit Sauerstoff angereicherten) und desoxidiertem Hämoglobin im Blut gemessen. Dieser BOLD-Kontrast, der blood oxygenation level dependent (›Abhängigkeit vom Blutsauerstoffgehalt‹) wird mit dem fMRI-Gerät gemessen. Während ein strukturelles MRI aus mehreren Momentaufnahmen besteht, wird ein fMRI verwendet, um einen Film davon zu produzieren, was im Gehirn während der Verarbeitung von (linguistischen) Stimuli passiert.