Seltene Erde

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Seltene Erde
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Eva Raisig

Seltene Erde

Roman


Inhalt

Prolog

ABHANDENKOMMEN

WAHRSCHEINLICHKEITEN

ECCE HOMO

UNTERWEGS

DER BLICK VON OBEN

Epilog

Abbildungsnachweise

Prolog
14. Februar 1990, 40,472229 AE von der Erde.

Weit hinter mir liegt die Heimat. Viel kann ich von hier aus nicht erkennen. Ich blicke mit nachtblinden Augen ein letztes Mal zurück auf die schlechteste aller Welten, die mir zugleich doch immer auch die beste war. Schwarz ist es vor allem und der Rest sehr klein.

Zu Hause, so höre ich, ist Mittwoch, der Tag der Liebenden zudem, den ihr mir nennt zum Auseinandergehen, beiläufig, als wär’ es Zufall. Das Jahr – welches Jahr – ist noch nicht alt, heißt das und sagt mir wenig sagt mir das. Wie viel Zeit mag mir noch bleiben für einen letzten Blick? Wie weit kann ich unseren Abschied dehnen? Wann genau ist mir eigentlich jegliches Zeitgefühl abhandengekommen? Hier draußen zähle ich die Tage, die es nicht mehr gibt, und versuche, mich an Stunden zu erinnern, die ich vergessen habe. Alles lang her. Ich sage Stunden und Tage in alter Routine, sage Minuten und Sekunden, aber einzig noch, weil mir der Klang gefällt. Der Klang gefällt. Angenehm vertraut wie alte Bekannte, die einmal Bedeutung hatten in meinem Leben. Sage Wochen. Monate. Eine vage Erinnerung, da war was. Was war da. Sage, ich reise seit Jahren, und das ist sicher, viel mehr aber nicht. Kein Restlein übrig, das temporär gewiss zu nennen wär’. Kein Anhaltspunkt, an dem ich mich festhalten könnte. Wegweg. Keine Zeit mehr, nur noch Raum, und der ohne einen Rand, über den ich mich stürzen könnte. Kein Riss in meiner Routine. Nicht die leiseste Störung meines Ereignishorizonts. Ohne Rast bin ich und ohne Richtung. Kein Hafen in Sicht und niemals guter Wind. Ich dümpele dahin! Ich bin die Flaschenpost von heute fünf Milliarden Robinsons, die auf ihrer Welteninsel die Dunkelheit absuchen. Ich bin die Hoffnung der Menschen.

Das Wichtigste, so scheint’s mir nun, da ihr mir fast entschwunden seid, ist lange nicht gesagt. Ich krame zwischen Schimpansengeschrei und Beethovens Fünfter in meinem Aluminiumleib, suche nach etwas, das irgendwem etwas sagte, höre Shalám, Shalom, Bonjour tout le monde, nur aus mir selbst heraus, immer wieder. Nicht ein einziger Zuhörer ließ sich finden in all der Zeit und niemand, der meine Bilder betrachtet hätte. Wir sind hier glücklich und ihr seid dort glücklich. Einmal noch

Hallo?

in den Raum

Hallo –?

Aber nichts. Nichtsnichts.

Nur immerwährende Nacht. Kein Wesen hier draußen, dem ich meine Geschichten überreichen könnte. Mausmutterseelenallein stehe ich allein auf der Kommandobrücke, Kommandantin, Befehl und Brücke in einer Person. Wie oft wollte ich mich schon hinabstürzen oder hinauf, elende Perspektive. Die Schwere meiner Fracht loswerden. Dieses eine Pixel, das mir lange schon gegen die Aluminiumzelle drückt, über die Kante hieven. Den Schwerpunkt überwinden, Fluchtgeschwindigkeit erreichen und dann kein Zurück mehr. Der einzige Weg ins Freie, der mir offensteht.

Der Tag des Abschieds also ein Mittwoch in der Heimat. Beißend kalt ist es bis in die Lungen und angenehm kühl. Ein lauer Wind vom Meer ins Landesinnere. Irgendwo in den Hügeln brennt der trockene Wald. Einer ruft eine Herrschaft aus und jemand veröffentlicht einen Bericht und viele verseuchen das Wasser. Einer macht eine Erfindung, eine nimmt ein Beil und eine schreibt ein Gedicht, einer wird geboren, noch eine wird geboren, viele sterben unterdessen und eine weitere erblickt das Licht, wie man sagt, der Welt, dann wird’s wieder dunkel und vorher war’s hell und dunkel davor, es grollt, es strahlt: ein Mittwoch wie ein Mittwoch wie ein Freitag wie ein Mittwoch, immer wieder.

Ein Flackern schon in den Gerätschaften und ich weiß, nun ist es Zeit wird es gewesen sein. So wende ich mich ein letztes Mal in eure Richtung. Drehe langsam mein Gehäuse, das sich sträubt, da der Moment gekommen ist. Noch einmal winke ich euch zu von meinem Platz hier oben und werfe jetzt den endgültig letzten Blick auf dieses Zuhause ohne Ausdehnung. Voilàvoilà. Alles, was ich je geliebt habe, und allen Hass, den ihr kennt, im Bruchstück eines Pixels. Aus einem Winkel von zweiunddreißig Grad über der Ekliptik blicke ich auf euch zurück. Wie wenig kann so eine Heimat sein. Sollte ich euch als letzten Gruß nur Düsternis schicken und nicht aus der Finsternis heraus Farben, die es nicht gibt, und buntes Licht, das sich an meinen Linsen ohne Wärme bricht? Eure Geschichten gehen keinen. Niemanden, meine ich. Sie gehen niemanden etwas an. Oder nicht. Ein Foto in rosarotgrün soll bleiben und dazwischen das Zuhause in lichtem Orange. Und da, plötzlich und wie deutlich, ganz klein am anderen Ende bis zum Schluss: sanftes Blau und Schleierwölkchen und Schmetterlinge und Seidenspinner und klares Wasser und Ruhe in der Nacht und Sonne am Morgen und ein bisschen Klaviermusik und Tugend und Glückseligkeit und überhaupt ewiger Frieden und mehr Licht und überall Pailletten und sehr viel Glitter. Von jetzt an ist alles. Alles ist jetzt Erninerung. Ennirerung. Er-in-ne-rung. Es gibt kein Zurück. Unsere Geschichten gehen. Sie gehen niemandem etwas an. Ein blassblauer Punkt am horizontlosen Himmel ist das Letzte, bevor ich in der Schwärze verschwinde. Meine seltene Erde. Ich komme nicht zurück.

ABHANDENKOMMEN

Vor dem Dorf, jetzt.

Auf dem Weg aus dem Dorf ist Lenka ihr irgendwo abhandengekommen. Eben noch sieht Therese ihren hageren Körper in dem üblichen schwarzgrauen Zeug, dem ausgewaschenen Trägerhemd über der dunklen Hose, die um die Oberschenkel schlackert, nur die Schultern stechen hell heraus und die weiße Strähne am Hinterkopf, dann ist sie weg. Therese ist an dem Bildstock am Wegrand stehen geblieben, um sich das Innere zu besehen. Keine Mutter Gottes harrt hier eines Besuchs, und womöglich hat da nie eine gestanden, man kann sich die Schutzräume unten im Dorf auch blanko anfertigen lassen und dann, wie hier, eine Art Mobile darin befestigen. Geschliffene Mondsteinchen in Drahteinfassungen schwingen sanft im Luftzug. Die Grablichter davor und die in Plastik eingeschweißten Fürbitten scheinen der Witterung schon längere Zeit ausgesetzt zu sein. Als Therese hochsieht, ist von Lenka nichts mehr zu sehen.

Hinter der Einkaufsstraße, in der schon morgens der Geruch von Räucherstäbchen zwischen den Plastikstühlen hängt, waren sie noch auf gleicher Höhe unterwegs gewesen, diese kurze Zeitspanne, in der zwei unterschiedliche Rhythmen für einen Moment parallel laufen können, dann hatte Lenka kaum merklich überholt, war kurz darauf einige Meter voraus, Blick auf den Weg, Blick auf die Karte, Blick auf den Weg, keinen in die Landschaft, und Therese hintendrein. Die Kamera zog diagonal vom Schlüsselbein über ihre Brust und schwang mit jedem Schritt gegen den Hüftknochen. Der Gurt klebte am Hals, dabei war es um diese Uhrzeit nicht besonders heiß. Lenka hielt sich die fast bis zur Unkenntlichkeit kopierte Karte dicht vor ihr Gesicht, aber an ihren schlechten Augen lag es wohl nicht. Sie ließ das Papier sinken und wurde abermals schneller. Warum diese Eile? Der Weg ist das Ziel, Lenka, aber da war sie längst nicht mehr in Hörweite. Von Urlaub, das stimmt wohl, war nie die Rede gewesen. Nur: Hoffnungen darf man doch wohl hegen, wenn man eine solche Reise unternimmt. Leise Zweifel darf man zulassen, wenn man hinter einer Person, die man im Grunde kaum kennt, durch die fremde Landschaft eilt. Rennen wäre eine Variante, Rufen wäre eine Variante. Es war reiner Trotz, der Therese davon abhielt. Sie ließ sich weiter zurückfallen. Nach einer Weile konnte sie Lenkas dürre Gestalt nur noch in der Ferne erkennen, ein sich beinah im Flimmern der Luft auflösendes Stöckchen im Gegenlicht. Kaum einen Moment aus den Augen gelassen und schon war sie verschwunden.

Ortsauswärts franst das Leben merklich aus. Anfangs noch vereinzelte Kinder, die wie ihre Compañeros an der Dorfstraße einem unergründlichen Spiel nachgehen und Sammelkarten gegen Hauswände, Sträucher, Laternenpfähle werfen, in der Ferne ein gebücktes Männlein auf einem sehr großen Fahrrad, mehr aber nicht. Ein blasser Vormittag und erstaunlich viele Pfefferbäume. An langen, gefiederten Ästen lassen sie ihre rosa Früchte in die Landschaft hängen, zwischen den Beeren paaren sich riesige Insekten. Immer wieder weht ein seifiger Geruch über den Weg.

 

Therese also weiter, allerlei Abzweigungen nehmend, entscheidet nach Gefühl, ob links oder rechts, und ohne den Berg aus dem Blick zu verlieren, vorbei an Baracken und Gattern und schlammigen Einfahrten, die nicht passen wollen zu dem staubtrockenen Weg und dem scharfen, ausgedörrten Steppengras am Straßengraben. Es ist nicht zu sagen, ob die Abdrücke im Schlamm von Mensch oder Tier stammen, auch nicht, ob von einem oder von vielen. Hier ist niemand. Nicht einmal ein Köter streunt herum, obwohl sie doch unten im Ort an jeder Ecke herumlungern. Und nun ist auch die einzig verbliebene Person, die außer ihr hier draußen übrig gewesen ist, irgendwo in der Landschaft verloren gegangen. Ob sie den Weg zurück ins Dorf alleine findet: fraglich. Als Kind war ihr einmal im Gewirr des Rummelplatzes die Großmutter abhandengekommen: Eben war sie noch da und dann: nur noch fremde Beine. Jetzt ähnlich orientierungslos, nur in fremder Landschaft. Dieser Moment hier draußen könnte der Ausgangspunkt für jede nur denkbare Entwicklung sein. Der Anfang vom Ende. Da unternimmt man einmal eine Reise und landet als Randnotiz auf der Vermischtesseite der Zeitung. Zum Beispiel. Das passiert schneller, als man denkt. Die Eltern würden erst Wochen später erfahren, was mit ihrer Tochter geschehen ist. Sie wollte dort oben offenbar nur hinter einem Pfefferbaum nach dieser Lenka schauen, die sich bis heute nicht ausfindig machen lässt, muss dabei die von trockenen Büschen verdeckte Schlucht übersehen haben und das war’s. Langsames Dahinsiechen mit zerbrochener Schädeldecke zwischen Felsbrocken in einem ausgetrockneten Flussbett. In der Dunkelheit wilde Tiere. Nicht ein Stück von ihr würden sie übrig lassen und die Knochen trügen die Geier in ihre Nester.

An einem Vormittag im beginnenden südamerikanischen Herbst verliert sie also zwischen Pfefferbäumen und losem Geröll ihre Reisegefährtin. Und zwar gleich am zweiten Tag in diesem Ort. Das passiert. Auch wenn es nicht gerade die Wildnis ist, in der Therese herumirrt, eher ein grobes Verbindungsstück, das sich zwei Landschaften teilen. Ein etwas wüster Übergang zwischen Dorf und Natur, aber eben doch so abseits von allem, dass sich fragen lässt, warum sie überhaupt mitgefahren ist. Die letzte Nacht hat sie im Stockbettabteil über Lenka verbracht, auf der durchgelegenen Matratze in einem Achtbettzimmer in einer Seitenstraße der Promenade. Die Nacht davor auf den Wartebänken des Bahnhofs der nächstgelegenen Kleinstadt. Ihre Reise hat noch nicht einmal richtig angefangen und schon scheint sie wieder vorbei. Vielleicht sitzt Lenka längst am Busbahnhof. Vielleicht steigt sie in diesem Moment in den Bus und kehrt der ganzen Geschichte den Rücken. Häng dein Glück nicht an andere Leute, hatte die Großmutter mehr als einmal gesagt. Setz deine Hoffnungen nicht in Fremde, die dich am Ende mit in den Abgrund reißen können. Die dir etwas vorgaukeln, das Blaue vom Himmel usw. Lass dich nicht auf jemanden ein, von dem du nicht weißt, in welche Gefilde er dich treibt! Und nun hockt Therese also in Argentinien. So schnell geht das.

Es könnte aber ebenso gut sein, dass Lenka etwas zugestoßen ist. Womöglich liegt sie ihrerseits längst in irgendeinem Straßengraben und hofft auf Rettung. Wer weiß, wohin ihr eingeschränktes Gesichtsfeld sie getrieben hat. Eine Glaukom-Operation, bei der sich vor Jahren ein Stück Hornhaut gelöst hat und jetzt in der Iris feststeckt. Von außen sieht man davon nicht mehr als einen Lichtreflex in Lenkas rechtem Auge. Das Sehvermögen werde dadurch nicht beeinträchtigt, hatte Lenka in Russland gesagt, aber davon abgesehen gehe es mit den Augen immer weiter bergab. Nicht einmal eine Brille helfe jetzt noch. Langsam versinke ich in der Dunkelheit, aber das tun wir ja sowieso. Viel interessanter erscheine ihr in diesem Zusammenhang, dass sich das Linsenauge, so defekt es mitunter sein möge, an völlig unterschiedlichen Stellen der Erde unabhängig voneinander entwickelt habe. Tintenfische, Ringelwürmer, Vögel oder eben Menschen, hatte sie gesagt: Alle haben Linsenaugen. Das kann natürlich ein Zufall sein. Aber vielleicht war es auch schon im Moment des Urknalls angelegt. Chemischer Zufall oder kosmische Zwangsläufigkeit, wer kann das schon sagen. Therese hatte darauf wieder einmal keine Antwort gewusst. Das hier jedenfalls, hatte Lenka gesagt und das rechte Auge zusammengekniffen, das hier ist nur ein kleiner körperlicher Defekt, der die Leute irritiert.

Das ist Monate her. Seit ihrem Aufeinandertreffen am Finnischen Meerbusen auf russischer Seite haben sie sich kaum ein paar Tage gesehen und nun ist Lenka weg. Therese schaut auf. Der Weg wird immer steiler. Vom Azarcumbre ist von hier nur die Kuppe zu sehen. Mattes Braun vor diesigem Blau. Sie hätte überall hingehen können. Sie hätte überall hingehen können und von allen, allen Orten auf der Welt fällt ihr ausgerechnet dieser ein. Oder er fällt ihr nicht ein, er fällt ihr vielmehr vor die Füße. Von allen Orten hat es sie ausgerechnet hierher getrieben, aus welchen Gründen auch immer. Was soll sie damit nun anfangen? Sie hebt die Kamera, entscheidet sich dann für das Handy und hält es Richtung Berg. Auf dem Display erscheint eine blasse Miniatur.

Sie hatte im Wohnheim in Berlin das verdreckte Geschirr der letzten Wochen gespült und währenddessen überlegt, den Eltern einen Brief zu schreiben. Oder ob sie sich in den Zug setzen und nach Hause fahren sollte. Am Ende rief sie an. Die Mutter ging ans Telefon.

Bitte regt euch nicht auf, hatte Therese zum Einstieg gesagt. Aber es half nichts.

Therese, das ist nicht dein Ernst!

Und der Vater zog aus den paar Sätzen der Mutter seine Schlüsse und brüllte aus dem Hintergrund, dass das doch wohl unfassbar sei und er nun ein für alle Mal den Geldhahn, was sie um Himmels willen denn falsch gemacht hätten. Soso, Madame kann das einfach nicht, alle anderen schaffen es zwar, aber nicht das Fräulein, nein, das nicht. Irgendwo im Raum knallte etwas auf den Boden und dann war es die Mutter, die brüllte, zum Vater hin, und als das vorbei war, sprach sie mit beherrschter Stimme wieder in den Hörer: Therese, verstehst du, dass wir uns langsam ernsthafte Sorgen machen?

Ja, das verstehe ich.

Du hattest doch so viele Interessen, sagte die Mutter. Das Fotografieren. Die Leichtathletik. Sind die einfach alle weg?

Ja, irgendwie sind sie weg.

Kind, uns gibt es doch auch nicht für immer.

Ich weiß. (Da das zu gleichgültig klang, zerknirschter:) Ich weiß.

Der Vater aus dem Hintergrund: Und was sie, bitte sehr, nun zu tun gedenke?

Therese?

Ich weiß nicht, erst mal einen Job suchen …?

Einen Job will sie sich suchen, gab die Mutter in den Hintergrund weiter.

Einen Job?! Einen Job will sie sich suchen! Am Fließband arbeiten oder was? Zeitungen austragen? Studieren soll sie wie jeder andere in ihrem Alter auch! Sie hörte ihn schnaufen. An diesem Punkt platzt eben auch (Eigenbeschreibung:) liberalen Leuten wie Thereses Eltern mal der Kragen.

Am Telefon folgte Geheule, Vorwürfe, dann die Mutter: Sie solle die Zeit bis zum nächsten Studium wenigstens sinnvoll nutzen.

Vielleicht ein Sprachkurs? schlug Therese halbherzig vor. Damit kann man nie etwas falsch machen. Russisch. Wie wäre es mit Russisch. Über 200 Millionen Menschen sprechen Russisch. Na, das ist doch was. Und am Ende des Telefonats: Wir sind immer für dich da, das weißt du doch?

In einer Geschwindigkeit durch die Landschaft eilen, die den Luftzug den Hals kühlen lässt, und versuchen, die heißen Füße zu vergessen, die kaum noch Platz finden in den Turnschuhen. Vorbei an einer losen Ansammlung von Bäumen und Büschen, vereinzelten Feigenkakteen. Eine Holzkirche, die nur aus Dach besteht. Die Zunge pappt am Gaumen, außerdem hat Therese schon wieder Hunger. Weiter als bis zur nächsten Ecke wird sie nicht gehen.

Dort oben, hinter der Kurve, wo sich der Weg endgültig vom Dorf hinauf in die Landschaft krümmt, taucht die Brücke auf. Eine Eisenbahnbrücke, haushoch über dem Weg gelegen. Nur ein Gerüst, viel Eisen, wenig Holz, schnörkellos. Falls sie je eine Begrenzung hatte, und sei es ein schmales Geländer, hat man sie sorgfältig und rückstandslos entfernt. Kein Zeichen, dass hier jemals ein Mensch seinen Fuß auf die andere Seite setzen sollte. Vor der Böschung sucht Therese nach einer halbwegs zivilisierten Aufstiegsmöglichkeit, einer Treppe oder Rampe. Vergeblich. Die Böschung ist steil und staubig. Lose Steine, ärmliche Sträucher. Die dürren Wurzelenden haben den Schutz des Erdbodens aufgegeben und suchen die Umgebung nach etwas Feuchtigkeit ab. Da ist aber nichts. Trockener Boden, trockene Luft und irgendwo dazwischen sie selbst: eine nunmehr in der unteren Körperhälfte grau gekleidete Person, die sich am Steilhang abmüht. Sie richtet sich auf, klopft sich den Staub von den Oberschenkeln, aber es wird nicht besser. Nun läuft ihr der Schweiß. Durch die Schneise, die sie getrampelt hat, rieseln Steinlawinen die Böschung hinab, immer wieder rutscht sie ein Stück abwärts, zerkratzt sich die Beine und die Unterarme – ist das Dornengestrüpp oder was –, sie hustet, dazu dieser Müll wie an allen Böschungen der Welt, zerfetzte Plastiktüten, PET-Flaschen und vor allem: der Hunger, die Hitze, diese verdammten Turnschuhe ohne Profil, das ganze Elend, schau an, es braucht gar nicht den Berliner Straßenverkehr, um solche Gefühle zu erzeugen, keinen, der die Autotür vor dir aufreißt und dem du die freche Fresse polieren willst – ich bin bereit mich zu schlagen bis aufs Blut –, wie kann ein einzelner Mensch nur so müde sein, ihr Magen knurrt, sie fühlt sich schwach, der Staub, die Eltern, dieses Dorf, und dann steht Therese doch, trotz allem, oben auf dem schmalen Bahndamm. Na bitte. Mit dem ersten Schritt aus der Böschung heraus ist sie schon auf den von trockenem Gestrüpp überwucherten Schienen. Lenka steht ein paar Schritte weiter an der Brückeneinfassung. Da bist du ja, sagt sie.

Mann, wo warst du denn?

Ich? Ich war hier.

Ja, toll. Wäre echt sehr freundlich, wenn du …

Therese, schau –

Auf der blanken Eisenbahnschiene balanciert jemand. Langsam einen Fuß vor den anderen. Die Brücke unter den Turnschuhen des Mädchens erstreckt sich beinah zweidimensional. Holzbohlen im Abstand eines großen Schritts, darüber die eingleisigen Schienen und zwischen ihnen Fenster in die Tiefe, die den Blick freigeben durch das verschränkte Brückengerüst, rostrot lackiert, bis in Fluss und Felsen. Jetzt kippelt sie an der Kante einer Holzbohle. Sie hält sich an den Gurten ihres Rucksacks fest und starrt in den Abgrund. Ein unbeeindruckter, schlaffer Teenagerkörper im Profil.

Sie bemerken sich beinah gleichzeitig. Sich beobachtet fühlen oder die Anwesenheit anderer Menschen spüren. Intuition womöglich. Jedenfalls blickt das Mädchen in dieser Sekunde auf aus seiner Versunkenheit, sieht Lenka und Therese am Brückenende stehen, schmeißt ihren Rucksack auf die Mittelbohlen, macht einen großen, schnellen Schritt auf die Außenstrebe, einen Sprung eher, und rennt los, in weiten Schritten, links und rechts der freie Fall, das Wasser unten knöcheltief, rennt gleichzeitig ungestüm und gelangweilt: Wenn mich eines ungerührt lässt, dann ist es die Welt.

Oben der Himmel, unten der Fluss, dazwischen die Brücke. Im Hintergrund der Berg mit seiner verbrannten Flanke und über die Außenstrebe der Brücke rennt eine. So fängt es an. Wobei: Im Grunde fängt es natürlich viel früher an, aber wer will entscheiden, wann? Mit dem Entschluss, diese Reise zu tun, oder dem Zusammentreffen zweier Fremder am Finnischen Meerbusen auf russischer Seite, am anderen Ende der Welt? Das ist Monate her.

Jelena, hatte Lenka dort auf der Bank am Kai gesagt, oder Lenka. Und Therese sehr förmlich die kalte Hand gereicht.

Therese, hatte Therese geantwortet. Bei uns gab’s keine Spitznamen.

Viel früher oder später. Mit einer Hoffnung fing es an, einer Sehnsucht, einem Verrat oder einer Verzweiflung. Vielleicht auch einfach, weil sie Lenka gut fand und nichts anderes zu tun hatte, und schon ist sie unversehens in der kargen Landschaft vor einem Dorf gelandet, umgeben von trockenen Büschen und lockerem Geröll, steht da neben Lenka an einer Brückeneinfassung und beobachtet mit ihr diese arme Irre, die über die Außenstrebe rennt. Kurz bevor die Kleine das Ende der Brücke erreicht, bremst sie ab, dreht sich um, rennt nun in die andere Richtung. Rennt, als gäb’s kein Morgen.

Therese schluckt dünnflüssige Spucke, die immer wieder nachläuft. Was macht man in einer solchen Situation? Ein Gespräch vorgeben. Sich demonstrativ Lenka zuwenden. Höchstens beiläufige Blicke werfen. Mit ihrer Aufmerksamkeit wird sie die Kleine jedenfalls nicht in den Tod treiben. Ein falscher Blick von ihnen und sie würde nach links ins Freie stürzen. Oder rechts durch die Holzbohlen kippen und immer wieder am Brückengerüst hängen bleiben. So oder so ein kurzer Fall und keine Zeit zu bereuen, nicht einmal schreien würde sie, ein vages Erstaunen nur, dass es geklappt hat. So leicht geht das also. Keine Tage und Wochen des Bangens, kein Strom, der sie forttreiben könnte, keine Arme, die erstaunlich akkurat von einer Schiffsschraube kurz unterhalb der Schulter abgetrennt würden und schon Wochen vor dem restlichen Körper auftauchten. Eine beinah saubere Sache, wären da nicht der zertrümmerte Schädel und die verrenkten Gliedmaßen. Da brauchen sie auch nicht mehr nach einem Arzt rennen. Später dann vor der frisch aufgeworfenen Erde ein paar Tränen. Oder nein: viele Tränen. So jung war sie. Wem wollte sie denn etwas beweisen, warum haben wir die Signale nicht gedeutet usw.? Dahinter der glatte schwarze Stein mit ihrem Namen. Daran, würde die Familie sagen, werden wir uns nie gewöhnen.