Und was, wenn ich mitkomme?

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1. TEIL
Freude und Frust, Schönheit und Schmerz:
Irun bis Santiago de Compostela

Über längere Strecken musst du deinen Rhythmus finden und ihn beibehalten. Du solltest keine übertriebenen Sprints hinlegen, die bereust du hinterher immer.

ANDREA DE CARLO

aus: Wenn der Wind dreht

1. TAG KASSEL – HONDARRIBIA

Hinter uns liegt eine kurze Nacht. Um drei Uhr müssen wir schon aus unseren Betten. Ein Freund, der dienstlich nach Heilbronn fährt, macht für uns einen Umweg und bringt uns zum Frankfurter Flughafen. Wie im Traum fliegt mir hinter den Autofenstern die Skyline von Frankfurt entgegen. Irgendwo dort hinten wartet unser Flugzeug. Ich kann es nicht fassen: Vor mir liegen zwei völlig unberührte Monate.

Beim Start unserer Maschine überkommt mich ein solches Hochgefühl, dass ich am liebsten schreien möchte. Ich drücke aber nur Pits Arm. Pit strahlt. Er kann kaum den Blick losreißen von dem Morgenlicht, das die tief unter uns liegenden Pyrenäen mit ihren schneebedeckten Berggipfeln überpudert. Auch Doris ist ganz versunken.

Um zwanzig nach elf erreichen wir Bilbao. Der Flughafen liegt außerhalb der Stadt, doch auf dem ganzen mickrigen Flughafengelände gibt es weit und breit keine Touristen-Information. Pit, der sich sonst – ganz Mann – niemals diese Blöße gibt, fragt kurzerhand den nächstbesten Passanten nach der Bushaltestelle. Dort treffen wir auf den ersten Pilger, der allerdings den Camino Francés gehen will.

Die Fahrt vom Flughafen bis zum Busbahnhof in Bilbao entpuppt sich als Mini-Stadtrundfahrt. Überall stehen Bäume und Büsche in saftigem Grün. Hier ist der Frühling schon vier Wochen voraus.

Wir kaufen Wasser in einem mercado (Supermarkt), und dann geht es weiter mit dem Bus nach Irun. Die richtige Bushaltebucht zu finden ist nicht einfach, da unsere Sprachkenntnisse längst nicht ausreichen und wir die spanischen Anzeigetafeln nicht lesen können. Monate vor unserer Reise hatte ich mir vorgenommen, ein bisschen Spanisch zu lernen. Aber leider ist es bei dem guten Vorsatz geblieben. Trotzdem sitzen wir schließlich nach einigem Hin- und Herlaufen und Herumfragen mit Händen und Füßen im richtigen Bus.

Die Fahrt dauert eineinhalb Stunden. Pit klebt am Fenster. Eine sehr abwechslungsreiche Landschaft zieht draußen vorbei: Allgäu mit gelegentlichem Meerblick – verrückt.

Das werden wir alles erlaufen, notiert Pit in sein kleines schwarzes Tagebuch. Und: Ich freue mich, dass bisher alles so gut geklappt hat.

Doris schläft ein bisschen.

Kurz vor halb vier erreichen wir Irun. Nach einer kleinen Pinkelpause im Bahnhof brechen wir zu Fuß nach Hondarribia auf. Dies ist nun unsere erste Wanderung, auch wenn sie nur knapp zwei Kilometer lang ist. Wir sind ganz euphorisch, endlich auf dem Weg zu sein, das Gewicht des Rucksacks auf dem Rücken, die Wanderschuhe an den Füßen, die Stöcke fest in der Hand. Und los geht’s!

Der Weg durch Hondarribia allerdings zieht sich, denn wir haben Mühe, die Jugendherberge zu finden. Obendrein stellt sich heraus, dass wir für unsere erste Nacht auf spanischem Boden weit mehr bezahlen müssen, als es in unserem Wanderführer steht. Wir berappen statt der angekündigten 3 Euro pro Person ganze 19 Euro. Aber das ist uns egal. Stolz lassen wir uns unseren ersten Stempel in unseren Pilgerausweis drücken. Außerdem haben wir ein Zimmer für uns drei allein mit eigenem Bad. Und Frühstück gibt es auch noch, was für spanische Verhältnisse keine Selbstverständlichkeit ist. Außerdem ist der Blick aus unserem Fenster berauschend. Als wir die Gardine zurückziehen, bleibt uns die Spucke weg. Vor uns liegt malerisch der Hafen von Hondarribia, links das Meer und in dunstiger Ferne die Küste von Frankreich. Wir jubeln synchron und haben den Eindruck, etwas Schöneres kann uns nicht passieren. Es dauert eine Weile, bis wir uns losreißen und anfangen, uns einzurichten. Viel auszupacken gibt es nicht. Der Schlafsack wird auf der Matratze ausgerollt, die Zippertüte mit den Waschutensilien ins Bad verfrachtet, ein T-Shirt als Nachthemdersatz über die Bettstange gehängt. Zu meinem Schreck finde ich meine Handtücher nicht. Hoffentlich habe ich die nicht zu Hause vergessen! Aber sie sind bloß in die unteren Rucksackregionen gerutscht. Morgen werde ich umpacken.

So, und jetzt haben wir Hunger! Außerdem wollen wir ein bisschen die Altstadt erkunden. Die Häuser in Hondarribia weisen eine eigenwillige Architektur auf, eine Mischung aus Wildwest- und Almromantik, alles sehr bunt und fröhlich, aber ausgestorben wie nach einer Epidemie. Die Bars und Restaurants sind eine Enttäuschung: Entweder werden völlig überteuerte Gerichte angeboten, oder aber es gibt frühestens ab acht Uhr etwas auf den Teller. Schließlich treibt der Hunger uns in einen mercado. Ausgerüstet mit Weißbrot, Käse, Tomaten und reichlich Wasser suchen wir uns einen sonnigen Picknickplatz und finden eine abgelegene Wiese am Rand der alten Stadtmauer. Höchste Zeit, denn zumindest ich werde allmählich kribbelig und ungeduldig. Aber nach dem Essen ist es besser. Wir sind alle kaputt – nach der kurzen Nacht und dem langen Tag. Kurz nach neun kriechen wir in unsere Schlafsäcke. Das Abenteuer hat begonnen.

2. TAG HONDARRIBIA – SAN SEBASTIAN

Der Tag weckt uns mit einem traumhaften Sonnenaufgang: Der Himmel über Frankreich brennt in sämtlichen Rot- und Orangetönen. Es ist Viertel nach sieben, und Doris föhnt sich schon die Haare. Ich freue mich wie selten auf diesen Tag und komme hervorragend aus dem Bett. Bevor wir den Frühstücksraum suchen, packen wir unsere Siebensachen. Ich hänge meine Wanderschuhe außen an den Rucksack und laufe in Trekkingsandalen. 14 Tage vor unserem Abflug habe ich mir den kleinen Zeh geprellt, und jetzt ist er dick und blau wie eine schrumpelige Pflaume und will sich einfach nicht neben den anderen Zehen in den Wanderschuh zwängen lassen. Das fängt ja gut an! Ich nehme es gelassen und humple fröhlich hinter Doris und Pit durch die Jugendherberge. Keine Menschenseele zu sehen. Pit öffnet jede Tür und ruft: »Hola!« Endlich winkt uns eine Frau von undefinierbarem Alter in einen Saal und verfrachtet uns an einen der Tische. Eine andere Frau breitet lächelnd eine weiße Papiertischdecke darauf aus, verteilt vor uns Tassen, Messer, einen Teller mit portionierter Butter und Pfirsichmarmelade, einen Korb mit getoastetem Weißbrot. Fertig. Wir essen von der Papierdecke, die bald aussieht, als hätte sich ein ganzer Kindergarten darauf ausgetobt. Die Frauen schütten uns Kaffee mit viel Milch in die Tassen. Dann gesellen sie sich zu anderen Frauen an den Nebentisch und schnattern in ihrem maschinengewehrschnellen Spanisch drauflos. Uns kommt es vor, als hätten wir noch nie so fürstlich und originell gefrühstückt.

Und dann endlich beginnt unsere erste, richtig ernst zu nehmende Wanderung. Heute geht es bis auf 570 Meter den Jaizkibel hinauf. Kleine gelbe Pfeile und die Jakobsmuschel auf blauem Kacheluntergrund weisen uns den Weg, der ziemlich steil bergauf führt. Einmal müssen wir eine Wiese hinaufklettern, die so steil ist wie eine Hühnerleiter und so rutschig wie Glatteis. Sie scheint gar nicht aufzuhören. Aber endlich oben angelangt, bietet sich uns ein toller Ausblick auf den kleinen Ort Hondarribia, auf die französische Küste in der Ferne, auf Irun. An der kleinen Eremita Guadalupe rasten wir auf einem asphaltierten Parkplatz unter blattlosen Platanen. Die Eremita ist nicht mehr als eine gedrungene, lang gezogene Kapelle aus dicken gelben Sandsteinmauern. Wir kehren ihr den Rücken zu und lassen uns auf Bänken nieder an einem Mäuerchen, hinter dem sich die Landschaft üppig grün und blau bis zum Horizont ausweitet wie ein Gemälde. Die Sonne brennt, aber es gibt weit und breit keinen Schatten. Wir vertilgen dosenweise gesalzene Erdnüsse und spülen mit reichlich Wasser nach. Wir schwitzen und müssen unseren Mineralhaushalt ausgleichen. Unsere Wassersäcke füllen wir an einem Brunnen auf, aus dem es herrlich kühl heraussprudelt. T-Shirt, Arme und Gesicht bekommen auch gleich was ab, und erfrischt geht es weiter.

Oben auf dem Grat verschlägt es uns die Sprache. Vor lauter Begeisterung über die Wahnsinns-Aussicht bleiben wir alle paar Meter stehen, brechen in Ah- und Oh-Rufe aus und kriegen uns fast nicht mehr ein. Rechts, tief unter uns, breitet sich das Meer in seinen schönsten Blautönen aus; links erheben sich die Pyrenäen mit Schneezipfelmützen auf ihren Gipfeln; vor uns wachsen bizarre Felsen aus dem satten grünen Rasen und den Grat entlang bauen sich alle paar Hundert Meter trutzige moos- und farnbewachsene Wachtürme aus dem 19. Jahrhundert auf und blicken herrisch ins Tal hinab.

Hier könnten wir tausend Fotos schießen. Aber keiner von uns hat eine Kamera dabei – erstens, weil wir keine Lust haben, sie ständig vor möglichen Dieben zu beschützen oder uns darum zu kümmern, wo wir den Akku aufladen und die Bilder von der Speicherkarte auf CD ziehen lassen können. Zweitens wollte Pit, der leidenschaftliche und perfektionistische Fotograf, die Landschaft und das Schöne des Weges diesmal nicht mit einem Fotoapparat vor den Augen und bloß noch mit seinem »Objektivblick« wahrnehmen, sondern in ihrer ganzen prachtvollen Gesamtheit. Und drittens: Auf diesem Weg geht es um weit mehr als um Momentaufnahmen. Und was immer das ist: Wir wollen uns alle frei und offen dafür halten.

So können wir nun ohne jedes touristische Fotografiergehabe einfach dastehen und genießen, was uns aber nicht davon abhält, bei jedem spektakulären Ausblick laut »Foto« zu rufen. Doris wirft sich vor einem mindestens fünf Meter hohen Monolithen in Positur, und Pit und ich drücken an imaginären Kameras den Auslöser. Wir haben mächtig Spaß dabei und fühlen uns glücklich und berauscht.

 

Der Weg bleibt kräftezehrend. Immer wieder geht es bergauf. Bergab ist es kaum leichter. Wir sind ziemlich k.o., aber immer noch fröhlich. Nach etwa 16 km erreichen wir auf Meeresniveauhöhe Pasaia. Wir finden, dass diese Strecke bei dem Höhenprofil für eine erste Wanderung ausreicht, suchen uns ein hübsches Café mit Blick auf die kleine Hafenbucht und bestellen unseren ersten cafe con leche (Milchkaffee). Wir legen die Beine auf freie Stühle, entspannen uns und lassen uns Zeit bis in den späten Nachmittag hinein, was ein Fehler ist. Denn in ganz Pasaia gibt es, entgegen der Empfehlung aus unserem Wanderführer, keine Übernachtungsmöglichkeit. Bedauernd schüttelt die freundliche Spanierin in der Touristen-Information den Kopf. »No albergue, no hostal« (keine Herberge, keine Pension). Es bleibt uns nichts anderes übrig: Wir müssen weiter.

Mit einer kleinen Fähre setzen wir vom Stadtteil Pasaia Donibane über die Bucht zum Stadtteil Pasaia San Pedro über, wandern über uraltes Kopfsteinpflaster, erklimmen 60 hohe Stufen und klettern hinter einem verwunschenen Friedhof einen steilen, mit Brennnesseln überwucherten Pfad hinauf. Keiner hat uns gesagt, dass es noch einmal so beschwerlich werden würde. Aber im Wanderführer steht, dass gleich hinter dem Leuchtturm ein faszinierender und überraschend einsamer Küstenabschnitt beginnt. Und diesmal hat er recht. Auf schmalen Wegen mit zum Teil altem Pflasterbelag wandern wir dicht an einer bizarren Steilküste entlang.

Der Nachmittag neigt sich dem Abend zu, doch der Weg zieht sich endlos. Wir versuchen, gelassen zu bleiben, was mir zunehmend schwerer fällt. Denn allmählich verlassen mich meine Kräfte, und die beiden anderen werden auch immer stiller. Da, plötzlich – ich bin beinahe am Ende – ein Schild: Buen venidos – Herzlich willkommen. Ich nehme die Einladung ernst und spreche eine junge Frau an, die uns entgegenkommt. In ihrem langen Rock, ihrer langärmelige Bluse und ihrem dicken, weichen Zopf sieht sie aus, als entstamme sie einer vergangenen Zeit. »Buscamos una habitacion para una noche« (Wir suchen ein Zimmer für eine Nacht), radebreche ich. Und siehe da, sie versteht mich, nickt fröhlich und führt uns zu einem Mann, der ein bisschen Englisch spricht. Er ist genau wie die junge Frau so gekleidet, als sei er dem vorigen Jahrhundert entsprungen. Er ist unglaublich freundlich und lädt uns sofort ein. Ja – es gibt Betten für uns, eine frische Dusche und Abendbrot. Nein – dies ist keine Herberge, sondern eine christliche Lebensgemeinschaft, die schlicht Gottes Gebot der Gastfreundschaft gehorcht und uns herzlich in ihrer Mitte aufnimmt. Wir sind überwältigt, und vor lauter Erschöpfung und Erleichterung kommen mir die Tränen. Dank dieser lieben Leute sind wir für heute am Ziel.

Wir reden viel und fragen viel und lassen uns viel erzählen. Vor dem Essen hält die kleine Gemeinschaft aus ungefähr einem Dutzend Erwachsener und beinahe ebenso vielen Kindern ihre kleine Andacht auf der Dachterrasse des Gemeinschaftshauses. Sie singen und begleiten sich dabei selber auf Fidel, Gitarre und Trommel. Sie tanzen im Kreis, und trotz unserer schweren Beine reihen Doris und ich uns ein und machen mit. Nach dem Abend essen sitzen wir noch lange zusammen und reden. Für die Nacht räumt eines der Ehepaare ihr Schlafzimmer für Pit und mich. Es ist der einzige Raum einer winzigen, etwas abseits stehenden Hütte, in dem sie auf einer wackeligen Kleiderstange, in schmalen Regalen und winzigen Kommödchen ihre gesamte private Habe aufbewahren. Für Doris steht ein Bett in der Kammer einer jungen Frau zur Verfügung. Wir sind tief beeindruckt, wie diese Menschen konsequent das leben, was sie für sich als richtig erkannt haben. Wir fühlen uns reich beschenkt.

3. TAG SAN SEBASTIAN – ORIO

Unsere Gastgeber lassen uns schlafen, obwohl ihr Tag schon um sechs Uhr begonnen hat. Wir sprengen ihren Tages-Zeitplan, aber niemand drängt uns, und so können wir in Ruhe frühstücken. Gegen halb zehn brechen wir auf. Und welch ein Wunder, meine Füße passen bequem in meine Wanderschuhe. Der geprellte Zeh hat über Nacht zu der gleichen Form zurückgefunden wie sein Gegenstück am anderen Fuß. Die Farbe der Haut um den Nagel herum schwankt zwar immer noch zwischen grün, gelb und blau, aber es tut nichts mehr weh. Ob sich wohl alle Schwierigkeiten, die sich uns auf dem Camino entgegenstellen werden, so schnell lösen lassen? Ich will es mal hoffen …

In der Nacht hat es ziemlich stark geregnet. Das Wasser ist unter der Tür hindurch in unser Zimmer gelaufen, und wir überlegen, wie es sich hier wohl überwintern lässt. Keine angenehme Vorstellung. Am Morgen regnet es immer noch, und wir müssen unsere Regencapes über uns und unsere Rucksäcke ziehen. Erst als wir eine Stunde später San Sebastian erreichen, klart der Himmel auf.

San Sebastian gilt als eine der schönsten Städte Europas. Mit ihren wunderschönen Jugendstilhäusern liegt sie eingebettet zwischen Bergen und Meer. Ihre drei Kilometer lange Concha-Bucht ähnelt in perfekter Weise einer Muschel, ein schöner Auftakt für unseren Jakobsweg, dessen Symbol ja auch eine Muschel ist.

An der Strandpromenade lassen wir uns auf einer Bank nieder und knabbern Kekse und Obst, das wir in dem Bio-Laden gekauft haben, den unsere Gastgeber in San Sebastian betreiben. Es dauert nur Minuten, da werden wir von einem alten Spanier angesprochen. Vertrauensselig legt er seine Hand auf Pits Schulter und redet auf ihn ein – natürlich auf Spanisch. Er stellt Fragen, die Pit irgendwie mit Händen und Füßen beantwortet. Ich bin erstaunt, wie gut Pit ihm ohne jegliche Spanischkenntnis folgen kann, bis ich bemerke, dass die beiden sich auf ein Zwischending von Spanisch, Englisch und Gebärdensprache geeinigt haben.

Plötzlich lachen alle los, nur ich nicht, denn ich habe kein Wort verstanden und muss mir den Witz erst erklären lassen. Der alte Mann hatte nach der vierten Person, dem zweiten Mann in unserer Runde, gefragt, worauf Pit ihm erklärte, dass es diese Person nicht gibt. Aha, Pit ist also allein unterwegs mit zwei Frauen. Dass er sich da mal bloß nicht übernimmt. Breites Grinsen auf dem Gesicht des Spaniers,Augenzwinkern bei Pit. Doris und ich lächeln nachsichtig: Männer … Und ich denke: Als ob Pit nicht schon mit mir allein genug zu tun hat. Aber davon kann der alte Spanier ja nichts wissen. Wortreicher Abschied, Schulterklopfen, Buen Camino

Mit einer Standseilbahn fahren wir auf den Berg Igeldo und kehren hoch über der Stadt in ein Café ein. Von der Caféterrasse aus genießen wir den herrlichen Ausblick über Stadt und Bucht. Heute haben wir es sehr gemütlich angehen lassen. Wir sind richtig in Urlaubslaune und sehen nicht ein, warum und von wem wir uns hetzen lassen sollten. »Wir sind doch nicht auf der Flucht«, meint Doris und hält mit geschlossenen Augen ihr Gesicht in die Sonne. Wir entschließen uns, nicht wieder hinunter in die Stadt zu fahren, um von dort, wie es sich für richtige Jakobspilger gehören würde, unseren Weg fortzusetzen, sondern den Aufstieg zur Höhe Gudamendi zu sparen und gleich von hier aus weiterzuwandern.

Unsere gerade trocken gewordenen Regencapes können wir aber noch nicht zurück in den Rucksack packen. Sonne und Regen wechseln sich ab und lassen die Welt zwischen Licht und Schatten glänzen. Die Landschaft blättert sich vor uns auf wie ein Bilderbuch: Ständig werden wir von neuen Ausblicken überrascht. Wir finden es sehr romantisch, aber auch anstrengend. Zum Ende der heutigen Etappe geht es ziemlich steil, steinig und glitschig bergab. Jeder Schritt muss überlegt sein. Wir sind froh, dass wir gestern noch den Küstenweg von Pasaia bis San Sebastian gelaufen sind. Bei dem Regen heute wäre der nur schwer zu bewältigen gewesen. Außerdem wären wir dann sicher nicht auf unsere tolle Unterkunft gestoßen. Für heute will ich mir als Erkenntnis des Tages festhalten: Nichts ist wirklich zu bedauern, denn morgen könnte es noch besser kommen. Und genauso erleben wir es auch.

In der Herberge San Martin in Orio werden wir herzlich von Rosa empfangen. Nachdem wir von ihr unseren zweiten Stempel in unseren Pilgerausweis bekommen haben, dürfen wir uns unsere Betten aussuchen. Der Schlafraum ist in kleine Nischen unterteilt, in denen jeweils zwei Stockbetten stehen. Wir können uns richtig ausbreiten, denn außer uns übernachtet hier nur noch ein Ehepaar aus Québec, Kanada, Rachel und Jean-Paul. Beim gemeinsamen Abendessen in dem gemütlichen kleinen Holzhaus, das sich an die sonnenbeschienene Terrasse anschließt, erfahren wir, dass die beiden ziemlich wandererprobt sind und dass sie, seit sie in Rente sind, schon in aller Herren Länder herum getourt sind. Den Jakobsweg gehen sie gemütlich an, denn Jean-Pauls Herz schwächelt, weswegen er letztes Jahr einen Stent gelegt bekommen hat. Rosa hat für uns ein leckeres Menü vorbereitet: Salat und eine Nudelgemüsepfanne, dazu reichlich Weißbrot und Wein. Wir lachen viel über unsere babylonische Sprachverwirrung: Spanisch, Englisch, Deutsch, Französisch – von jedem etwas. Vor dem Essen haben wir unsere große Wäsche erledigt. Jetzt flattern Handtücher, Socken und Unterhosen fröhlich im Abendwind. Hoffentlich wird bis morgen alles trocken.

Es dämmert noch, da kriechen wir schon in unsere Schlafsäcke: Ohropax in die Ohren, Augen zu. Und hinter meinen geschlossenen Lidern ziehen die Bilder des Tages vorbei, zwei davon, die ich mir wie ein Foto im Gedächtnis behalten will: In dem kleinen Ort Igeldo auf einer blau gestrichenen Hausmauer in gelb die Kilometerzahl 795, daneben zwei Stühle zum Ausruhen unter einem durchsichtigen Plexiglasdach und Wasser in Plastikflaschen – alles gratis für müde Pilger. Mein zweites fiktives Foto: Pferde anstatt Kühe auf den Weiden, viele von ihnen mit Glocken um den Hals, was ich sehr befremdlich finde. Beim Einschlafen denke ich an unsere drei erwachsenen Kinder, an unsere Tochter wegen der vielen Callas, die hier wie Unkraut aus jeder Mauerritze sprießen – es sind ihre Lieblingsblumen – und an unsere Söhne: denen hätte das Wandern hier genauso viel Freude gemacht wie uns.

4. TAG ORIO – ZUMAIA

Zur Vorbereitung dieser Reise haben wir sowohl im Internet als auch in Büchern in den Erlebnisberichten anderer Pilger geschmökert. Beinahe ausnahmslos alle erzählten davon, wie schwierig dieser Weg durchzustehen sei und dass sie sich ständig fragten, warum sie diese beschwerliche Reise überhaupt auf sich genommen hätten. Wer freiwillig mehrere Hundert Kilometer an einem Stück durch die Pampa läuft, der muss wohl nicht ganz bei sich sein. Mich würde mal interessieren, warum die das dann überhaupt tun? Warum wandert einer, der sowieso nicht gerne auf den Beinen ist, quer durch Spanien?

Klar, anstrengend waren unsere ersten paar Kilometer auch, aber das Schöne hat das Schwere bei Weitem aufgewogen. In der kurzen Zeit, die wir jetzt unterwegs sind, haben wir so viel Tolles und Beeindruckendes gesehen und erlebt, dass wir uns kaum vorstellen können, was jetzt noch kommen kann. Aber vielleicht stimmt es trotzdem, dass sich nur der auf den Weg macht, der nicht ganz bei sich ist – vielleicht, weil ihm der Camino helfen soll, wieder zu sich zu kommen. Ich selbst hätte auch nichts dagegen, mal wieder ganz bei mir zu sein, ohne Ablenkung, ohne Alltagsanforderungen, ohne Fremdbestimmung und ohne Erwartungen, die ich weder erfüllen will noch kann. Bin mal gespannt, was übrig bleibt, wenn das alles wegfällt, vielleicht bloß noch ich selbst. Mal sehen …

Jedenfalls bin ich sehr erleichtert, an diesem Morgen in Spanien aufzuwachen. Gegen neun Uhr starten wir. Rosa, unsere hospitaliera, warnt uns beim Abschied vor dem orkanartigen Wind, den der Wetterbericht vorhergesagt hat. Aber noch merken wir nichts davon. Noch strahlt die Sonne hell und heiß am Himmel. Ein gutes Stück müssen wir auf der Nationalstraße 634 wandern, bis es steil bergauf an einem Campingplatz vorbei auf eine Anhöhe geht. Unter uns liegen das Meer und die kleine Stadt Zarautz. Der Abstieg ist die Hölle. Ein Weg, der nicht mehr ist als ein glitschiger, dornenüberwucherter Pfad, führt in die Tiefe an einen karibisch weißen Sandstrand. Ich bin dankbar für meine Stöcke, mit denen ich jeden Schritt absichere, und für Pits Hände, die sich mir hilfreich entgegenstrecken. Doch weder Stöcke noch Hände können verhindern, dass, unten angekommen, mein linkes Knie nur noch Wackelpudding ist.

Vor einigen Jahren bin ich wegen meiner lädierten Kreuzbänder am rechten Knie operiert worden. Und ich habe mich gefragt, wie dieses Knie den Weg überstehen würde. Aber das operierte macht nicht einen einzigen Mucks. Stattdessen spielt das andere verrückt. Na ja, vielleicht beruhigt es sich ja wieder. Jedenfalls ist es eine Wohltat für Füße und Gelenke, aus den Wanderschuhen herauszukommen und barfuss über den weichen, kühlen Sand zu laufen.

 

Pit und Doris machen einen kleinen Schlenker durch die Straßen von Zarautz, während ich durchs Wasser platsche und Meer, Sand, Sonne und Luft genieße. Auf einer Promenade an einer berauschend schönen Steilküste entlang geht es schließlich weiter nach Geteria. Doris macht daraus Geriatrie, und wir amüsieren uns köstlich über ihren Buchstabenverdreher. Darüber vergesse ich meine Knie, und schmerzfrei kann ich cafe con leche am Hafen von Geteria genießen. Überhaupt lachen wir viel und sind so ausgelassen wie junge Hunde. Es ist toll, Rachel und Jean-Paul zu treffen, die in einem kleinen Straßenrestaurant ihr Mittagessen einnehmen. Wir winken uns fröhlich zu und gehen dann weiter über die Berge Richtung Zumaia, das heute unser Etappenziel ist.

Leider geraten wir in einen heftigen Sturm – genauso, wie Rosa es uns am Morgen vorausgesagt hat. Von jetzt auf gleich gießt der Himmel wahre Sturzbäche über uns aus. Der Wind aus dem Landesinneren treibt die Wellen zurück ins Meer und beutelt Bäume und Sträucher, bis sie sich schräg legen wie Matrosen auf Landurlaub. Aber unsere Stimmung bleibt trotzdem sonnig. Gut gelaunt wehren wir uns gegen das Unwetter und kramen unsere Regencapes heraus. Sie überzuziehen ist ein echtes Kunststück, weil der Sturm uns die dünnen Plastikdinger ständig aus der Hand reißt oder darunterfährt oder sie völlig unkontrolliert hochhebt. Am Ende bleiben wir aber Sieger, und geschützt unter unseren wehenden Umhängen geht es unverdrossen weiter.

Nach Zumaia hinein müssen wir eine steile Betonpiste hinunter. Mein Knie meldet sich wieder. Jeder Schritt ist eine Qual, und ich brauche ewig lange, bis ich unten bin – und das bei diesem Wetter! Zu allem Überfluss liegt unsere Herberge wieder ziemlich weit oben auf einem Berg. Wir müssen am Ende unserer Tour noch einmal etwa 150 m hochsteigen. Es hat zwar endlich aufgehört zu regnen, aber begeistert bin ich von dem serpentinenartigen Aufstieg trotzdem nicht. Schließlich muss ich da morgen früh wieder runter.

»Heute denken wir noch nicht an morgen«, tröstet mich Doris. Recht hat sie, denn was wir vorfinden, lohnt alle Mühe.

Die Herberge ist fantastisch, ganz aus Natursteinen gemauert, innen im Gemeinschaftsraum eine rot gestrichene Wand, eine sehr moderne Küche, kleine Fensterchen, die in dem dicken, alten Gemäuer wie Schießscharten wirken. Wir bekommen ein winziges, blau gestrichenes Zimmer mit zwei Stockbetten zugewiesen. Die Toilette ist zwar bloß mit einer Schwingtür ähnlich den Saloontüren im Wilden Westen ausgestattet. Aber was macht das schon, wo wir ohnehin unter uns sind. Denken wir jedenfalls.

Wir sitzen bereits hinter dem Haus in Sonne und Wind auf Steinbänken an Steintischen, spielen 10000, ein nicht sonderlich anspruchsvolles Würfelspiel, und genießen mal wieder die tolle Aussicht. So, wie es hier aussieht, stelle ich mir die Highlands in Irland vor: grüne Weite auf hohen Steilküsten, Meer wie gebürsteter Stahl, der Himmel ein gespanntes Laken … Da tauchen plötzlich die Kanadier auf. Ob die sich jetzt noch in unser Zimmerchen quetschen müssen? Nein, sie bekommen eine Unterkunft im Haus nebenan. Wir atmen erleichtert auf, erstens, weil Jean-Paul ein richtig lauter Schnarcher ist, zweitens, weil es nur vier Schlafgelegenheiten gibt und für eine fünfte Person eine Matratze auf den Boden gelegt werden müsste, und drittens: Schlafen ist eine ziemlich intime Angelegenheit. Kein schöner Gedanke, dass Fremde jeden Schnaufer oder – noch schlimmer – ein entspanntes Lüftchen von einem mitbekommen könnten. So nett wir unsere beiden Mitwanderer auch finden, wir sind heilfroh, in dieser Nacht unter uns zu bleiben.

Um das Haus weht ein eisiger Wind. Es ist lausig kalt hier oben, und bis zum Abendessen dauert es noch mindestens eine Stunde. Wir können uns aber nicht losreißen von der Schönheit der Gegend und beschließen, draußen zu bleiben. Doris hat eine Idee, wie sie der Kälte begegnen könnte: Sie holt ihren Schlafsack und krabbelt hinein. So sitzt sie hübsch eingekuschelt auf der kalten Steinbank. Ein originelles Fotomotiv. Pit ruft auch gleich: »Foooooto.« Mehr ist ohne Apparat nicht drin. Gespielt wird jetzt nicht mehr, denn Rachel und Jean-Paul gesellen sich zu uns. Es wird noch ein richtig lustiger Abend.

5. TAG ZUMAIA – DEBA

Wächst die Liebe mit dem Glück oder findet die Liebe im Glück bloß leichter ihren Ausdruck? Vor unserer Reise hat mir meine Ehe so gut wie gar keinen Spaß mehr gemacht. Jeder von uns beiden wurschtelte vor sich hin und lebte seinen Alltag für sich, und es wurde immer schwerer, einen Weg zueinander zu finden. Nach fast 28 Ehejahren ist das bestimmt keine Ausnahme. Viele meinten, wir könnten stolz darauf sein, es überhaupt so lange miteinander ausgehalten zu haben. Aber die übliche Scheidungsrate ist für mich kein Maßstab. Eigentlich wollte ich mit Pit zusammenleben, bis dass der Tod uns scheidet. Er ist der Mann, mit dem ich alt werden wollte. Und gerade fange ich an, mir genau das wieder zu wünschen. Das Schöne und das Glück, das ich hier erlebe, berühren mich so tief, dass ich auch meine Beziehung in einem ganz neuen Licht sehe. Plötzlich freue ich mich wieder an meinem Mann. Er ist so fröhlich, so aufmerksam und zugewandt. War er das zu Hause auch, und ich habe es bloß nicht bemerkt? Da sind gar keine Schutzreaktionen mehr. Auch das macht die Liebe leichter!

Pit ist so ausgelassen wie lange nicht mehr. Beim Frühstück fällt ihm ein herrlicher Blödsinn ein: Doris, Pit und ich sitzen zusammen mit Rachel und Jean-Paul an dem langen Tisch in unserer Herberge. Hier drinnen ist es wegen der kleinen Fenster und der dicken Mauern frostig wie in einem Kühlschrank. Pit und ich legen unsere Thermokissen auf unsere Stühle, damit wenigstens der Hintern warm bleibt. »What’s that?«, will Rachel wissen, die so einen silbern glitzernden Untersatz noch nie gesehen hat. Pit tut sehr wichtig und sagt in Englisch, dass dies eine besondere Erfindung der deutschen Raumfahrttechnik sei. Nun ist auch Jean-Pauls Interesse geweckt. Mit offenem Mund hört er zu, während Pit erklärt, dass solche Kissen in die Raumanzüge der Astronauten eingearbeitet werden. Jeder wisse schließlich, wie eisig es im Weltraum sei, und diese Erfindung sorge dafür, dass die Astronauten sich während ihrer Außenarbeiten nicht ihren Astronautenpopo unterkühlten. »Really?«, staunt Jean-Paul. Pit bestätigt tiefernst, während Doris und mir vor unterdrücktem Lachen die Tränen in die Augen steigen. Jean-Paul und Rachel kommen aus dem Staunen gar nicht heraus. Nein, was sind die Deutschen doch für einfallsreiche Erfinder! Grinsend zieht Pit mit dem Zeigefinger sein unteres Augenlid herunter. Und da schließlich merkt Rachel, dass er sie bloß auf den Arm genommen hat. »Jean-Paul, it’s a joke!«, schreit sie, und dann prusten wir alle los.

Die Kanadier brechen vor uns auf. Wir lassen uns Zeit, denn heute haben wir bloß ca. 13 Kilometer vor uns. Das klingt nicht nach viel. Aber auf diesem Weg geht es nicht so sehr um die zurückgelegten Kilometer als vielmehr um die Höhen, die es zu überwinden gilt. Ständig müssen wir rauf und runter. Von wegen schöner, gemütlicher Küstenwanderweg, nein, hier wird richtig schweißtreibend gerackert.

Der Weg ist unglaublich schön. Es geht über saftig grüne Wiesen, und es kommt uns wieder einmal so vor, als erwanderten wir das Allgäu. Die große Überraschung dabei ist das Meer, das sich plötzlich hinter einer Wegbiegung zeigt. Es lässt sich gut laufen, obwohl ich nach zwei Stunden völlig nass geschwitzt bin. Der Wind kühlt uns herrlich ab, und ich bin froh, dass mein Knie Ruhe gibt. Heute Morgen habe ich es mit allen Elastikbinden, die meine kleine Reiseapotheke hergab, umwickelt, um ihm ein bisschen mehr Stabilität zu geben. Vielleicht hilft es ja!