Jugendsprache

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2.4 „JugendlichkeitJugendlichkeit“ als Prestigefaktor und das Schwinden der GenerationendifferenzGenerationendifferenz

Eine nochmals andere Perspektive ergibt sich für das Verhältnis zwischen den Generationen mit der ökonomisch geprägten These vom: „Kampf der Generationen“. Sie besagt, dass im Zug der Verschiebung der Altersstruktur der Gesellschaft die Arbeitskraft der jüngeren Generationen künftig für die Sicherung der Renten der älteren Generationen nicht mehr hinreiche.

Abb. I.2.2:

Jung gegen Alt? (Focus 23/1996)

Während sich volkswirtschaftlich gesehen die Kluft zwischen den GenerationenGeneration vergrößern mag, ist kultursoziologisch eine gegenläufige Tendenz einer Annäherung der Generationen in modernen westlichen Gesellschaften unverkennbar. Dabei spielen neue, werbewirksam vermarktete GenerationsbilderGenerationsbild, v.a. der „jungen Alten“ eine entscheidende Rolle:

Abb. I.2.3:

Was heißt hier alt? (Focus 51/2007)

JugendlichkeitJugendlichkeit als Prestigephänomen führt zu neuen Lebensstilen einer vita activa mit neuen Teilhabe- und Konsummöglichkeiten, und die Angleichungen im Konsum (Mode, Sport, Hobbies , HabitusHabitus) führen zu einem Schwinden der kulturellen Generationsdifferenz, die die soziale Ungleichheit gleichwohl unangetastet lässt.1Neuland, Eva

3 Jugendsprache: FiktionFiktion und Wirklichkeit

Das Thema Jugendsprache ist von seiner medialen Vermarktung nicht zu trennen. Diese Feststellung wurde schon zu Beginn der linguistischen Jugendsprachforschung getroffen: Eine der ersten großen empirischen Studien zur Jugendsprache trägt zu Recht den Untertitel: FiktionFiktion und Wirklichkeit.1Schlobinski, Peter/Kohl, Gaby/Ludewigt, Irmgard Die Abwehr gegen den „Mythos“ von der ‚Jugendsprache‘ prägt seitdem die linguistische Jugendsprachforschung bis heute. Der linguistische Forschungsgegenstand Jugendsprache und das öffentliche Diskussionsthema: „Jugendsprache“ sind nicht deckungsgleich, und öffentlich zugeschriebene und wissenschaftlich belegte Eigenschaften sind wohl zu unterscheiden. Dies soll in der folgenden Abbildung vereinfacht dargestellt werden:

Abb. I.3.1:

Doing YouthDoing Youth: Jugendsprache zwischen FiktionFiktion und Wirklichkeit

Das mediale Konstrukt „Jugendsprache“ entsteht in einem Prozess des „Doing YouthDoing Youth“2Neuland, Eva aus medialer Vermittlung, StereotypisierungStereotypisierung und KommerzialisierungKommerzialisierung, der Jugend und Jugendsprache zu Gunsten wirtschaftlicher und politischer Interessen funktionalisiert. Zugleich trägt der Prozess des „Doing Youth“ in der Öffentlichkeit zu einer Perspektivenverengung bei, die in Form bestimmter gesellschaftlicher Erwartungen auf die wissenschaftliche Forschung zurückwirkt, z.B. in Form der journalistischen Erwartung, jeweils die neuesten „In- und Out-Hitlisten“ zu liefern.

Die linguistische Jugendsprachforschung kann dazu beitragen, solche Klischees zu dekonstruieren und damit zugleich einer Reduktion der Perspektivenvielfalt des Themas Jugendsprache entgegenzuwirken. Ihre bisherige Entwicklung demonstriert hingegen einen wissenschaftlichen Perspektivenreichtum in linguistischer wie auch interdisziplinärer Hinsicht mit Bezügen zu Sprachgeschichte und SprachwandelSprachwandel, zu SprachnormSprachnorm und SprachvariationSprachvariation, zu Gruppen- und FachsprachenFachsprache, fachsprachlich, zu Kommunikationsforschung und Stilistik, zu SprachsozialisationSprachsozialisation und Sprachunterricht. Neben der empirischen Erforschung des Sprachgebrauchs Jugendlicher bilden aber eben auch die gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse einen Gegenstand kulturanalytischerkulturanalytisch und sprachkritischer Forschung. Insofern kann Jugendsprachforschung auch einen Beitrag zur wissenschaftlichen Öffentlichkeits- und Vermittlungsarbeit und zur Sensibilisierung des öffentlichen SprachbewusstseinsSprachbewusstsein für Sprachvielfalt und Sprachveränderung leisten.

II Jugendsprachforschung: Grundlagen und Entwicklungen

In diesem Kapitel soll nun die Frage verfolgt werden, wie das Thema Jugendsprache Eingang in die linguistische Sprachforschung in Deutschland fand.

1 Beginn der linguistischen Jugendsprachforschung in Deutschland

Noch Anfang der 80er Jahre zog ein bekannter Vertreter der germanistischen Sprachwissenschaft das Resümee, dass es eine „linguistische Jugendsprachforschung nicht gibt“1Henne, Helmut. Der Vortrag von Helmut Henne: Jugendsprache und Jugendgespräche aus dem Jahre 1980 öffnete gleichsam eine wissenschaftliche Eingangstüre für dieses Thema, dem im selben Jahr noch einige kleinere Beiträge gewidmet wurden.2Bättig, MichaelSchleuning, Peter Zwischen 1980 und 2016, dem Jahr der jüngsten internationalen Fachkonferenz zum Thema Jugendsprache, liegt eine Spanne von knapp 40 Jahren. Die linguistische Jugendsprachforschung hat in dieser Zeit in Deutschland und im europäischen sowie außereuropäischen Ausland eine lebhafte Entwicklungsgeschichte und einen außerordentlichen Aufschwung zu verzeichnen.

Verfolgen wir zunächst aus fachgeschichtlicher Sicht die frühen Erkenntnisinteressen und Fragestellungen sowie die theoretischen und methodischen Probleme zu Beginn der linguistischen Jugendsprachforschung.

1.1 Frühe Erkenntnisinteressen und Fragestellungen

Während in den Vorläufern der linguistischen Jugendsprachforschung, der Tradition der Sondersprachforschung und der SprachkritikSprachkritik und SprachpflegeSprachpflege1Sprachentwicklungsforschung, die GemeinspracheGemeinsprache bzw. Hochsprache und ihre Entwicklung im Vordergrund des Interesses standen, wurde die Jugendsprache erst mit Beginn der linguistischen Jugendsprachforschung zum Erkenntnisobjekt eigenen Rechts.

„Spricht die Jugend eine eigene Sprache?“ so lautete die 1982 gestellte Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und DichtungDeutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die eine Fülle von Einsendungen von Sprachwissenschaftlern, Schriftstellern und Jugendlichen selbst auslöste.2Pörksen, Uwe/Weber, HeinzWeber, Heinz Die hier behandelten Fragestellungen betrafen vor allem Gründe und Erscheinungsweisen sowie mögliche Einflüsse und Auswirkungen des Sprachgebrauchs Jugendlicher.

Die Frage nach der Generationsspezifik des Sprachgebrauchs Jugendlicher weist die linguistische Jugendsprachforschung der Teildisziplin der SoziolinguistikSoziolinguistik zu, die sich mit den sozialen und kulturellen Bedingungen des Sprachgebrauchs, mit Sprache im sozialen Kontext und mit dem Zusammenhang von Sprache und sozialer Erfahrung beschäftigt. Das Themenheft der Zeitschrift OBST von 1980, das einige der ersten Beiträge zur Jugendsprache in Deutschland enthielt, trug denn auch den Titel: Sprache und soziale Erfahrung.

Linguistische Fragestellungen im engeren Sinne bezogen sich – in Weiterführung der sondersprachlichen Forschungstraditionen – zunächst auf lexikologischlexikologisch-lexikographischelexikographisch Betrachtungen des Wortschatzes Jugendlicher sowie auf neuere pragmalinguistische Forschungsaspekte, wie z.B. BegrüßungsformelnBegrüßungsformeln und GesprächspartikelGesprächspartikel. Der Einbezug von Fragen nach der Wortbedeutung und der WortbildungWortbildung lag nahe, ebenso wie die Ausdehnung auf die PhraseologiePhraseologie. Fragen nach Stilmerkmalen und Stiltendenzen der Jugendsprache traten bald hinzu.

Neben den zentralen soziolinguistischen Erkenntnisinteressen wurden auch sprachpädagogische Interessensprachpädagogische Interessen geltend gemacht, veranlasst durch die Meinungen über die Jugendsprache als Symptom für SprachverfallSprachverfall und die kritische Sicht auf die Sprachleistungen Jugendlicher. So wurden auf der Tagung der evangelischen Akademie Loccum: Sprüche – Sprachen – SprachlosigkeitSprachlosigkeit?3Ermert, Karl besonders die Folgen subkultureller Formen von Jugendsprache im Hinblick auf Bildung und Erziehung diskutiert. Der Zusammenhang von Sprachgebrauch Jugendlicher und schulischen Sprachleistungen ist für die weitere Entwicklung der Jugendsprachforschung in Deutschland ein wichtiges Moment geblieben.

1.2 Anfängliche methodische und theoretische Forschungsprobleme

Von einer systematischen sprachwissenschaftlichen Bearbeitung solcher Fragestellungen war man allerdings zu Beginn der 80er Jahre noch recht weit entfernt, was mit den nicht unerheblichen theoretischen und methodischen Forschungsschwierigkeiten zusammenhing. Eines der wichtigsten Probleme stellte sich bereits mit der Quellenlage: Die wenigen Belege für sprachwissenschaftliche Analysen verdankten sich hauptsächlich den mehr oder minder anekdotischen „Insider-Beobachtungen“1Bättig, MichaelSchleuning, PeterBehrendt, Walter u.a., mit denen „ehemalige“ Jugendliche auch ihre persönliche Sprachgeschichte aufarbeiteten. Die nicht oder auch nicht mehr in jugendliche Lebenswelten und Kommunikationspraxen integrierten Autoren standen als „Outsider“ bzw. Angehörige „fremder Welten“ alsbald vor ihnen unerklärlichen Sprachphänomenen.2Henne, Helmut

Die Notwendigkeit einer authentischen Datenbasis sowie der unumgängliche Rückgriff auf interpretatives FremdverstehenFremdverstehen erweisen sich als grundlegendes Problem der Jugendsprachforschung. Einen eher fragwürdigen Ausblick bieten kontextisolierte Einzelfallbeispiele3 oder textsortenspezifisch konstruierte Einzelfälle, die sich aus autobiographischen Erfahrungen speisen. Ein Beispiel liefert die folgende „fiktive Rede“ von SchleuningSchleuning, Peter:

 

„Also, ich kann mich echt aufregen, wenn ich die Typen bei mir in der WG sehe. Immer wenn ich heim komm, läuft der gleiche Film ab, echt der gleiche Scheiß irgendwie. Wenn ich da schon reinkomm und nur den Spasti von Heinz seh. Da bin ich schon bedient. Der hat nur eins drauf, wenn er mich sieht: Die große Anmache wegen irgendwas. Echt motzig ist der, von Morgen bis Abend. Wenn ich das schon hör, bin ich total gestresst. Und dann die Bärbel, die ist auch das Letzte. Sagt sie so ganz link zu mir: Wir haben schon gegessen! Du, das find ich so unheimlich beknackt, das törnt mich so ab, der totale Horror. Solche Schoten bringt die am laufenden Band, aber voll,da bin ich schon so gefrustet. Ich scheck das echt nicht, wie man so reden kann.“

(SchleuningSchleuning, Peter 1980, S. 9)

„Jugendsprache – was ist das eigentlich?“4Volmert, Johannes Um eine theoretische Klärung dieses Begriffs hat sich auch die moderne Jugendsprachforschung nicht explizit bemüht. Der Rückgriff auf sprachliche Äußerungen von Schülerinnen und Schülern, von Studentinnen und Studenten schien eine ausreichende Selbstevidenz zu sichern. Dies sollte sich allerdings im Zuge der Etablierung der Jugendsprachforschung ändern. Sollen jugendliche Ausdrucksweisen nicht nur in ihrer sprachlichen Erscheinungsweise beschrieben, sondern in ihrer möglichen alters-, generations- oder auch (sub)kulturtypischen Funktionsweise im sozialen Kontext analysiert werden, so stellt sich die Klärung der Begriffe von Jugend und Jugendsprache als vordringliches Problem.5

Zu Beginn der modernen Jugendsprachforschung wurde von Helmut Henne die sozialpsychologische Kategorie des IdentitätserwerbsIdentitätserwerb im Jugendalter eingeführt und der Jugendsprache eine wesentliche Funktion der „SprachprofilierungSprachprofilierung“6Henne, HelmutWeber, HeinzPörksen, Uwe/Weber, Heinz beigemessen. Dieser sprachfunktionale Aspekt hat sich für die weitere Entwicklung für die Jugendsprachforschung als sehr bedeutsam erwiesen, jedoch bedarf er zugleich weiterer Differenzierungen und empirischer Belegführungen, vor allem im Hinblick auf eine Verbindung von individual- bzw. gruppenpsychologischen Sichtweisen mit den soziologischen Aspekten der Stellung der Jugend und ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunftsoziale Herkunftswelten innerhalb der Gesellschaft.

Die unzureichende soziale DifferenzierungDifferenzierung der Jugend und der Jugendsprache wurde mit den bekannten Thesen von GloyGloy, Klaus u.a. im Jahr 1985 wie folgt kritisiert:

1 „Es gibt nicht die (eine) Jugendsprache, weil es nicht die Jugend als homogene GruppeGruppe gibt. […]

2 Es gibt nicht die Jugendsprache (im Gegensatz zur Erwachsenensprache) […]

3 Es gibt nicht die Jugendsprache, sondern das Sprechen von Jugendlichen.“7Gloy, Klaus

Dieses oft zitierte Fazit, das als Kritik an der anfänglich vorherrschenden Homogenitätsannahme der Jugend und ihrer Sprache zu verstehen ist, kann jedoch keinesfalls als Entlastungsargument für unterbliebene theoretische Klärungen des jeweiligen Forschungsgegenstands dienen, wie es zu weiten Teilen der frühen Jugendsprachforschung charakteristisch war.

Allerdings weisen neuere Beiträge zur Jugendsprachforschung kaum explizite Auseinandersetzungen mit dem Begriff Jugend auf. Während ethnographische Einzelfallstudien überwiegend ganz auf solche theoretischen Reflexionen verzichten, finden sich seit SchlobinskisSchlobinski, Peter These vom „Mythos Jugendsprache“8Schlobinski, PeterJanuschek, Franz eher ausführliche Auseinandersetzungen mit dem Aspekt von Jugendsprache als Medienprodukt und mithin mit einer fiktiven Jugendsprache. Die aktuelle Jugendsprachforschung hat sich deutlich von der Annahme HomogenitätHomogenität der Jugend verabschiedet, allerdings ohne dies mit weiteren gesellschaftsanalytischen Differenzierungen zu verbinden. Die Heterogenitätsannahme ist seitdem nicht mehr hintergehbar. Trotzdem bleibt die theoretische Klärung des Status des jeweils untersuchten SprecherInnen/SchreiberInengruppe und somit auch des genuinen Gegenstandfelds der linguistischen Jugendsprachforschung bis heute ein Desiderat.

2 Vorläufer der modernen Jugendsprachforschung

Eine kurze Rückbesinnung auf gegenstandsgeschichtliche und fachgeschichtliche Stationen kann sich auch in dieser Hinsicht als hilfreich erweisen. An dieser Stelle seien drei Vorläufer der modernen Jugendsprachforschung skizziert, die sich unterschiedlichen disziplinären Traditionen und Fachverständnissen verdanken.

2.1 Philologische Tradition der Sondersprachforschung

„Jugendsprache“ ist kein Phänomen der Neuzeit. Auch zu früheren Zeiten haben Jugendliche einen ihnen eigenen Sprachstil ausgebildet, der sich von dem in der Gesellschaft vorherrschenden und von der älteren GenerationGeneration verwendeten in bedeutsamer Weise unterschied.

Es ist allerdings bemerkenswert, dass die Sondersprachforschung auch in ihrer Blütezeit bis in das 20. Jahrhundert hinein den Begriff „Jugendsprache“ nicht verwendete. Vielmehr wurde von der Studentensprache und von der Sprache der akademischen Jugend, später dann auch von der SchülerspracheSchülersprache gesprochen. So wie andere Sondergruppen von Ständen und Berufen interessierte die Gruppe der jungen Akademiker durch ihre von der GemeinspracheGemeinsprache unterschiedlichen vor allem lexikalischen Ausdrucksmittel. Diese wiederum wurden eher unter dem Aspekt der innovativen Auswirkung auf die Gemeinsprache und weniger unter dem Aspekt ihrer möglichen Bedeutungen für die sprachspezifische Lebensphase befragt.

Die aufschlussreiche Systematisierung der SondersprachenSonderspracheSondersprachenforschung von Ferdinand HirtHirt, Ferdinand (1909) misst der Sondersprache der Studenten als „Sprache einer bestimmten Altersklasse und zugleich eines bestimmten Standes“1Hirt, FerdinandHenne, Helmut eine besondere Gewichtung bei. Dennoch überlagert der ständische Aspekt den generationsspezifischen nahezu vollkommen, wobei dieser wiederum dem sprachgeschichtlich-etymologischenetymologisch Forschungsinteresse der Sondersprachforschung untergeordnet wurde (s. Abb. II.2.1).

Unser Wissen über die historische deutsche StudentenspracheStudentensprache verdanken wir der fast zweihundertjährigen Tradition von historischen WörterbüchernWörterbücher und Dokumentationen der Studentensprache vor Beginn ihrer wissenschaftlichen Erforschung.2Henne, Helmut/Objartel, Georg Sie geben Aufschluss über den Sprachgebrauch und Lebensstil der akademischen, männlichen Jugend und ihrer zentralen Erfahrungsbereiche und sozialen Wertungen. Gleichwohl sind schon Anzeichen regionaler und gruppenspezifischer sprachlicher HeterogenitätHeterogenität in burschikosen Sprach- und Lebensstilen zu erkennen. Bedauerlicherweise sind sprachliche Äußerungen der nichtakademischen Jugend kaum dokumentiert und analysiert worden, was die Einschränkung des sondersprachlichen Jugendbegriffs noch deutlicher macht.

Abb. II.2.1:

SondersprachenSondersprache in der Systematik von HirtHirt, Ferdinand 1909

Die ersten Beobachtungen und Dokumentationen einer deutschen Jugendsprache stammen von Vertretern der philologischen Sondersprachforschung wie MeierMeier, John (1894) und vor allem KlugeKluge, Friedrich (1895). Die frühe Sondersprachforschung verfolgte gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrem sprachhistorischen Interesse an der Entstehung des neuhochdeutschen Wortschatzes hauptsächlich etymologischeetymologisch Fragestellungen: Sie untersuchte die Herkunftsbereiche des Sonderwortschatzes, seine sprachlichen Bildungsmittel und seinen allmählichen Übergang in Stilschichten der GemeinspracheGemeinsprache und der gehobenen Literatursprache.


(Kluge 1895, S. 1)

Dies soll am Beispiel der Wortgeschichte von Kneipe nach KlugeKluge, Friedrich veranschaulicht werden, womit um 1760 „die gewöhnlichste Schenke der niedrigsten Sorte“ und auch die „Diebsherberge“ bezeichnet wurde. Durch den studentischen Gebrauch und die damit verbundene Bedeutungserweiterung fand dieser Ausdruck schließlich Aufnahme in die Standard- und Literatursprache.


(Kluge 1912, S. 11)

Nachträge der Sondersprachforschung bezogen im frühen 20. Jahrhundert die „Schüler-“ und „PennälersprachePennälersprache“ ein. Allerdings beschränkten sich diese Beiträge häufig auf bloße Wörterverzeichnisse der SchülerspracheSchülersprache in bestimmten Regionen.3 Mit der Schrift von GötzeGötze, Alfred über die deutsche StudentenspracheStudentensprache (1920) fand die frühe Sondersprachforschung ihren vorläufigen Abschluss.

2.2 Psychologische Tradition der SprachentwicklungsforschungSprachentwicklungsforschung

An welche Forschungstraditionen hätte die sich entwickelnde linguistische Jugendsprachforschung in Deutschland anknüpfen können?

Mit der „Sprache der Jugend“ hatte sich auch schon die frühe deutsche Sprachpsychologie und die Tradition der SprachentwicklungsforschungSprachentwicklungsforschung befasst, als deren prominente Vertreter Clara und William SternStern, Clara u. William mit ihrer berühmten Abhandlung zur KinderspracheKindersprache (1908) gelten. Basierend auf den wichtigen Elementen der Stadienlehre und der Konvergenztheorie setzte sich diese Tradition mit Arbeiten bis zum Jugendalter fort, darunter die Abhandlungen von Charlotte BühlerBühler, Charlotte zu Kindheit und Jugend (1928) und zum „Seelenleben“ des Jugendlichen (1922).

Bemerkenswert ist auch BusemannsBusemann, Adolf Versuch: „Die Sprache der Jugend als Ausdruck der Entwicklungsrhythmik“ (1925) zu erfassen. Seine Leitthese eines periodizitätstheoretischen Entwicklungskonzepts versuchte er mit dem phasenspezifischen Ansteigen und Absinken eines „AktionsquotientenAktionsquotient“ von Merkmalen aus Schülertexten sprachlich zu belegen. Die Problematik eines solchen Zugangs liegt jedoch in der Annahme eines selbsttätigen Reifungsprozesses und in den universalistischen Typisierungen, die mit der biologischen Altersgleichheit eine HomogenitätHomogenität der „Jugend und ihrer „Sprache“ unterstellten und die Einwirkung sozialer Erfahrungen und umweltbedingter Lernprozesse unberücksichtigt ließen. Der Terminus „Jugendsprache“ wird eher als Etikett eines Entwicklungsgeschehens verwendet, und die Sprachanalyse scheint allein der Bestätigung einer solchen Entwicklungstheorie zu dienen.

Es ist aufschlussreich, dass es zwischen den Traditionen der psychologischen SprachentwicklungsforschungSprachentwicklungsforschung und der philologischen Sondersprachforschung keine interdisziplinären Berührungspunkte und keinen wissenschaftlichen Austausch gab. Die Forschungstraditionen wurden, unterbrochen durch Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, erst in der Nachkriegszeit wieder aufgenommen und im Rahmen der „AltersstilforschungAltersstilforschungAltersstil“ neu belebt. So unterscheiden HetzerHetzer, Hildegard/Flakowski, Herbert/Flakowski: „Die entwicklungsbedingten Stilformen von kindlichen und jugendlichen Schreibern“ (1954/1974), und zwar den „ganzheitlich-erlebnisbestimmten Stil der Kleinkindstufe“, den „ganzheitlich-sachbetonten Stil der späten Kindheit“, den „gegenständlichen Stil“ gegen Ende der späten Kindheit und schließlich den „gegenständlichen Stil mit Gestaltungsabsicht als höchste Form des Kindheitstils“. Ähnliche Unterscheidungen sind von der Sprach- und speziell Aufsatzdidaktik der damaligen Zeit aufgegriffen worden, vor allem von PregelPregel, Dietrich (1970), der – unter Einbezug des mündlichen Sprachgebrauchs – einen sog. „FreskostilFreskostil“ in der frühen Grundsschulzeit von einem „ReliefstilReliefstil“ in der späten Grundschulzeit unterschied. Es bleibt kennzeichnend für die Altersstilforschung vor der pragmatischen Wende, von einer reifungsbedingten Abfolge von Entwicklungsstufen des Sprachgebrauchs in Kindheit und Jugend auszugehen, ohne Berücksichtigung kommunikativer und situativ-funktionaler Bedingungen sowie individueller Differenzierungen.

 

Erst die kürzlich neu entwickelte Perspektive einer die verschiedenen individuellen Lebensphasen umfassenden SprachbiographieSprachbiographie könnte an diese Traditionen anknüpfen und diese im Sinne einer sprachlichen SozialisationsforschungSozialisationsforschung weiterentwickeln.1