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Im Hause des Kommerzienrates

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Der Brief flog auf den Schreibtisch – Bruck war frei, dergestalt von seiner Kette erlöst, dass er nun auch – in die Schlossmühle kommen durfte. War das denkbar? Eine so jähe, ungeahnte Wendung, nachdem man sich sieben entsetzliche Monate hindurch gemartert, nachdem man alle innere Kraft aufgeboten hatte, um das widerspenstige Herz, ja, jeden abirrenden Gedanken zu knebeln, damit man endlich zu der stoischen, toten Ruhe gelange, mit der man den verhassten Ring in die Hand der Auserwählten legen und dann seinen rauen Lebensweg einsam, aber ohne Schuld zu Ende gehen konnte!

Sie schlug die Hände vor das Gesicht, als sähe sie ein Gespenst mitten in dem Jubelrausch emportauchen – Gott im Himmel, wenn sie falsch gelesen hätte! Es war doch so? Flora, dieses unberechenbare Wesen, hatte sich verlobt? Sie wollte sich nun doch, nach so vielen fehlgeschlagenen Versuchen, berühmt zu werden, in der zwölften Stunde in die Ehe retten? Käthe griff noch einmal nach dem dicken, duftenden Briefblatt – ja, ja, da stand es wirklich und wahrhaftig in den »großen Krakelfüßen«. Und dann folgte eine genaue Instruktion, in welcher Weise die Verlobungsanzeige für die Residenzbewohner zu bewerkstelligen sei; es war die Rede von der Hochzeit, die mach just um der Vergangenheit willen, auf den zweiten Pfingstfeiertag festgesetzt habe – und dann kam die vorläufige Einladung zu der Vermählungsfeierlichkeit für die Großmama selbst. Das war alles sonnenklar und unumstößlich, aber nun flog eine tiefe Blässe über das Gesicht der Lesenden, und sie meinte, an der Lähmung, die über sie komme, müsse sie sterben. Flora schrieb weiter:

»Auf meiner Durchreise nach Berlin habe ich mich auch einige Tage in L…g aufgehalten. Es wird Dir interessant sein, zu hören, dass einem gewissen Hofrat und Professor Bruck bei seinem fabelhaften Glück nicht nur die Berühmtheit in den Schoß, sondern auch eine schöne Gräfin zu Füßen gefallen ist. Man versicherte mir allgemein, er sei im Stillen verlobt mit der reizenden Patientin, die er, nachdem Alle anderen Ärzte sie aufgegeben, durch eine kühne Operation, dem Tode entrissen habe. Das gräfliche Elternpaar soll mit der Verbindung durchaus einverstanden sein, und die liebe, gottselige Tante Diakonus scheint ihren Segen auch nicht zu verweigern. Ich sah sie neben dem Brautpaar in der Theaterloge sitzen, fried- und tugendsam wie immer, und, wenn ich nicht irre, Zwirnhandschuhe an den Händen. Das Mädchen ist sehr hübsch, wenn auch ein Puppengesicht ohne Geist – und Er? Nun, Dir kann ich’s ja sagen, Großmama: ich habe mir die Lippen blutig gebissen vor Grimm und Groll, weil das dumme Glück diesen Menschen zu einem Gegenstand der allgemeinen Vergötterung macht, weil er hinter dem Stuhl seiner Braut stand, so sicher, zuversichtlich und ruhig, als gebühre ihm alle Auszeichnung von Rechtswegen, und als wisse er nichts von Charakterschwäche – der Ehrlose! … Gib Käthe den inliegenden Zettel –«

Ach ja, da lag er wohlversiegelt auf dem Schreibtisch und trug die Adresse: »An Käthe Mangold.« … und die Welt kreiste vor ihren Augen, und der schmale Papierstreifen flog in den wie von Fieberfrost geschüttelten Händen auf und nieder. Er enthielt nur die Worte: »Habe die Freundlichkeit, den Dir anvertrauten Ring nunmehr der Gräfin Wite zu übergeben – oder wirf ihn auch meinetwegen in den Fluss zu dem andern! – Flora.«

Käthe war plötzlich sehr ruhig geworden; sie glättete mechanisch den Zettel und legte ihn zu dem Briefe. Sollte die schöne Gräfin Wite der Gast sein, für den man das Fremdenzimmer eingerichtet hatte? Sie schüttelte energisch den reizenden, flechtengeschmückten Kopf, und die braunen Augen begannen auszustrahlen, während sie die Hände fest gegen die tiefatmende Brust presste. War sie es Wert, ihm je wieder in die Augen zu sehen, wenn sie auch nur sekundenlang an ihm zweifelte? Er hatte gesagt: »Zu Ostern komme ich wieder.« Und er kam, und wenn die glänzendste Menschenberedsamkeit ihr das Gegenteil versicherte, sie glaubte nichts, als dass er sie liebe, und dass er kommen werde. Nein, nein, solch ein hochmutberauschter Schlossherr konnte es wohl übers Herz bringen, der einst Geliebten, der unglücklichen, blonden Edelfrau, die neue stolze Schlossherrin in der Hochzeitsschleppe zuzuführen – aber nicht er, nicht er in seiner Gemütsinnigkeit. Er brach der Müllers-Enkelin nicht sein Wort, um einer anderen willen, und wenn selbst diese andere eine Gräfin sein sollte.

Ein unbeschreiblicher Glückseligkeitssturm wogte in ihr auf und riss alle Gedanken in seinen Wirbel. Sie flog nach dem südlichen Eckfenster, um nur einen Blick nach dem lieben, alten Hause zu werfen – Himmel, dort von der Fahnenstange flatterte eine farbenglänzende Flagge über die Baumwipfel hin. Waren die Gäste schon da? Sollte sie hinübereilen, um die Tante Diakonus in ihre Arme zu schließen? Nein, in dieser stürmischen Aufregung ganz gewiss nicht. Da musste erst die verräterische Glut von den Wangen gewichen und der Herzschlag ruhiger geworden sein, wenn sie sich nicht vor den seelenvollen, klaren Augen der sanften Frau scheuen sollte. … Ruhe, Ruhe! – Sie trat an den Schreibtisch.

Da lag aufgeschlagen das große, dicke Hauptbuch; das Fach hier barg sechs Geschäftsbriefe, die heute noch beantwortet werden mussten, und drunten rasselte schwerfällig einer der Mühlenwagen mit Getreidesäcken in den Hof. Die Hunde bellten einen Bettler, dem Suse ein Stück Brot vom Vorsaalfenster zuwarf, wie toll an; da waren Prosa und raue Wirklichkeit übergenug. Und die Neuruppiner Bilderbogen, die, als großväterlicher Nachlass streng respektiert, immer noch die Wände zierten, sie hatten ganz gewiss nichts Aufregendes, so wenig, wie die dickbäuchigen Federkissen des Kanapees drunter und die Schwarzwälder Standuhr daneben, die so entsetzlich steif und geradlinig die Wand hinaufstieg und den lebensmüden Pendel langatmig hinter dem blinden Glase schwang.

Der Blick des jungen Mädchens streifte langsam alle diese Herrlichkeiten, dann nahm sie einen Briefbogen und tauchte die Feder ein. »Herrn Schilling und Kompanie in Hamburg« – ach, das konnte ja niemand lesen! Verzweiflungsvoll fuhr sie mit der Hand über die glühende Stirn, so dass die braunen Locken wegflogen und eine schmale, rote Narbe hervortreten ließen. Und so verharrte sie einen Augenblick unbeweglich, die Linke über die Augen gelegt und in der Rechten die ungeschickte Feder auf dem Papiere festhaltend; da streifte ein kühles Wehen ihre Wange. Die Zugluft kam durch eine offene Tür, oder vom Fenster her; sie sah auf und da stand er, dort auf der obersten Stufe der in das Zimmer hinabführenden Holztreppe, lächelnd, strahlend in Wiedersehensfreude.

»Bruck! – Ich wusste es«, jubelte sie auf, und die Feder fortwerfend, breitete sie die Arme aus und lag im nächsten Augenblick an seiner Brust.

Draußen kam Suse über den Vorsaal; was sollte denn das heißen? Die Tür stand angelweit offen, im April, wo man noch täglich das »sündenteure« Holz in den Ösen stecken musste, und den Aufschrei hatte sie auch gehört. Sie fuhr mit dem blauen Schürzenzipfel, den sie gerade in der Hand hielt, um sich den Schweiß von der Stirn abzutrocknen, vor Schrecken in den Mund, denn da unten, auf den weißgescheuerten Dielen ihrer heiligen Schlossmühlenstube, stand der Herr Doktor Bruck und hielt ihr Fräulein in den Armen, so fest, als wolle er sie in seinem ganzen Leben nicht wieder loslassen – Herr Gott – und sie waren ja doch kein Brautpaar vor den Leuten.

Behutsam schlich sie näher, um die Tür sacht zu schließen, aber Käthe sah sie und bemühte sich, unter heißem Erröten, der Umarmung zu entfliehen.

Der Doktor lachte, lachte wieder so frisch und melodisch, wie früher – und hielt sie nur umso fester. »Nein, Käthe, Du kamst zwar freiwillig, aber ich traue Dir doch nicht«, sagte er. »Ich wäre ein Tor, wenn ich Dir Zeit ließe, Dich möglicher Weise in die Schwester zurückzuverwandeln. Kommen Sie nur herein, Jungfer Suse!« rief er über die Schulter – er hatte die alte Haushälterin sehr wohl bemerkt – »Erst müssen Sie bestätigen, dass Sie eine Braut gesehen, dann soll sie ihre Freiheit haben.«

Suse wischte sich die Augen und gratulierte sehr wortreich, dann aber beeilte sie sich, die Tür zuzudrücken, um zu »der Müllerfranzen über den Hof ’nüber, zu laufen«, und ihr halb glücklich, halb klagend zu sagen, dass es mit der Herrlichkeit in der Mühle wieder aus sei, weil das Fräulein nun doch heiraten wolle. …

Der Doktor trat an den Schreibtisch und schlug feierlich das Hauptbuch zu. »Die Karriere der schönen Müllerin ist geschlossen, denn – Ostern ist da«, sagte er. »Wie habe ich die Tage gezählt bis zu dem Ziele, das ich mir damals selbst stecken musste, wenn ich Dich nicht ganz verlieren wollte! Du weißt nicht, wie es tut, ohne Gewissheit gehen zu müssen, wenn man für sein ganzes Lebensglück zittert. Mein einziger Trost waren Deine Briefe an die Tante, diese klaren Briefe voll Willenskraft und strenger Weltanschauung, aus denen ich trotz alledem die heimliche Liebe las – aber wie spärlich kamen sie!« Er ergriff ihre Hand und zog sie wieder an sich. »Ich habe wohl begriffen, dass ein Zeitraum der Entsagung zwischen der schlimmen Vergangenheit und meinem neuen Leben liegen müsse; ich hatte ja Deinem geschwisterlichen Gefühle Rechnung zu tragen, aber bis zu dieser Stunde ist es mir doch rätselhaft geblieben, weshalb Du gänzlich entsagen und einen einsamen, unbeglückten Weg gehen wolltest.« Er verstummte plötzlich, und eine tiefe Glut bedeckte sein Gesicht – da, neben dem zugeklappten Hauptbuche lag ein Zettel; er kannte diese großen und doch so unsicheren Schriftzüge nur zu gut; solcher Papierstreifen waren ihm in der ersten Zeit seines Brautstandes genug zugeflogen.

Mit einer entschiedenen Bewegung legte Käthe die Hand auf die Papiere. Warum diese abscheuliche Intrige noch einmal an das Licht ziehen? Mochte sie doch begraben sein für immer; ihrem Glücke trat nichts mehr in den Weg. Aber tiefernsten Blickes zog der Doktor Brief und Zettel unter der Hand hervor. »Ich dulde kein Geheimnis zwischen uns, Käthe«, sagte er fest, »und hier liegt eines.«

 

Er las, und nun bestand er unerbittlich auf einer Beichte, und die Seelenkämpfe, denen das junge Mädchen unterworfen gewesen war, zogen an ihm vorüber, er sah aber auch in die Tiefen ihrer selbstlosen Neigung – sie hatte willig ihre ganze Zukunft hingeworfen, um ihn zu erlösen.

»Und wie steht es mit der schönen Gräfin Wite? Ich habe geglaubt, sie begleite die Tante Diakonus und werde drüben im Fremdenzimmer logieren«, sagte Käthe schließlich unter Tränen lächelnd; sie versuchte gewaltsam das unerquickliche Thema abzubrechen, das den sonst so gelassenen Mann in die furchtbarste Aufregung versetzt hatte, und es gelang ihr. Er lachte.

»Im Fremdenzimmer wohne ich«, versetzte er. »Ich hatte meine guten Gründe, Dich meine Ankunft vorher nicht wissen zu lasten, und mein Instinkt hat mich richtig geleitet. Was aber die junge Gräfin betrifft, so ist sie, behufs einer Kur, drei Monate unsere Hausgenossin gewesen, und legt ihre Dankbarkeit, weil es mir geglückt ist, sie herzustellen, ein wenig zu enthusiastisch an den Tag – das ist alles. In vierzehn Tagen wirst Du sie kennen lernen, denn bis dahin, mein Lieb, will der Professor seine Professorin heimführen – unser Brautstand hat sieben lange Monate gewährt – das bedenke! Ist es Dir recht, wenn wir da drüben«, er zeigte durch das Fenster nach einem nahegelegenen Kirchturme, »an den Altar treten? Ich habe das Dörfchen immer so gern gehabt.«

»Du darfst mich führen, wohin Du willst«, antwortete sie leise und innig; »aber ich habe hier noch Pflichten –«

»Bah, das Hauptbuch ist geschlossen, und ›Schilling und Kompanie in Hamburg‹ kann Dein getreuer Lenz abfertigen.«

Sie musste lachen. »Gut denn – wie Du befiehlst!« erklärte sie. »Ich trete zurück, und damit bricht für den armen Lenz eine bessere Zeit an; er soll die Mühle pachtweise bekommen – sie wird ihm rasch wieder zu blühendem Wohlstände verhelfen.«

Nun wurde auch die Schlossmühlenstube geschlossen, und Käthe schritt an Brucks Arm den Fußweg entlang, den sie so oft im Sturm und Unwetter zurückgelegt hatte. Heute war es himmlisch, unter den überhängenden, knospenden Zweigen hinzugehen. Die Blütenkätzchen der Weiden strichen schmeichelnd über die glühenden Wangen des Mädchens; ein weiches Abendlüftchen flog auf, und die Flusswellen zogen gesänftigt und leise plätschernd an den jungen, zitternden Ufergräsern vorüber. Drüben dehnte sich der Park hin, vornehm still wie immer; man sah die Schwäne auf dem Teichspiegel langsam kreisen, und hoch über den Wipfeln der Parkbäume flatterte eine blaugelbe Fahne auf der Villa – »die Herrschaft« war zu Hause.

Was alles flutete bei diesem Anblicke durch die zwei Menschenseelen, die sich eben Treue geschworen hatten für Zeit und Ewigkeit!

»Weißt Du auch, dass man Moritz in Amerika gesehen haben will?« flüsterte der Doktor.

Sie nickte. »Vor einigen Tagen wurden der Witwe Franz anonym fünfhundert Taler aus Kalifornien zugeschickt – sie zerbricht sich den Kopf über den Wohltäter, ich aber kenne ihn.« Und sie erzählte, wie »der Arbeiter mit dem blonden Vollbarte« die Rehe vor sich hergejagt hatte, um – sie vor einem grauenhaften Tode zu bewahren, weil sie in glücklichen Zeiten seine Lieblinge gewesen. …

Nun lag es vor ihnen, das liebe, alte Haus, von der Abenddämmerung umsponnen. Die Arbeiter hatten den Garten verlassen. Es war so feierlich still – die weißen Götterbilder dämmerten aus den Taxushecken, und die alte Frau kam lautlos, mit ausgebreiteten Armen die Türstufen herab, um »die Liebste, Beste«, die sie so lange vom Himmel für ihren Liebling erfleht, an das mütterliche Herz zu ziehen. …

Da zitterte tief und voll der erste Glockenton von der Stadt herüber – das Fest wurde eingeläutet – Ostern!

Ende