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Im Hause des Kommerzienrates

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Käthe ließ die Augen über das Haus hingleiten; sie sah wieder geklärt, lieblich und rosig aus wie eine Apfelblüte, und um ihre Lippen zuckte es wie verhaltenes Lachen – der flechtengekrönte Kopf mit dem kindisch schelmischen Gesichte saß fast befremdend jung auf der junonischen Gestalt. Sie zeigte nach dem verhängnisvollen Eckfenster. »Vor alten Zeiten hat dort eine schöne Edelfrau gelebt –«

»Ach, die romantische Geschichte, die man sich auch in den Spinnstuben erzählt!« unterbrach er sie. »Also das tragische Ende der Verlassenen ist’s gewesen –«

»Das nicht allein. Henriette hauptsächlich hat mir Bange gemacht –«

»Henriette ist krank; ihr tief erschüttertes Nervenleben drängt ihr Denken und Empfinden aus der natürlichen Bahn. Sie aber sind gesund an Leib und Seele.«

»Ja, gewiss, aber es gibt Dinge, für die man in seiner Jugend und Unkenntnis keinen Maßstab, kein eigenes Urteil hat –«

»Für die Liebe, zum Beispiel«, fiel er ein, und ein rascher, scheuer Seitenblick streifte das Mädchen.

»Ja«, bestätigte sie einfach.

Er senkte den Kopf und stieß, in tiefes Nachdenken versunken, mechanisch mit der Stockspitze gegen einen mächtigen Würfel aus Sandstein, welcher, der Haustür gegenüber, mitten im Rasengrunde lag. Früher war er für die kleine Käthe ein wunderlicher, aber hübscher Tisch gewesen, lediglich zu dem Zwecke hingestellt, dass Kinderhände gefallenes Obst, Blumen und gesammelte Steinchen darauf legen sollten. Jetzt erkannte sie in ihm das ehemalige Postament einer Statue noch sah man den Trümmerrest eines kleinen Fußes mit zarten Zehen auf der grünmoosigen oberen Fläche.

Käthe strich mit ihrer schlanken Hand schmeichelnd über die zierliche Form. »Das ist eine Nymphe oder Muse gewesen«, sagte sie. »Das schlanke Geschöpfchen hat schwebend, mit gehobenen Armen auf der einen Fußspitze gestanden; ich kann mir die ganze Gestalt auf der einen hochgeschwungenen Linie des Füßchens aufbauen. Vielleicht war ihr schöner Kopf seitwärts der Brücke zugewendet, und sie hat auch den Reiter über die Brücke kommen sehen, und dann die stolze Schlossfrau in der bunten Brokatschleppe –« sie verstummte unwillkürlich und sah ihm in das Gesicht; er war offenbar weit fort mit seinen Gedanken; er hörte nicht, was sie sagte, und das, was ihn beschäftigte, war sicher sehr deprimierend; zum ersten Male sah sie in diesem edelschönen, ruhig beherrschten Antlitze einen ausgesprochen gramvollen Zug. Flora! Sie war der Fluch dieses Mannes; er ging an seiner Leidenschaft für sie zugrunde.

Das plötzliche Schweigen des jungen Mädchens machte ihn aufblicken. »Ach ja«, sagte er sich sichtlich zusammennehmend, »die wirtschaftlichen Leute, die lange Zeit hier gehaust, haben sich das Vergnügen gemacht, die Statuen herabzustürzen. Der ganze Garten muss mit diesen Sandsteinfiguren bevölkert gewesen sein; rings im Gebüsche finden sich noch viele Postamente. Ich werde dem Grundstücke seine ehemalige Gestalt zurückzugeben suchen. Man sieht, trotz der Verwilderung, noch deutlich den Plan, der dem Garten zugrunde gelegen hat.«

»Dann wird es sehr hübsch und sehr vornehm hier werden, aber der Blick ins Grüne, in diese köstliche, verwechseln Wildnis geht verloren; Ihr Arbeitszimmer –«

»Mein Arbeitszimmer wird vom nächsten Oktober an eine liebe Freundin meiner Tante bewohnen«, unterbrach er sie gelassen. »Ich siedele im Herbst nach L…..g über.«

Sie sah ihn bestürzt an und faltete unwillkürlich die Hände.

»Nach L…..g?« wiederholte sie. »Mein Gott, Sie wollen sich von ihr trennen? Und was sagt sie dazu?«

»Flora? Sie geht selbstverständlich mit mir«, sagte er eiskalt, aber in seinen Augen lohte es auf wie ein schmerzlicher Zorn.

»Glauben Sie, ich werde Ihre Schwester hier zurückgelassenen? Sie dürfen ruhig sein.«

Wie schneidend seine Stimme klang!

Käthe hatte von der Tante gesprochen, allein sie war nicht fähig, das Missverständnis zu berichtigen; so betroffen machte sie seine Antwort – er schien seiner Sache so gewiss.

»Sie waren eben in der Villa?« fragte sie schüchtern und doch fieberhaft gespannt.

»Nein, ich war nicht in der Villa«, betonte er – klang es doch, als persifliere er sie, der feinfühlende Mann, der sonst nie seine Zunge zu einer Geißel des Sportes machte. »Ich bin überhaupt heute noch nicht so glücklich gewesen, jemand vom drüben zu sehen. Moritz hätte ich gern begrüßt, aber die Herren, die sich eben von ihm verabschiedeten, als ich an der Villa vorüberging, kamen so laut und heiter vom Frühstückstisch, dass ich es vorzog, unerkannt zu passieren.«

Er hatte demnach Flora heute noch nicht gesprochen, und dennoch diese Zuversicht! Es war zum Verzweifeln! Käthe wünschte sich weit weg aus diesem Dilemma – sie kam sich vor wie des Priamos unglückliche Tochter, die einzige Wissende unter den Verblendeten. Es war gut, dass in diesem Augenblicke die gezüchtigte Henne abermals unvorsichtig auf ihren erbitterten Feind losspazierte. Käthe fand dadurch einen Vorwand, das Gespräch abzubrechen; sie scheuchte das Tier über den Rasen hin in den Schuppen zurück, schloss die Tür und schob den Riegel vor.

16

Als sie sich wieder umdrehte, sah sie den Doktor noch neben dem Postamente stehen, aber sein Gesicht war in starrem Hinüberblicken der Brücke zugewendet. Er war blass geworden. Sein Profil mit den hartgeschlossenen Lippen unter dem Barte erinnerte sie an jenen Moment in der Schlossmühlenstube, wo sie ihn nach der Todesart ihres Großvaters gefragt hatte; er rang mit einer heftigen inneren Bewegung. Unwillkürlich folgte sie der Richtung seines Blickes, und wenn dort der Schatten der ertrunkenen Ehefrau über den Fluss hingeschwebt wäre, sie hätte nicht entsetzter aufschrecken können, als beim Anblicke der schönen Schwester, die so graziös, so vollkommen unbefangen über den Holzbogen daherkam, als sei sie gestern Abend mit einem »fröhlichen Wiedersehen« auf den Lippen von hier weggegangen. War es möglich? Sie glitt schlangenhaft leicht über die Stelle, auf der sie sich für frei und auf immer getrennt von dem missachteten Manne erklärt hatte; nur Stunden waren vergangen, seit sie seinem Heim, seinem Grund und Boden mit den härtesten Ausdrücken der Verachtung für alle Zeiten den Rücken gewendet, und jetzt kehrte sie das schöne, lächelnde Gesicht der »spukhaften Spelunke« wieder zu; ihre Füße betraten flink und zuversichtlich den Rasengrund; keine Welle zischte empor, kein Lüftchen regte sich, um ihr von Schuld, Willkür und beispiellosem Wankelmut vorzuflüstern, und der Sonnenschein umschmeichelte und vergoldeten die feingliedrige Gestalt, als sei sie ihm das liebste Erdenkind.

Sie war dunkel gekleidet. Schwarze reiche Spitzenkanten lagen auf den blonden Locken; sie umwogten den schneeweißen Hals und fielen in langen Enden tief über die Schultern hinab, wie die gesenkten dunkeln Flügel eines Engels der Nacht. Hinter ihr ging der Kommerzienrat; er sah sehr animiert aus; er führte die Präsidentin so respektvoll am Arme, dass sich Käthe alles Ernstes besann, ob sie von seinem höhnischen Blicke am heutigen Morgen und den Auslassungen über »die alte Katze mit den Samtpfötchen« nicht etwa nur geträumt habe.

Der Doktor ging jetzt langsam den Kommenden entgegen, während Käthe starr, wie festgewurzelt, am Schuppen stehenblieb und unbewusst den vorgeschobenen Riegel umklammert hielt. Sie sah, wie man sich gegenseitig begrüßte, genau wie sonst auch. Nichts Außergewöhnliches war geschehen, kein böses Wort gefallen. Der Kommerzienrat umarmte beglückwünschend den Doktor; die Frau Präsidentin zeigte gütig und verbindlich lächelnd ihre weißen Zahnspitzen – und Flora? Ihre Wangen erschienen allerdings momentan wie in eine lebhafte Rosenglut getaucht, und der sonst so selbstbewusste Blick irrte vom Antlitze des Doktors weg auf den Rasen nieder, aber sie streckte in gewohnter biederer Weise die Hand aus, und die Fingerspitzen wurden erfasst, wenn auch nicht festgehalten, ganz wie neulich bei Käthes Ankunft, und als sich Doktor Bruck umwandte, da waren seine Züge geradezu steinern ruhig.

Schon beim Betreten des Gartens hatte Flora die junge Schwester mit einem spöttischen Kopfschütteln vom Scheitel bis zu den Fußspitzen rasch gemustert und dann eine offenbar boshaft witzige Bemerkung über die Schulter zurück dem Kommerzienrat hingeworfen, jetzt aber, als sie nähergetreten war, sah Käthe, dass auch etwas wie unterdrückter Ärger, ja eine Art von Feindseligkeit in ihren blinzelnden Augen aufglommen.

»Nun, Käthe? Hast dich ja schon recht hübsch hier eingenistet«, rief sie ihr zu. »Tust ja wirklich, als seiest Du zuhause und trügest den Schlüsselbund zu allen Türen und Kästen am Gürtel.«

Das junge Mädchen antwortete nicht. Sie ließ die Hand vom Riegel gleiten und wandte das Gesicht mit den strenggeschlossenen Lippen langsam der Schwester zu. Ob die Übermütige dort nicht erschrak, ob sie sich nicht schämte vor dem Laute der eigenen Stimme, hier auf dieser Stelle? »Mich sieht dieses Haus nie wieder«, hatte sie gestern gerufen, und jetzt stand sie bereits auf der ersten Türstufe, um einzutreten, um zurückzukehren in »die bedrückend armselige Umgebung«.

»Nimmst Du Floras Scherz übel, mein Liebling?« fragte der Kommerzienrat, rasch zu Käthe tretend. Er legte ihren Arm in den seinen. »Du kannst Dir das getrost gefallen lassen, bist Du doch auch ein reizendes Hausmütterchen. Du sahst zum Malen hübsch aus unter dem bunten Hühnervolke. Warte nur, Du sollst einen Geflügelhof bekommen, wie er sich prächtiger nicht denken lässt.«

Die Präsidentin, die eben majestätisch die Steinstufen hinaufstieg, hielt einen Moment inne, als versage ihr der Atem – sie drehte den leicht nervös zitternden Kopf verächtlich nach dem zärtlichen Vormunde zurück, dann beschleunigte sie ihre Schritte. »Hirnloser Schwätzer! Er ist und bleibt sein Leben lang der abgeschmackte Kommis Voyageur!« murmelte sie erbittert Flora zu, die schnell das Taschentuch vor den Mund hielt, um nicht in ein lautes Gelächter auszubrechen.

 

Käthe ließ wie unbewusst ihre Hand auf dem Arme ihres Schwagers liegen. Sie hörte kaum, was er sagte; sie bemerkte auch nicht die seltsame Überraschung, mit welcher Doktor Bruck, stumm und starr wie eine Bildsäule, das Paar an sich vorüberschreiten ließ; sie sah nur, dass Flora an der schmalen Hand, die sie eben mit dem Taschentuche zum Munde führte, einen schwarzen Halbhandschuh trug; das feine durchbrochene Seidengewebe harmonierte mit den Spitzen, die über die ganze Gestalt gleichsam hinrieselten; dies machte die weiße Haut wie Elfenbein aufleuchten und ließ die Finger schlank hervortreten. Die zwei kleinen Brillantringe funkelten nicht mehr am Ringfinger, »der einfache Goldreifen, der grob wie Eisen drückte«, blinkte matt über dem Handschuh. Unmöglich! Dort rauschten ja die Wellen über ihn hin. Käthe hatte plötzlich die Empfindung, als sei sie der natürlichen Ordnung aller Dinge entrückt, als dürfe sie ihren gesunden Augen und Ohren nicht mehr trauen.

»Nun?« fragte die Präsidentin erstaunt im Hausflur stehen bleibend; sie zeigte pikiert mit finster zusammengezogenen Brauen auf das umherstehende Gerät aus der Villa.

»Henriette hat die Entfernung der Möbel so lebhaft gewünscht, dass ich nachgeben musste.« sagte Doktor Bruck mit tonloser Stimme kalt und gleichgültig.

»Sie hat auch vollkommen Recht. Es war eine wunderliche Idee – nimm mir’s nicht übel, Großmama! – das Krankenzimmer dermaßen vollzustopfen«, warf Flora achselzuckend hin. »Das arme Ding leidet ohnehin schwer an Brustbeklemmung; es mag ihr zumute gewesen sein, als solle sie mit all dem dicken Polsterzeug erstickt werden.«

Die Großmama hatte eine herbe, schneidende Antwort auf den Lippen, das sah man; allein sie schwieg in Rücksicht auf den Doktor und die in der Küchentür stehende Magd und rauschte nach dem Krankenzimmer. Beim Eintreten fuhr sie ein wenig zurück – Henriette hatte sich weit aus dem Bette geneigt. Sie sah so erschüttert aus, und ihre weitgeöffneten, glänzenden Augen hingen mit einem so verzehrenden Ausdrucke an der sich öffnenden Tür, dass die Präsidentin befürchtete, mitten in einen Fieberparoxysmus zu kommen. Sie beruhigte sich indes sofort, als die Kranke sie in der gewohnten kühlen Weise begrüßte; sie sah auch, dass der Blick voll unaussprechlicher Spannung Flora galt, welche unmittelbar nach ihr auf die Schwelle getreten war.

Die schöne Schwester ging direkt auf die Tante Diakonus zu, die sich beim Eintreten der Damen erhoben hatte, und reichte ihr so zuvorkommend die Hand, als wolle sie den Händedruck nachholen, den sie gestern Abend vergessen hatte; dann wandte sie sich nach denn Bette. »Nun, Schatz«, sagte sie zu der Kranken, »es geht Dir ja vortrefflich, wie man hört –«

»Und Dir, Flora?« unterbrach Henriette sie mit kaum bezähmbarer Ungeduld, während sie dem hinzutretenden Kommerzienrat, ihn zerstreut begrüßend, die Hand gab.

Flora verbiss mit Mühe ein moquantes Lächeln. »Mir? Ei nun, leidlich! Die gestrige Alteration spukt mir allerdings noch in den Nerven, aber ich habe ja Willen und Selbstbeherrschung genug, um sie niederzuhalten. Gestern freilich sah es schlimm aus in mir; ich war krank; ich glaube, ich bin halb wahnwitzig gewesen vor nervöser Aufregung; wenigstens bin ich mir nicht ganz klar über mein nachheriges Tun und Lassen – was Wunder! Daniel in seiner Löwengrube ist kaum übler daran gewesen, als ich in der ungeheuerlichen Situation. Unter solchen barbarischen Fäusten –«

»Nun, davor hat Dich Käthe tapfer geschützt«, sagte Henriette ergrimmt. »Wie ein Schild hat sie vor Dir gestanden und den Streich aufgefangen, die arme, brave Käthe! – Moritz, sie haben ihr die Kleider vom Leibe gezerrt, die Flechten von der Stirn niedergerissen –«

»Dieses wunderschöne Haar!« fiel die Tante mit sanftem Bedauern ein und strich zärtlich über die glänzenden Wellen, die von der Stirn des jungen Mädchens zurückfielen.

»Nun ja, sie haben ihr arg mitgespielt, die Furien!« gab Flora mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln zu, »aber ich muss mir’s denn doch ausbitten, dass ich dafür nicht allein verantwortlich gemacht werde. Ihre Manie, ewig in starrer Seide zu gehen, trägt zumeist die Schuld. Das Volk neidet uns nun einmal den Reichtum und die Eleganz; das seidene Kleid reizte die Weiber, und da hat sie denn – und leider auch wir – anhören müssen, dass ihre Großmutter barfuß gegangen und der Schlossmüller vordem Knecht gewesen ist, dass der Kornwucher ihr ganzes großes Vermögen zusammengescharrt hat, und was dergleichen liebliche Dinge mehr waren. Käthes Erscheinen hat unsere peinliche Situation nur verschlimmert; die Erbitterung gegen die reiche Erbin war grenzenlos – habe ich nicht Recht, Käthe?«

»Ja, Flora«, versetzte das junge Mädchen bitterlächelnd, mit bebender Stimme. »Ich werde viel tun müssen, um einigermaßen gutzumachen, was mein Großvater an der Menschheit gesündigt hat.«

Während Flora sprach, hatte sich die Gestalt der Präsidentin förmlich gestreckt vor innerer Genugtuung. Die schonungslose Bloßlegung des »skandalösen Stammbaumes« klang wie Musik in ihren Ohren; sie fixierte lauernd den Kommerzienrat. Der neugebackene Edelmann musste vor dem Gedanken zurückschrecken, dass das Volk mit den Fingern auf die Frau an seiner Seite zeigen und ihr Herkommen, den Ursprung ihres Geldes auf der Straße ausschreien würde. »Ach geh’, Käthe, das klingt denn doch gar zu kindlich naiv und empfindsam!« sagte sie den Kopf hin- und herwiegend. »Wie wolltest Du denn das anfangen?«

Flora lachte. »Sie will ihren kostbaren Geldspind öffnen und die Aktien unter das Volk streuen.«

»Wie Schwester Flora aus Angst um ihren tadellosen Teint gestern mit ihrer Börse getan«, warf Henriette beißend, in persiflierendem Tone ein; der aufwallende Groll drängte selbst das fieberhafte Verlangen, die Braut bereuend im Staube vor dem Doktor zu sehen, für einen Augenblick in den Hintergrund.

»Einer solchen Gedankenlosigkeit werde ich mich wohl nicht schuldig machen«, sagte Käthe gelassen, aber ernst abweisend zu Flora, die sich ärgerlich über Henriettens anzügliche Bemerkung auf die Lippen biss. »Ruht Fluch und Unsegen auf dem Gelde –«

Der Kommerzienrat unterbrach sie mit einem lauten Gelächter. »Kind, lasse Dir doch nicht bange machen! Unsegen! Ich sage Dir, das Glück hängt sich Deinem Erbe förmlich an die Fersen; die Gewinnanteile, die ich gegenwärtig durch ein neues glückliches Arrangement erziele, sind geradezu riesig.«

Die breiten Lider der Präsidentin, die meist mit einer gewissen vornehmen Müdigkeit die Augäpfel halb verschleierten, hoben sich bei dieser Schilderung. Das eine Wort »Gewinnanteil« machte diese großen Augensterne gierig flimmern, wie es vielleicht kaum in ihrer Jugend das Verlangen nach Siegen ihrer Schönheit vermocht.

»Riesig?« wiederholte sie kurz mit fliegendem Atem. »Das sind die meinen nicht. Ich will sofort verkaufen und mich an dem neuen Unternehmen beteiligen.«

»Das lässt sich leicht arrangieren, teuerste Großmama; ich werde heute noch die nötigen Schritte tun. Ja, ja, der gemeine Mann sagt ganz richtig; wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu, und nie ist das Wort wahrer gewesen, als in unserer wunderbaren Zeit. Der Kapitalist ist ein Fels, dem die Wogen von selbst ihre Schätze zuwerfen –«

»In den Augen der Ruhigdenkenden nicht, Moritz«, sagte Doktor Bruck. Er war vorhin bei Henriettens lebhaftem Widerspruch an das Bett getreten und hatte sanft beruhigend ihre Hand zwischen die seinen genommen – so stand er noch. Er sah sehr vornehm aus; noch trug er den Frack unter dem Überzieher und den Handschuh an der Linken, sein schönes, bärtiges Gesicht aber, das er jetzt voll den Anwesenden zuwandte, zeigte noch schärfer den eigentümlich leidensvollen Zug, den Käthe heute zum ersten Male bemerkt hatte. »Man ist schon seit längerer Zeit misstrauisch«, fuhr er fort, »und fängt an, diesen mühelosen Erwerb mit einem sehr harten Wort zu bezeichnen –«

»Schwindel willst Du sagen«, unterbrach ihn der Kommerzienrat belustigt. »Liebster Doktor, allen Respekt vor Dir und Deinem Wissen, aber in kaufmännischen Dingen überlasse mir die Beurteilung! Du bist ein ausgezeichneter Arzt, hast eben Deinen Namen zu einem weltberühmten gemacht –«

In diesem Augenblicke richtete sich Henriette aus ihrer halbzurückgesunkenen Stellung auf. »Weißt Du das, Flora?« fragte sie heftig, wie atemlos, wie halb erstickt von dem überwältigenden Triumphgefühle.

»Freilich weiß ich’s, Du Närrchen, obgleich der Herr Doktor es bis jetzt nicht der Mühe wert gefunden hat, mir in höchsteigener Person Mitteilung von seiner glücklichen Kur in L…..g zu machen«, antwortete Flora unbefangen und leichthin, und ihre Augen begegneten in beispielloser Herausforderung denen der Schwester. »Ich weiß auch, dass ihn plötzlich die fürstliche Gnadensonne bescheint, wie selten einen Sterblichen. Natürlich ist das noch Hof- und Staatsgeheimnis, das vorderhand nicht einmal – die Braut wissen darf.« Ein bezaubernd schalkhaftes Lächeln ließ ihre leuchtenden, scharfen Zähne sehen, und der Rosenhauch, der bei den letzten Worten plötzlich ihre Wangen anflog, stand ihr unvergleichlich.

Henriette ließ bitter enttäuscht den Kopf in die Kissen sinken – selbst sie hatte sich in diesem chamäleonartigen Frauengeist verrechnet.

Die Präsidentin, die in der Nähe des Doktors stand, klopfte ihm mit fast zärtlicher Zutulichkeit auf die Schulter. Als so gleichberechtigt in ihrem Verwandtenkreise hatte sie ihn bisher noch nicht behandelt. »Dürfen wir noch nichts Näheres erfahren? Sind die Präliminarien noch nicht beendet?« fragte sie schmeichelnd mit ihrer wohllautenden Stimme.

»Er kommt ja eben vom Fürsten«, sagte die Tante, ohne den stolz strahlenden Blick von ihm wegzuwenden.

»Ah, also ist Herrn von Bärs Pensionierung wirklich Tatsache?« Die alte Dame fragte das mit vornehm gleichgültiger Haltung, aber sie hielt den Atem zurück.

»Das weiß ich nicht – danach frage ich auch nicht«, versetzte der Doktor ruhig abweisend. »Der Fürst wünscht, dass ich – so lange ich mich hier noch aufhalte – sein langjähriges Fußübel in Behandlung nehme –«

»So lange Du Dich hier noch aufhältst, Bruck?« unterbrach ihn Flora stürmisch. »Willst Du gehen?«

»Ich werde mich mit Anfang Oktober in L…..g habilitieren«, versetzte er kalt; er sah sie nicht an. Sein Blick haftete auf dem knospenden Apfelbaume vor dem Fenster.

»Wie, Sie haben Stellung und Titel bei unserm Hofe ausgeschlagen?« rief die Präsidentin und schlug die Hände in bestürztem Erstaunen zusammen.

»Der Titel ist mir nicht erlassen worden« – ein leises, ironisches Lächeln stahl sich über sein Gesicht – »es ist jedenfalls nicht etikettegemäß in Serenissimus’ Augen, sich von einem titellosen Heilbeflissenen herstellen zu lassen. Er besteht darauf, mich zum Hofrate zu ernennen.«

Bei seinen letzten Worten streckte ihm die Tante Diakonus, mit einer tiefen Rührung kämpfend, die Hand entgegen, und er – sonst die scheue Zurückhaltung selbst – umschlang mit beiden Armen die zarte Gestalt der alten Frau und drückte sie fest und innig an seine Brust. Das Leid, die bittere Heimsuchung, welche diese beiden standhaft zusammen getragen, isolierte sie in diesem Augenblicke der Sühne vollkommen vom Kreise der Umstehenden.

Flora wandte sich ab und trat geräuschvoll in das Fenster; sie nagte sich die Unterlippe fast blutig; man sah, es zuckte ihr in den Händen, die treue Frau wegzustoßen von dem Platze, den sie, die pflichtvergessene Braut, verwirkt hatte.

»Er geht ja aber fort, Tantchen«, sagte Henriette mit ihrer heiseren, tonlosen Stimme vom Bette herüber.

»Ja, seinem Ruhme, seinem Glücke entgegen«, antwortete die alte Frau und hob unter Tränen lächelnd den Kopf von seiner Schulter. »Ich will gern hier zurückbleiben in dem Heim, das seine Sohnesliebe mir geschaffen hat, wenn ich ihn draußen geachtet, geehrt und befriedigt durch seinen großen Beruf weiß. Meine Mission an seiner Seite ist ohnehin bald zu Ende – eine andere tritt an meine Stelle.« Die Zärtlichkeit wich aus ihrer Stimme; sie sprach mit tiefem Ernste, und die sonst so milden Augen hafteten fest, fast streng auf dem schönen Mädchen im Fenster. »Sie mit ihrem reichen Geiste weiß jedenfalls die Heiligkeit, aber auch die oft herben Anfechtungen seines Berufes weit lebendiger zu erfassen, als ich, und wird ihm deshalb gewiss ein Daheim schaffen, das ihm, unabhängig von den äußeren Strömungen, gleichmäßig ein harmonisch-inniges Familienleben bietet.« Das Betonen des einen Wortes ließ Käthe deutlich erkennen, dass die Tante Floras gestriges hässliches Gebaren sehr wohl bemerkt und als Launenhaftigkeit aufgefasst hatte.

 

»Das ist alles recht schön und gut, meine beste Frau Diakonus, und ich zweifle auch keinen Augenblick, dass Flora eine ganz tüchtige Frau Professorin werden wird«, sagte die Präsidentin kühl – der indirekt ermahnende Ton, welchen die simple Pastorswitwe ihrer Enkelin gegenüber anzuschlagen wagte, verdross sie sichtlich –; »allein zu einem anmutenden Familienleben gehören heutzutage auch komfortable Räume, und das Beschaffen derselben macht mir augenblicklich große Sorge. Ich komme eben von einer erschöpfenden Beratung mit dem Möbelfabrikanten; er behauptet, nunmehr – Gott weiß aus welchem Grunde – die längst bestellten Boule-Möbel für Floras Salon bis zu Pfingsten absolut nicht liefern zu können. Flora hat sich währenddem mit der Wäschelieferantin herumgezankt, die auch so fabelhaft langsam ist und die Vollendung der Ausstattung erst bis Anfang Juli in Aussicht stellt. Was fangen wir an?«

»Wir warten«, sagte Doktor Bruck in seiner einsilbigen Weise und griff nach Hut und Stock, um beides fortzutragen.

Die Präsidentin fuhr ein wenig zusammen; sie sah ziemlich perplex aus, und eine gewisse Ängstlichkeit schlich durch ihre Züge, aber sie fasste sich rasch und klopfte ihn leicht auf die Schulter. »Das ist brav, liebster, bester Doktor! Sie helfen uns selbst aus der peinlichsten Verlegenheit, während ich mich auf berechtigten Widerspruch Ihrerseits gefasst gemacht hatte. Diese Pfingsten waren mir fast zu einem drohenden Gespenst geworden. Sie hielten so fest an dem einmal bestimmten Tage.«

»Gewiss, allein meine Übersiedelung nach L…..g macht eine Abänderung sogar notwendig«, entgegnete er gelassen und ging hinaus.

»Und was meint die Braut?« fragte die Tante Diakonus mit ungewisser Stimme; sie war augenscheinlich sehr betreten über die geschäftsmäßig kühle Ruhe des Doktors und das plötzliche verlegene Schweigen der Anwesenden.

Flora wandte ihr ein heiter strahlendes Gesicht zu. »Mir ist die gegönnte Frist insofern hochwillkommen, als meine künftige Lebensstellung plötzlich eine so ganz andere werden wird. Da bedarf es der Vorbereitung, der inneren Sammlung und Einkehr. Mein Gott, es ist ja doch ein himmelweiter Unterschied! Von der Frau eines Universitätsprofessors mit großem Namen verlangt die Welt ein ganz anderes Auftreten, ganz andere Kapazitäten, als von einer einfachen Doktorsfrau, möge ihr Mann immerhin Hofrat und Leibarzt eines Fürsten sein.« Ein unbeschreiblicher Hochmut sprühte förmlich aus der zarten, hoch emporgerichteten Gestalt; in jedem Worte klang innerer Jubel, mühsam unterdrücktes Frohlocken mit – sie stand auf dem Gipfel ihrer glühendsten Wünsche.

Der Kommerzienrat rieb sich vergnügt die Hände. Er hätte losplatzen und ihr in das Gesicht lachen mögen; die Präsidentin aber kämpfte sichtlich mit einer ärgerlichen Aufwallung. Jetzt maßte sich wohl gar die Enkelin an, mit ihrer »Partie« noch um so und so viel Staffeln höher zu steigen, als selbst sie, die hochgestellte fürstliche Beamtenfrau.

»Wohin versteigst Du Dich, Flora!« rügte sie, in zorniger Missbilligung den Kopf schüttelnd.

»In meine glänzende Zukunft, Großmama«, antwortete sie mit einem kleinen, übermütigen, boshaften Lächeln. Sie drehte der Präsidentin mit einer so ausdrucksvollen Gebärde den Rücken, als sei sie nun mit einer unerquicklichen Vergangenheit vollkommen fertig und wolle mit keinem Worte mehr daran erinnert sein.

»Und nun ergebe ich mich Ihnen auf Gnade und Ungnade, lieb Tantchen«, sagte sie zu der alten Frau, die jeder Bewegung der schönen Braut mit klugem, prüfendem Blicke gefolgt war. »Machen Sie mit mir, was Sie wollen! Ich unterwerfe mich allem; nur zeigen Sie mir den Weg, auf welchem ich Leo glücklich machen kann! Ich will nähen, kochen« – bei den letzten Worten streifte sie flink die Handschuhe ab, als wolle sie sofort Ernst machen und an den Kochherd treten. »Ah!« stieß sie erschrocken heraus und fuhr mit der Hand, wie fangend, durch die leere Luft – der »einfache Goldreif« war ihr beim Abziehen des Handschuhs vom Finger geglitten. niemand hatte ihn zu Boden fallen hören; man suchte, allein es war, als habe ihn die Luft aufgesogen.

»Er wird zwischen Deine Kissen gefallen sein, Henriette«, klagte Flora. Sie war ganz bleich geworden. »Erlaube, dass wir Dich für einen Moment emporheben und nachsehen –«

»Das kann ich nicht zugeben«, erklärte die Tante entschieden. »Henriette darf nicht beunruhigt, nicht unnötig aus ihrer bequemen Lage gebracht werden –«

»Unnötig!« wiederholte Flora vorwurfsvoll und schmollend wie ein Kind. »Es ist ja mein Verlobungsring, Tantchen.«

Käthe schauderte in sich zusammen bei diesen Worten. War Flora wirklich ein solches Kind des Glückes, dass eine Art Wunder ihr den Ring wieder in die Hände zurückgespielt hatte, oder log und trog sie mit dreister Stirn so entsetzlich? Sie suchte vergebens in den ängstlich umherforschenden Augen dieser Sphinx zu lesen.

»Das ist ein fataler Zufall«, sagte die Tante Diakonus, »aber verloren kann ja der Ring nicht sein. Wir werden ihn heute noch bei Henriettens Umbetten finden, dann soll ihn mein Dienstmädchen sofort in die Villa tragen.«

»Ich werde es ihr fürstlich vergelten; ich will ihr die Hand mit Gold füllen, wenn sie ihn mir heute Abend noch bringt«, versicherte Flora; eine peinliche Unruhe war über sie gekommen; es kostete ihr offenbar Mühe, sich geduldig zu fügen.

Die Präsidentin und der Kommerzienrat schoben sich jetzt Stühle an das Bett und nahmen Platz neben der Kranken, die sich mit keinem Worte mehr an den Verhandlungen beteiligt hatte. Nur einmal war der blonde Kopf jäh emporgetaucht, und ein bitter höhnischer Zug hatte die zum Sprechen geöffneten Lippen umzuckt. Bei der Versicherung der Großmama, dass sie nicht begreife, aus welchem Grunde der Möbelfabrikant die Ablieferung der Möbel verzögere, hatte sie hinüberrufen wollen: »Weil sie bereits halb und halb abbestellt gewesen sind.« Aber noch zur rechten Zeit wurde sie sich bewusst, dass nun mit keinem Worte mehr an das Vergangene gerührt werden dürfe.