TIONCALAI

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Wahre Geschichten

Irgendwann war die Woche vorbei und Deor kam wieder, um sie zu unterrichten.

„Ravela, Neolyt“, begrüßte er sie. „Wir hatten das Thema zwar beendet, aber ich dachte, wir könnten noch einmal die ganze Theorie um die Einhörner mit Fakten belegen.“

Neolyt machte große Augen. Sie wusste, dass Schüler die Drachen und Einhörner der Erwachsenen nur selten und dann auch nur aus der Ferne zu Gesicht bekamen und war erstaunt über Deors Angebot. Natürlich nickte sie begeistert. Sie gingen durch die Lehrergänge, die für Schüler normalerweise streng verboten waren, zu den Stallungen der Einhörner. Aus hellem, gut gepflegtem Holz waren die großzügigen und sauberen Boxen gefertigt, doch kein Einhorn war darin zu sehen.

„Sie sind wohl gerade auf der Weide“, meinte Deor und führte sie weiter durch den langen Gang, bis sie schließlich durch ein ebenfalls hölzernes Tor nach draußen traten.

„Oh!“, sagte Neolyt nur. „Sie sind so schön!“

Deor lächelte und nickte. In der Tat waren die Wesen, die dort auf der Wiese standen und von denen einige neugierig zu ihnen hinüberschauten, ausgesprochen schön. Das meist graue, hin und wieder auch weiße Fell schimmerte gepflegt im Sonnenlicht. Einige waren zierlich, andere kräftig, und jedes von ihnen hatte ein langes Horn auf der Stirn, was ihnen zusätzlich Anmut, Erhabenheit und den Eindruck von Weisheit verlieh.

Ein weißes Einhorn näherte sich ihnen und blieb einen Schritt vor Neolyt stehen, um sie neugierig zu betrachten. Es neigte kurz das Horn und Deor bedeutete ihr, ebenfalls den Kopf zu neigen.

„Bist du Neolyt?“, fragte es, ohne die Lippen zu bewegen.

Deor hatte davon erzählt, dass sie die Laute durch Magie erzeugen konnten.

Neolyt nickte.

„Mein Name ist Aviom. Ich gehöre sozusagen zu Wadne.“

„Ist sie noch nicht da?“, erkundigte sich Deor.

„Doch“, ertönte Wadnes Stimme von hinten und Neolyt fuhr erschrocken herum. „Ravela.“

„Ravela“, grüßten auch Neolyt und Deor.

„Dann lass ich euch mal ein paar Frauengespräche führen“, meinte Deor und wandte sich zum Gehen.

„Was heißt das? Frauengespräche?“, fragte Neolyt Wadne.

„Er meinte damit, dass Frauen über Einhörner besser Bescheid wissen als Männer, und um Einhörner soll es jetzt ja gehen, oder?“

„Ja.“ Neolyt strahlte.

„Kannst du denn schon sagen, ob Aviom ein echtes Einhorn ist oder nicht?“

Neolyt betrachtete Aviom eingehend. Die Fellfarbe und der typische Glanz stimmten, ein Horn war auch da und die Augen waren tatsächlich wunderbar tiefgrüne Teiche.

„Ja, er ist echt“, meinte sie darum.

Aviom nickte leicht lächelnd.

„Deor hat gesagt, es gäbe nur noch ganz wenige echte Einhörner.“

„Das stimmt leider. Deswegen dürfen wir uns glücklich schätzen, dass Aviom, aber auch Adád, der mit Valria hier ist, unter uns weilen wollen.“

„Es gibt eben doch noch einige Menschen, die Selay genug ähneln, um von uns erwählt zu werden“, erklärte Aviom und zwinkerte Wadne scherzhaft zu.

„Ich würde sagen, wir machen einen kleinen Spaziergang und plaudern dabei ein bisschen“, schlug Wadne vor und Neolyt nickte. Nachdem sie die Weide hinter sich gelassen hatten, begann Aviom, sie über ihr bisheriges Wissen auszufragen.

„Was weißt du über die Entstehung der Einhornreiter, Neolyt?“

Sie wiederholte getreu alles, was sie aus dem Unterricht behalten hatte. Als sie fertig war, schwiegen ihre beiden Begleiter eine Weile, nur Aviom schnaubte dann und wann und sah Wadne seltsam an.

„Das hat Deor dir also beigebracht“, meinte diese schließlich und lächelte.

„Stimmt es denn nicht?“

„Doch, nur einige Details sind nicht ganz richtig. Natürlich weiß Deor, wie es wirklich war, aber er muss dir das beibringen, was in seinem Lehrplan steht.“

Neolyt runzelte die Stirn. „Warum steht es nicht richtig in dem Plan?“

„Weil unsere geschätzten Hochräte und Königin Ivin glauben, die Wahrheit wäre … unangemessen für Kinder im Ausbildungsalter.“

Neolyt nickte langsam. Irgendwie glaubte sie, dass Wadne nicht das meinte, was sie sagte, und diese Angewohnheit der Menschen war manchmal wirklich lästig.

„Und wie ist es wirklich gewesen? Oder darfst du mir das nicht erzählen?“

„Nein, eigentlich darfst du es erst nach der Prüfung erfahren. Aber wir werden es dir jetzt erzählen. Es wird dir wahrscheinlich unbedeutend vorkommen, es ist auch nicht viel, aber es ist trotzdem wichtig, dass du es weißt.“

Abermals nickte Neolyt. Sie hatte das Gefühl, als würde gerade etwas viel Bedeutenderes passieren, als sie verstehen konnte.

„Erst einmal ist Selay nicht von einer anderen Küste gekommen, sie kam aus einer anderen Dimension“, begann Aviom und Neolyt machte große Augen. Bisher hatte sie nur gehört, dass andere Dimensionen wahrscheinlich existierten, und Yewan hatte erzählt, man müsse sehr, sehr mächtig sein, um eine davon zu besuchen. Allerdings verstand sie tatsächlich nicht, warum es so wichtig sein sollte, wo Selay hergekommen war.

„Dann hat nicht das älteste der Einhörner, sondern jenes sie erwählt, das sie im Traum gespürt und auf sie gewartet hat. Und anfangs wurden sogar einige Männer erwählt, bis zweihundert Jahre später einer von ihnen das Tor zur Dimension der Drachen öffnete und die Drachen darauf bestanden, nur Männer zu tragen. Man einigte sich darauf, dass im Gegenzug die Frauen das Privileg erhielten, von Einhörnern getragen zu werden.“

„Und die Kriege? Haben sie wirklich stattgefunden?“

„Ja, zu unserer aller Schande.“

„Warum?“

„Die Ursache ist bis heute nur wenigen bekannt. Manche behaupten gar, Selay selbst hätte sie provoziert.“

„Und stimmt das?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“

„Und hat man wirklich damit angefangen, Einhörner mit Pferden zu kreuzen, damit es genug für alle gibt, die Magie benutzen können?“

„Ja, auch das stimmt leider. Viele meiner Schwestern und Brüder darf ich kaum mehr so nennen, weil sie zu so großen Teilen Pferde sind, dass ihnen jeglicher Verstand der Einhörner abhandengekommen ist.“

„Die Armen“, sagte Neolyt, wofür sie erstaunte Blicke erntete. „Na ja, sie können ja nichts dafür, dass sie nur so aussehen, als wären sie Einhörner, und in Wirklichkeit Pferde sind. Das kann doch kein schönes Leben sein, wenn man immer wie in einer Verkleidung lebt.“

Wadne nickte und lächelte. „Das hast du sehr gut erkannt.“

Sie blieben bis zum Mittag im Wald. Wadne demonstrierte Neolyt, wie gut die Verbindung zwischen Einhorn und Reiter war, indem sie Aviom weit vorausschickte und ihm dann zielsicher folgte. Allerdings benötige eine solche Verbindung einige Zeit, bevor sie reife und am Anfang würde man nur wahrnehmen können, wie der andere sich fühle, wenn man ihn berühre, erklärte sie. Doch je länger die Verbindung währte und je mehr sich Reiter und Einhorn vertrauten, desto stärker würde sie werden.

Irgendwann schweifte das Gespräch ab und Wadne brachte Neolyt dazu, von ihrem Rudel zu erzählen, obwohl das bei ihr immer starkes Heimweh verursachte.

Nach diesem Tag setzten sie den Unterricht im Freien fort. Neolyt war Deor dankbar, dass er nicht darauf bestand, im Bau zu bleiben, denn der Wald tat ihr sehr gut.

Fast glaube ich es selbst, doch wie sollte das sein?

Unter dem Spiegel

Doch die Sommerferien fanden schließlich ihr Ende. Elly und Yewan kamen braungebrannt zurück, erzählten von genialen Wellen, genialem Wetter und einem genialen Strand und bedauerten und beneideten Neolyt zugleich, weil sie in den Sommerferien hatte lernen müssen, aber immerhin eine Woche lang Einzeltraining mit Wadne bekommen hatte. Auch Elnar kam drei Tage vor Schulbeginn wieder und hatte allerhand zu erzählen, von neuen Heilmethoden, einem neuen Geschwisterchen und einem neuen Haus, was sich seine Eltern mit Hilfe des jährlichen Zuschusses der Reiter kaufen konnten. Neolyt beneidete ihn darum, bei seiner Familie gewesen zu sein, sie vermisste ihr Rudel stärker denn je.

Dann ging der Alltag wieder los. Die Korridore wurden von Schülern und deren Gelächter und Geplapper erfüllt. Der in den Ferien wie ausgestorbene Bau erwachte zum Leben. Als Willkommensgruß an alle Lehrer wurden von irgendjemandem Momenfalter-Geschöpfe in den Gängen ausgesetzt und noch am Abend schwirrten einige bunt leuchtende Feenkobolde durch die Stockwerke.

Neolyt hatte einen völlig neuen Stundenplan bekommen und legte in der ersten Schwertkampfstunde die Prüfung ab, da sie in den Sommerferien keine Zeit mehr dazu gefunden hatte. Am nächsten Tag setzte sie auch den Unterricht bei Deor fort, der wieder ordnungsgemäß im Klassenzimmer abgehalten wurde. Auch bekam sie gleich am ersten Tag einen Stapel an Hausaufgaben mit, doch das störte sie nicht, da Baumwesen einfach unglaublich interessant waren. Sie gehörten zur Familie der Elementgeister und es gab zwar unendlich viele verschiedene und unterschiedlich mächtige von ihnen, aber Neolyt ließ sich auch von Deas, dem Bibliothekar, nicht davon abbringen, bereits am Wochenende darauf in verschiedensten Büchern nach ihnen zu stöbern, zumal Marcelo Lumis, begeistert von ihrem Lerneifer, ihr ein Buch nach dem anderen zeigte und empfahl. In vielen der Bände waren wunderschöne, detaillierte Zeichnungen der einzelnen Geschöpfe zu sehen und Neolyt verbrachte ihre geringe Freizeit damit, sie zu kopieren, bis sie schließlich feststellen musste, dass ihre Kritzeleien den Abbildungen nicht im Mindesten ähnelten und sie diese frustriert in den Müll entsorgte.

Aus dem Sommer wurde Herbst und aus dem Herbst schließlich der Winter, doch Neolyt bemerkte es kaum, da Deor sie geschickt mit so vielen Aufgaben gleichzeitig beschäftigte, dass sie nie dazu kam, die Ausgangszeiten ihres Jahrgangs wahrzunehmen. Aber sie verübelte es ihm nicht, denn sie wusste, dass er sich Sorgen um sie machte.

 

Trotzdem war sie froh, als sie endlich einmal wieder die Zeit fand, den Bau für ein paar Stunden zu verlassen. Elly und Yewan waren dabei, Elnar hatte ursprünglich ebenfalls mitkommen wollen, doch jemand hatte eine merkwürdige Vergiftung bekommen, die er sich unbedingt ansehen wollte. Erstaunt betrachtete Neolyt die wenigen weißen Flocken, die vom Himmel herabtanzten, als sie den Bau durch einen der getarnten Ausgänge verließen.

„Es ist schon Schneezeit?“, fragte sie verwundert.

„Ja. Kein Wunder, dass du Stubenhocker das nicht mitbekommen hast“, frotzelte Yewan.

„Was soll ich denn machen, wenn ich so viele Hausauf­gaben habe?“

„Ein paar ‚vergessen’“, antwortete er wie aus dem Gewehr geschossen, als wäre das selbstverständlich.

„Aber das geht doch nicht“, wandte sie ein.

„Natürlich, das machen Elly und ich ständig.“

Elly sah ein wenig verlegen drein. „Na ja, nur ganz selten“, meinte sie schließlich.

„Ich mach das nicht“, sagte Neolyt und Yewan zuckte ergeben mit den Schultern.

„Bitte. Aber sag später nicht, ich hätte dir nichts davon erzählt.“

Sie stapften durch den noch niedrigen Schnee bis zum Spiegelsee und ließen sich auf einem der größeren, flachen Steine nieder, von dem der Wind den Schnee wieder heruntergeweht hatte. Tatsächlich pfiff er hier, außerhalb des Schutzes der Bäume, höchst unangenehm, sodass ihre Finger bald taub waren.

„Kommt, lasst uns ein paar Steine fitschen, damit uns wieder warm wird“, schlug Elly vor.

„Was heißt das? Steine fitschen?“, fragte Neolyt.

„Wir zeigen’s dir.“ Elly und Yewan sprangen auf.

Neolyt folgte den beiden neugierig, während sie ein paar Steine aufsammelten und zum Ufer gingen.

„Gut, dass der See keine Wellen schlägt, da klappt das besser“, sagte Elly.

„Aber auch ein bisschen merkwürdig, oder? Bei dem Wind“, warf Yewan ein.

Er erwies sich als ein wahrer Meister darin, die Steine über das Wasser hüpfen zu lassen. Neolyt beobachtete interessiert, wie er einige Schritte Anlauf nahm und den Stein dann gekonnt aus dem Handgelenk warf, der tatsächlich vierzehn Kreise auf der glatten Oberfläche des Sees hinterließ, bevor er unterging.

„Wie machst du das?“, fragte Neolyt und trat zu ihm, während Elly ihrerseits Anlauf nahm und warf, doch ihr Stein sank schon nach dem fünften Sprung.

Yewan drückte Neolyt einen der flachen Kiesel in die Hand. „Du musst ihn so halten, dass der Zeigefinger am Rand anliegt und der Daumen drüber und der Rest drunter ist und dann muss er parallel zum Wasser gehalten werden.“ Er machte es ihr vor und warf den Stein, der zehnmal in weiten Sprüngen über den See hüpfte. Mehr schlecht als recht versuchte sie, es ihm nachzumachen, doch der Kiesel plumpste mit einem lauten Platschen ins Wasser, ohne auch nur einen winzigen Hüpfer getan zu haben.

„Das klappt nie beim ersten Versuch“, tröstete er sie. „Hier liegen genug Steine, mit denen du üben kannst.“

Sie übten noch lange, und auch wenn Neolyt es partout nicht schaffen wollte, einen Stein zum Hüpfen zu bringen, befand sie den Tag eindeutig als den besten des bisherigen Schuljahres.

Irgendwann wurde ihnen langweilig und sie wanderten um den See herum. Ungefähr am gegenüberliegenden Ufer stand ein Baum, der seine kräftigen Äste weit über das Wasser hinausstreckte. Sie ließen sich einige Schritte vom Ufer entfernt über den sachten Wellen nieder und ruhten sich aus. Yewan lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wölbung des Astes und sah in die kahle Baumkrone hinauf.

„Es tut gut, endlich mal entspannen zu können“, meinte er und Elly und Neolyt nickten zustimmend.

Elly hatte ihre langen blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr über den Rücken fielen und an den einige Schneeflocken hingen. Sie rieb ihre Hände und blies hinein, natürlich hatten sie vergessen, die Handschuhe mitzunehmen. Auch Neolyt konnte ihre Finger kaum noch spüren, aber sie wollte gern noch etwas bleiben, deswegen sagte sie nichts.

Yewan hatte seinen Blick vom grauen Himmel abgewandt und ließ ihn nun über das Wasser gleiten, bis er plötzlich aufsprang und wie gebannt hinabstarrte.

„Da war etwas“, sagte er leise. „Etwas ziemlich Großes.“

Neolyt sah ihn an, unsicher, ob er sie wieder einmal auf den Arm nahm, doch ein Blick zu Elly verriet ihr, dass auch diese etwas gesehen zu haben schien.

„Wie sah es aus?“, fragte sie.

„Ich weiß nicht. Wie ein großer Schlauch, aber doppelt so dick wie der Baum da.“ Yewan deutete auf den Stamm, dem der Ast entspross, auf dem sie saßen. Elly nickte.

„Es könnte eine Spiegelung gewesen sein“, wandte sie ein, doch Yewan schüttelte den Kopf.

„Es war da“, beteuerte er. „Lasst uns gehen.“

Schweigend traten sie den Rückweg an und sahen nur hin und wieder kurz auf den See, gespannt, ob noch etwas passieren würde, und sich gleichzeitig davor fürchtend.

Es war schon dunkel, als sie über eine Stunde zu spät in den Bau kamen, und sogar Neolyt sah Deor an, dass er erleichtert war, auch wenn er versuchte, ihnen eine strenge Ermahnung zu erteilen. Danach hörte Neolyt ihn noch leise mit Yewan reden, den er beiseite genommen hatte. „Vor allem von dir hätte ich mehr erwartet. Du weißt, dass es für sie draußen ohnehin gefährlich ist, und dass du zwar auf sie aufpassen sollst, aber im Ernstfall nicht viel ausrichten kannst. Besser gesagt, gar nichts!“

„Ja, Deor.“ Es klang ausnahmsweise tatsächlich zer­knirscht.

„Du solltest dafür sorgen, dass es nicht dazu kommen kann, dass sie sie erwischen. Es ist so unglaublich verantwortungslos, was du getan hast. Wenn sie dir egal ist, dann sag es, dann finde ich jemand anderen, der das gewissenhafter erledigt.“

„Sie ist mir nicht egal!“, fuhr Yewan auf.

„Dann beweise es“, erwiderte Deor.

Yewan senkte den Blick und nickte.

„Gut, aber wenn so etwas noch einmal passiert, müssen wir neu planen.“

„Ja.“

„Morgen Nachmittag reden wir noch einmal in Ruhe darüber. Hier sind mir zu viele Ohren in der Nähe.“

Neolyt fiel auf, dass auch sie gelauscht hatte, und dass Deor, wenn er es gewusst hätte, es nicht gutgeheißen hätte.

„Was hat er dir gesagt?“, fragte sie Yewan deshalb, auch wenn sie sich dabei irgendwie falsch fühlte.

Er lächelte nur und meinte: „Ist nicht so wichtig.“

Sie sollten ihr vertrauen.

Ein Pferd aus Stein

Der Winter schritt fort und Neolyt hatte abermals allerhand mit ihrer Ausbildung zu tun. Der praktische Unterricht der Magie fand nun dreimal in der Woche statt und obwohl es ihr viel Spaß machte, strengte es doch unglaublich an. Schon längst befassten sie sich nicht mehr mit der Schwerkraft oder Äußerlichkeiten, sondern experimentierten mit Licht. Natürlich konnte sie schon seit langem einfache Lichtkugeln beschwören, doch es war nicht einfach, ein ganzes Bild aufrechtzuerhalten. Immer wieder verschwammen Teile der Illusion, wenn sie sich auf eine bestimmte Stelle konzentrierte.

„Ist gut, hör auf“, sagte Deor einige Wochen nach dem Ausgangstag und unterbrach ihre schwachen Versuche, einen Stein zu projizieren.

„Ich verstehe nicht, warum es nicht klappt. Ich weiß doch das Wort und ich kann ihn mir vorstellen.“ Neolyt war enttäuscht und auch etwas ärgerlich über sich selbst.

„Magie ist mehr als das. Du brauchst Geduld“, erklärte Deor zum wiederholten Mal und Neolyt seufzte. „Wenn du jagst, kannst du auch nicht einfach drauflosrennen, sondern musst geduldig auf einen günstigen Zeitpunkt warten.“

„Ich weiß. Ich war so lange nicht mehr jagen.“

Einen Moment schwiegen sie und Deor sah unbehaglich drein.

„Erklärst du es noch mal?“, fragte Neolyt schließlich.

„Natürlich.“ Bestimmt zum siebten Mal an diesem Tag beschrieb er das Vorgehen beim Illusionieren. Neolyt konnte beinahe mitsprechen und es ärgerte sie, es trotzdem nicht umsetzen zu können. Man musste Ruhe finden und den Kopf von allen Gedanken befreien, sich das Bild vorstellen, das Wort sagen – elmane – und dann sollte es eigentlich funktionieren. Eigentlich.

„Vielleicht setzt du dich, dann ist es einfacher, sich zu entspannen.“ Deor sprach ein Wort und Neolyt sah neidisch, wie zwei Kissen auf dem Steinboden der Magie-Kammer erschienen. Sie setzte sich und schloss die Augen, doch sobald sie versuchte, ihren Kopf zu leeren, strömten stattdessen alle möglichen Sorgen und Gedanken und Erinnerungen auf sie ein. Resigniert machte sie sich daran, sie alle noch einmal durchzudenken und dann abzuschieben, doch es ging wieder nicht.

Sie öffnete die Augen wieder und sah, wie Deor sie beobachtete.

„Wie leerst du deinen Kopf?“, fragte er.

„Ich gehe alle Gedanken durch, dann kann ich sie manchmal ignorieren.“

„Das dauert viel zu lange und ist unzuverlässig“, erklärte er. „Du musst dich entspannen, nur einen einzigen schönen Gedanken behalten, der alle anderen verdrängt. Dann kannst du auch den ignorieren und dich auf das konzentrieren, was du projizieren willst, in unserem Fall einen Stein.“

Neolyt schloss abermals die Augen. Sie atmete langsamer und tiefer, wie bei den Meditationsübungen, und suchte sich durch ihre Erinnerungen. Die Jagdübungen mit ihrer Mutter kamen ihr in den Sinn und bald hatte sie alles andere vergessen. Sie hatte ganz allein ihren ersten Hasen gefangen und Anuim war so stolz auf sie gewesen. Sie hatte gesagt, sie würde eine große Jägerin werden und sicherlich auch eine würdige Alpha-Wölfin. Wie schön die Zeit doch gewesen war. Mit Mühe riss sie sich auch von diesem Gedanken los und nach kurzer Zeit in absoluter Dunkelheit beschwor sie vor ihrem inneren Auge das Bild des blöden Steines.

„Elmane“, sprach sie und öffnete die Augen. Kurz sah sie die Illusion noch flirren, dann war sie verschwunden.

„Sie war da“, sagte Deor und lächelte. „Solange deine Augen geschlossen waren, war die Projektion perfekt.“

„Kann ich es noch einmal versuchen?“

„Nein, heute nicht mehr.“

„Bitte, nur ein einziges Mal.“

„Nein, Neolyt, wirklich nicht. Wenn ich dich zu spät ins Bett schicke, bekomme ich Ärger mit Lora und außerdem brauchst du den Schlaf. Übermorgen üben wir weiter“, versprach er und Neolyt verabschiedete sich höflich.

Todmüde lief sie die Gänge entlang und beeilte sich, ins Bett zu kommen. Für morgen stand die nächste Semesterprüfung auf dem Plan und sie wollte unbedingt noch ein paar Stunden schlafen. Also rollte sie sich als Wolf auf dem Bett zusammen – weshalb Lora schon oft geschimpft hatte, weil ständig Haare auf dem Laken waren – und war augenblicklich eingeschlafen.

Sie ist auf der Lichtung. Vor ihr steht ein Pferd aus Stein.

Schlagartig erwachte sie, schweißgebadet und zu Tode erschreckt. Es war dunkel und als sie um sich tastete, merkte sie, dass sie nicht im Bett war.

Wo war sie?

Angst kroch ihre Beine hinauf. Sie war sich nicht so sicher, ob man Leute mit Magie an andere Orte bringen konnte. Aber wenn das ging – was, wenn diese Leute sie weggeholt hatten, von denen Deor erzählt hatte? Sie schauderte und die Angst erreichte ihre Kehle.

Es war stockdunkel. Und so still. Summend lastete die Stille auf ihren Ohren, während sie sich tief in die Ecke kauerte und mit weit aufgerissenen Augen in die absolute Dunkelheit starrte. Ihr wurde klar, dass sie unmöglich im Bau sein konnte, denn dort brannten auch nachts die Lampen. Eine Träne schlich sich in ihr Auge und bald saß sie weinend da, voller Angst und Heimweh, und sie wünschte, sie wäre dem Jäger nie begegnet und Deor hätte sie nie von zu Hause weggeholt. Die Verzweiflung ließ sie laut aufschluchzen.

Nach einer Weile versiegte der Tränenstrom und ihr Verstand meldete sich zurück. Energisch wischte sie sich über die Augen und schalt sich einen Schafskopf. Sie schnippte mit den Fingern und eine Lichtkugel erschien, die ihre erste Befürchtung zunichtemachte, denn sie befand sich nicht in einem abgeschlossenen Raum, sondern in einem verstaubten, mit Spinnweben verhangenen Gang, dessen Holztäfelung schon lange nicht mehr vollständig war. Wadne hatte einmal erzählt, dass Teile des Baus seit langem leer standen, und die Frage war nur, wie sie hierhergekommen war und vor allem, wie sie wieder zurückkommen sollte.

Da sie nicht wusste, wie spät es war oder wo sie langgehen sollte, lief sie ohne nachzudenken los, immer geradeaus. Nur das leise Tapsen ihrer Schritte und gelegentlich das Huschen eines kleinen Tieres, das ihre Nase als Ratte identifizierte, war zu hören, während sie mit der Lichtkugel dem verstaubten Korridor folgte. Sie hatte ihre Wolfsgestalt angenommen und das tat gut, denn sie war eine Ewigkeit Mensch gewesen und das konnte kein Wolf aushalten.

 

Wie lange sie schon unterwegs war, wusste sie nicht, als sie an eine Weggabelung kam. Spontan entschied sie sich für links. Als nächstes ging sie rechts, denn sie hatte keine Lust, im Kreis zu laufen. Eigentlich müsste es auch irgendwo ein Treppenhaus geben, dachte Neolyt gerade, als der Gang endete. Enttäuscht machte sie kehrt und erkundete die linke Abzweigung. Nach einer weiteren Kreuzung fand sie endlich eine Treppe, doch diese war nach einer Etage vorüber, was Neolyt hoffen ließ, sich direkt unter der Erde zu befinden. Doch bald fand sie eine weitere Treppe, die abermals nach oben führte.

Die Gänge, durch die sie lief, sahen alle gleich aus und allmählich wurde ihr langweilig. Außerdem hatte sie Hunger. Als die Ratte das nächste Mal vorbeihuschte, schnappte sie zu und verschlang sie in einigen Happen. Es war bei Weitem nicht das Schlimmste, was sie je gegessen hatte, aber näher daran, als ihr lieb war, und sie hoffte, hinauszufinden, bevor sie das nächste Mal der Hunger überfiel.

Die Zeit verstrich und sie wurde entsetzlich müde, obwohl sie schwören konnte, noch nicht lange unterwegs zu sein. Während sie die nächste Treppe hinaufstieg, flackerte die Lichtkugel plötzlich bedrohlich und verlosch. In der Dunkelheit schleppte sie sich mit letzter Kraft weiter zur Wand und rollte sich schließlich zum Schlafen zusammen.

Dunkle Gänge… Eine Tür…

Abermals erwachte sie urplötzlich und diesmal gruselte es sie wirklich, denn sie stand direkt vor der Tür, die sie im Traum gesehen hatte. Ehe sie sich entscheiden konnte, sie zu öffnen, ertönten hinter ihr Schritte und am Ende des Ganges erschien ein Licht. Hastig verwandelte sie sich in das Mädchen zurück und schlüpfte durch die Tür. Bevor sie zufallen konnte, besann sich Neolyt und lehnte sie nur an. Der Raum war eng und wurde von einer Leiter ausgefüllt, die sie dankbar seufzend hinaufkletterte. Sie stieß die Klappe auf und blinzelte in die weiße Helligkeit.

„Schön, dich einmal wieder zu sehen, Lunornaila“, sagte da eine Stimme hinter ihr und Neolyt fuhr so sehr zusammen, dass sie beinahe hinuntergefallen wäre. Natürlich war es Mondschatten, der dort stand und sie aus blauen Augen belustigt ansah.

„Was machst du hier?“, fragte sie, während sie ganz herauskletterte und die Luke wieder verschloss.

„Wollen wir dasselbe Gespräch führen wie im Sommer?“, fragte er zurück.

„Nein. Weißt du, wo wir sind?“

„Natürlich.“

„Kannst du mir sagen, wie ich zum Bau zurückkomme?“

„Ja, aber ich könnte dich auch hinführen.“

„Das wäre sehr nett, danke.“ Sie trat einen Schritt näher und wartete darauf, dass er losging, doch er sah sie nur nachdenklich an.

„Kannst du reiten?“

Neolyt schüttelte den Kopf.

„Dann lernst du es jetzt.“

Verwundert sah sie, wie das große, graue Pferd in die Knie ging, damit sie auf seinen Rücken steigen konnte. Ungeschickt kletterte sie hinauf und krallte sich erschrocken in der Mähne fest, als es wieder aufstand. Der Rücken bewegte sich unter ihr, aber bald merkte sie, dass sie nur locker sitzen bleiben musste.

„Halt dich etwas mehr mit den Beinen fest“, riet Mondschatten und lief schneller. Das Auf und Nieder tat am Anfang recht weh, doch Neolyt gab sich Mühe, sich nicht zu verkrampfen und bald ging es.

Der Wald flog geradezu an ihr vorbei und kam ihr zunehmend vertrauter vor.

„Müssen wir nicht da lang?“, fragte sie, als Mond­schatten wieder im Schritt ging und den Weg Richtung See einschlug.

„Nein, nein“, meinte er und lief weiter.

Der See war wie immer spiegelglatt. Die Farben der untergehenden Sonne wurden vom Wasser mit derselben Strahlkraft wiedergegeben – ein wunderbarer Anblick. Einen Moment lang staunten sie beide – oder zumindest schwieg Mondschatten und sah auf den See –, dann ließ er sich wieder auf die Knie hinab, sodass Neolyt etwas umständlich absteigen konnte.

„Es ist wirklich schön hier“, sagte sie und trat einige Schritte vor. „Bei uns im Rudel würde mir das niemand glauben. Außer Mlema Anuim natürlich. Aber sie hat das sicher schon gesehen. Bist du oft hier, wenn die Sonne untergeht?“ Sie wandte sich um, doch das silbergraue Pferd war verschwunden.

Neolyt setzte sich auf einen flachen Stein und wartete, während die Sonne immer weiter in den Bergen versank. Zwar war ihr klar, dass sie so schnell wie möglich zum Bau zurück musste, aber dieses Farbenspiel wollte sie sich nicht entgehen lassen.

Allmählich begann sie zu frieren, denn auch wenn hier am Ufer kein Schnee mehr lag, war es dennoch ziemlich kalt. Sie schlang die Arme um die Knie und versuchte, sich Wärme vorzustellen, bis der Saum ihres Ärmels Feuer fing und sie es hastig ausschlug. Danach unternahm sie keine weiteren Versuche, die Kälte durch Magie zu vertreiben, sondern wurde einfach zum Wolf, das Fell wärmte schließlich auch.

„Neolyt!“

Als der Ruf ertönte, fuhr sie herum und stand auf, während sie wieder ihre menschliche Gestalt annahm. Wadne stand am Waldrand und sah sie erleichtert und fassungslos an.

„Neolyt, was machst du hier?“

Auf einmal war ihr wieder zum Heulen zumute, doch diesmal zwang sie die Tränen zurück und lief zu ihrer Lehrerin hinüber.

„Wo bist du gewesen?“, fragte Wadne. „Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.“ Ein leichter Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit.

„Ich war nicht absichtlich weg“, murmelte Neolyt und senkte den Blick. „Tut mir leid.“

Wadne sah sie kurz verwirrt an, doch dann winkte sie ab. „Komm erstmal mit zurück und iss etwas, dann kannst du alles nacheinander erzählen.“

Es war zwar Fischsuppe, aber sie war warm und auf jeden Fall um Welten besser als die Ratte. Als sie fertig war, hatten sich auch Deor und Yewan eingefunden, die sie so erwartungsvoll ansahen, dass sie sich auf ihrem Stuhl ganz klein machte.

„Ich bin nicht weggegangen.“ Sie flüsterte fast. „Ich habe geschlafen und als ich aufgewacht bin, war ich in einem dunklen Tunnel.“ Vorsichtig blickte sie auf. Die drei um sie herum sahen nicht wirklich skeptisch aus. Oder zumindest glaubte es Neolyt. Ihre Mienen wirkten eher besorgt. „Ich hab dann raus gefunden und Mondschatten hat mich zum See gebracht.“

„Wer ist Mondschatten?“, erkundigte sich Yewan.

„Ein Pferd. Ich habe es im Sommer einmal getroffen.“

„Wie konnte Mondschatten wissen, dass wir nicht im Bau waren?“, fragte Wadne verwundert.

„Sicher hat er euch gesehen. Er kennt sich gut aus im Wald“, erklärte Neolyt.

„Gut, wir sollten uns nicht darüber den Kopf zerbrechen, wie, sondern froh darüber sein, dass wir dich so schnell gefunden haben“, meinte Deor. „Geh jetzt erst einmal schlafen.“

Neolyt stand auf, doch die Angst war zu groß. „Waren es die Leute?“, fragte sie, „die, die mich töten wollen?“

„Nein“, log Deor.

„Wie bitte?“ Valria stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Du meinst, sie wissen, wo sie ist?“

„Nein“, erklärte Deor noch einmal. Es war tief in der Nacht und er hatte schon die ganze letzte Woche wenig geschlafen. Doch er musste ihr den Vorfall berichten, damit sie die nötigen Vorkehrungen treffen konnte. „Einer von ihnen muss hier im Stützpunkt sein und hat vermutlich einen dieser Fangzauber gesandt. Du weißt, dass sie es schon versucht haben, aber ich dachte, wir hätten etwas dagegen unternommen.“

„Ja, haben wir. Alle auf Neolyt gerichteten Fangzauber werden auf unser gesichertes Quartier gelenkt, wo ihr nichts passieren kann. Nur scheinbar war der Beschwörer noch unerfahren und hat den Zauber vermasselt, weswegen er natürlich auch nicht ordentlich umgelenkt wurde.“

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