Schärenmorde

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4

Es ist wahr, dachte Malin Skogh. Es ist wahr, dass einem schwarz vor Augen wird, wenn man etwas richtig Schreckliches erfährt. Es ist wahr, dass man in der Luft hängt, als ob der Erdboden plötzlich verschwunden sei.

Sie war mitten auf dem Bergsbacken auf ein Mäuerchen gesunken, hielt das Telefon ans Ohr gedrückt und flüsterte: »Das kann doch nicht wahr sein.«

»Doch, das ist es. Malin, du musst mir zuhören.«

Fatima Barsawi wusste, wie sich Schmerz anfühlt, wie Trauer und Verluste sich ins Herz brannten und dort wie ein wütendes Tier mit spitzen Zähnen nagten. Das hatte sie früh gelernt, während des letzten Jahres im Irak, als der Bruder ihrer Mutter verschwand und die Augen der Mutter erloschen. Und während der Flucht, als die Angst die Familie Barsawi wie ein eiskalter Schatten verfolgte und die Erinnerung an all das, was verloren gegangen war.

Jetzt galt es vor allem, ruhig zu bleiben. Zu atmen, zu überlegen.

»Malin, hör zu. Das, was ich sage, ist wahr. Robert ist verhaftet. Er steht im Verdacht, Lars Gustavsson getötet zu haben. Mehr darf ich nicht sagen. Jedenfalls im Augenblick nicht. Er bekommt aber einen Anwalt, heute oder morgen.«

Fatima überlegte eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Es ist so – aber du darfst nicht sagen, dass du das von mir erfahren hast –, dass auf Roberts Jacke Blutflecken gefunden wurden. Und er kann sich nicht erinnern, was er in der Nacht im Hafen gemacht hat. Ich weiß, dass es für dich sehr schwer ist. Ich würde gerne rüberkommen, aber ich muss heute Abend arbeiten.«

»Ich komme zurecht, bestimmt. Aber danke, dass du angerufen hast. Danke auch, dass du es mir gesagt hast. Ich weiß, dass du nicht so viel sagen darfst. Das ist in Ordnung. Ich muss jetzt …«, stieß Malin heraus und drückte das Gespräch weg, ehe die Tränen zu laufen begannen.

Robert, dachte sie. Oder Ro-Bert, wie er genannt wurde, als er in die erste Klasse ging, mit einer Art Anknüpfung an Vaters Freund Onkel Bert. Robert, den sie bei all seinen zerplatzten Liebesgeschichten und seinen halbherzigen Versuchen, etwas Ordentliches zu werden, gestützt hatte. Der kleine Bruder, dem die Scheidung der Eltern stark zugesetzt und der angefangen hatte, ein bisschen zu viel zu feiern, der jedoch nie in eine Schlägerei verwickelt gewesen war. Nie.

Robert, der sich zusammengenommen hatte und für Malin dagewesen war, als sie nach einer Trennung vor ein paar Jahren in ein schwarzes Loch gefallen war. Ruf mich jederzeit an, Schwester, ich bin immer da, hatte er gesagt.

Er hat niemanden getötet, dachte Malin. Und jetzt ist er derjenige, der Hilfe braucht.

Der Mann im dunklen Anzug trat auf den Balkon hinaus, lehnte sich vor und spähte hinunter auf die Parkschule. Er trommelte auf das Geländer und wandte sich zurück zum Wohnzimmer.

»Wo ist er? Ich gehe davon aus, dass ihr das hier ernst nehmt«, sagte er und betrachtete den bedeutend jüngeren Mann auf dem Sofa. Jeans. Gesprenkeltes T-Shirt, das sich über den muskulösen Armen spannte. Kurzgeschnittene Haare. Stark, aber nicht besonders helle, stellte er fest.

»Wir haben Probleme«, fuhr er fort und kam zurück ins Zimmer. »Ihr seid gesehen worden. Zuerst im Hafen, dann im Wald. Ich weiß, dass ihr euch darum gekümmert habt, aber das war nicht gut. Und der Mann, der bei der Polizei verhört wird, erinnert sich vielleicht an euch.«

»Wir können uns auch um ihn kümmern«, murmelte der Mann im T-Shirt.

»Njet grasjnojo raboty«, sagte der Mann im Anzug.

»Was?«

»Eine russische Redensart. Es gibt keine schmutzigen Arbeiten. Nur schmutzige Gewissen. Es gibt noch mehr Probleme. Irgendjemand hat ein Foto von dir und dem Alten gemacht, das stand in der Zeitung. Ihr müsst herausfinden, wer das war«, fuhr er fort.

»In Ordnung. Kein Problem.«

»Noch etwas. Adam hat mich benachrichtigt, als er die Lieferung erhalten hat. Es fehlt ein Karton. Ihr habt wohl nicht angefangen, eigene Geschäfte zu machen, du und dein Kumpel?«

»Aber nein, zum Teufel, das weißt du doch. Niemals«, antwortete der Kurzhaarige, während er auf dem Sofa hin und her rutschte.

»Wo ist er denn dann? Es sind wichtige Teile drin.«

»Weiß ich nicht. Wir haben ihn vielleicht im Hafen verloren; es wurde turbulent, als der Alte aus dem Boot auftauchte und fragte, was wir da machen. Und dann kam dieser junge Bursche herangetorkelt. Wir mussten verschwinden, nachdem wir den Alten fertig gemacht hatten.«

»Findet den Karton. Du weißt ja, was sonst passiert«, antwortete der Mann im Anzug.

Der Bau im Hafen war kürzlich nach langen aufreibenden Diskussionen in Gang gekommen. Unterschriftenlisten und Demonstrationen hatten nichts genützt, jetzt sollten Teile der alten Gebäude abgerissen werden, um Platz für teure neue Wohnungen zu schaffen. Eine Hammarby-Seestadt, die nicht nach Norrtälje passe, meinten die Kritiker, auch wenn sie zufrieden waren, dass das größte Silo stehen bleiben sollte.

Jimmy Mårtensson war froh über die Arbeit bei der großen Baufirma, die den Hauptteil der Nutzbarmachung übernehmen sollte, auch wenn er über die Entwicklung an sich nicht besonders erfreut war. Ihm gefiel der Hafen, so wie er war. Er mochte das etwas Verwahrloste und Heruntergekommene, die Schuppen, das Gerümpel, die Frachtschiffe, die kamen und gingen. Aber Arbeit ist Arbeit, dachte er, als er Schritte näherkommen hörte.

»Hallo, Jimmy. Ich habe mir gedacht, dass ich dich hier treffen würde.«

Malin Skogh schielte zu Jimmy hin und sah die Reaktion in seinem Gesicht. Das Lächeln verwandelte sich in einen »Du-Ärmste-Blick«.

Alle wissen es, dachte sie. Alle in dieser kleinen Stadt wissen es. Malin hob den Kopf und blickte Jimmy in die Augen.

»Ich brauche deine Hilfe, Jimmy. Du arbeitest hier unten und kennst andere Leute, die hier herumlaufen. Ich wollte fragen, ob du irgendetwas gehört hast. Ob jemand etwas gesagt hat über das, was passiert ist. Du weißt schon, als Lars Gustavsson getötet wurde.«

»Ich weiß, dass Robert unschuldig ist«, fuhr sie fort, hielt jedoch inne, als sie Jimmys Blick sah.

»Ich weiß, was du denkst. Dass ich das nur sage, weil ich seine Schwester bin und so weiter. Aber das stimmt nicht. Du kennst Robert, er würde nie jemandem etwas antun. Du musst mir helfen. Bitte, Jimmy, wir waren doch immer gute Freunde.«

Sie hatte recht. Sie kannten einander seit der Kindergartenzeit. In der achten Klasse waren sie sogar kurz miteinander gegangen, danach waren sie Freunde geblieben. Jetzt sahen sie sich nicht mehr so häufig; er war eine Zeitlang nicht in Norrtälje gewesen, aber sicher mochte er Malin. Die aufrechte Malin, die versucht hatte, Macke Melander zu verprügeln, als dieser Tobias Olsson mobbte. Das war nicht besonders gut ausgegangen, aber es war mutig gewesen.

»Malin, man weiß nie, was ein anderer zu tun imstande ist. Denk daran. Aber natürlich kann ich mich ein wenig umhören. Deinetwegen.«

Malin bedankte sich bei Jimmy und setzte ihren Weg am Kai entlang fort. Die Absperrungen waren verschwunden, doch die Blutflecken waren immer noch sichtbar. Als sie sich davor hinhockte, fühlte sie, wie ihr Puls in die Höhe ging. Hier also ist es passiert, dachte sie, aber was ist hier eigentlich noch zu finden? Sie blickte auf die Bucht von Norrtälje hinaus, wo sich ein Frachtschiff näherte. Dort draußen muss ich suchen, dachte sie. Ich muss herausfinden, welche Schiffe in dieser Nacht dort lagen.

Eine halbe Stunde zuvor hatte Elias Mellberg seinen Feldstecher herausgeholt und sich um den Hals gehängt.

Er war vor kurzem zehn Jahre alt geworden und hatte den Feldstecher geschenkt bekommen. Er eignete sich ausgezeichnet für seine Untersuchungen. Elias liebte Kriminalgeschichten und hatte alle Lasse-Maja-Bücher gelesen. Er sammelte Spuren und Beweise in einem Schuhkarton, in dem er mehrere unleserliche Quittungen, einen verdächtigen Briefumschlag, drei geheime Schnüre und einige Knochenstücke, die eindeutig dubios waren, aufbewahrte.

Er setzte seine Sportmütze auf und schlich sich von der Gransättersgatan hinunter zum Hafen. Er hatte gehört, dass dort jemand umgebracht worden war, seine Mutter wollte jedoch nichts Näheres darüber sagen. Jetzt hatte er vor, die Sache auf eigene Faust zu untersuchen, irgendwo musste es Anhaltspunkte geben.

Vorsichtig schlich er sich an der Pizzeria vorbei, duckte sich hinter ein Auto und schlüpfte durch ein angelehntes Gartentor. Plötzlich hörte er Stimmen und verkroch sich hinter einem struppigen Gebüsch. Als er versuchte, weiter zu kriechen, hörte er, wie es unter seinem Fuß knirschte.

Ein Beweis, dachte er, als er den kleinen bräunlichen Karton bemerkte, auf den er getreten war. Ein richtiges Beweisstück. Cool.

Es stand etwas auf der Schachtel, aber die Buchstaben waren seltsam. Wie in Griechenland, dachte er, ehe er den Verschluss auffingerte. Drinnen lag etwas, was aussah, als ob es zu einem Computer gehörte.

Elias spähte aus dem Gebüsch. Nirgendwo war etwas zu hören oder zu sehen.

Das beste Beweisstück, das ich je gefunden habe, dachte er, als er die Schachtel in die Tasche seiner Kapuzenjacke steckte und sich auf den Heimweg machte.

Er sah weder die junge Frau, die im Hafen hockte, noch bemerkte er, dass ihm ein Mann in einem gesprenkelten T-Shirt folgte.

5

Soundcheck. Ove trommelte mit den Fingern auf dem Mischpult herum. Werner testete die Basstrommeln. Es hallte in dem Theaterraum. Wo sich der Sänger aufhielt, derjenige, der im Fernsehen kochte und der mit dem großen runden Bauch aussah wie eine schwangere Eisbärin, wusste man nicht genau. Möglicherweise in dem Käsegeschäft an der Ecke. Mit der Kennernase tief in einem Stilton.

 

Eldkvarn würden zwei Konzerte im hiesigen Theater spielen. Auf ihrer Tournee lenkte die Band ihren vierzig Jahre alten Chevrolet immer selbst über die offenen Landstraßen, einen extra Fahrer brauchten sie nicht.

Kleinstadt reihte sich an Kleinstadt. Alle Kleinstädte haben etwas Gemeinsames. Der Schnee fällt etwas sachter. Der Regen sammelt sich lautlos in den Gräben des Stadtparks. Der Frühling kommt versöhnlicher, und die Menschen grüßen einander höflicher mit leiser Stimme.

Ove stellte die Regler für Werners Drums ein und blickte zu Carla hinüber, die sich in einem der Kunstledersessel fläzte. Sie hatte immer ein neues Riff dabei, ob von den Stones oder Captain Beefheart, spielte keine größere Rolle.

Ove drückte den Memory-Stick in das Mischpult und übergab das Ganze dem Tontechniker Isak, der das Konzert betreuen sollte. Alles war fertig für den Gig. Jetzt galt es nur noch, etwas zu essen, ehe es Zeit wurde, auf die Bühne zu gehen.

»Alice, der Himmel kann warten«, summte er und ging durch den Keller hinauf ins Restaurant, wo Plura saß und über einem Wisby Klosterbier chattete.

Drinnen im Theater war es eng und warm. Fatima Barsawi bestellte zwei Drinks an der Bar und drängte sich zu Malin Skogh durch, die ein paar Meter von der Bühne entfernt stand. Vor einigen Tagen hatte sie Malins Bruder wegen des Mordes im Hafen verhört, jetzt befand sie sich mit ihr auf diesem Konzert.

Es war nicht leicht gewesen, Malin dazu zu überreden. Ihr Bruder saß in Untersuchungshaft, und obwohl die Beweislage nicht allzu gravierend war, so stand er doch unter Mordverdacht. Ein brutaler Mord, der die kleine Norrtälje-Idylle in Aufregung versetzt hatte.

Roberts Freunde waren ebenfalls verhört worden, jedoch ohne großen Erfolg. Trotzdem war alles sehr ernst, wenn auch das Motiv noch ein großes Rätsel aufgab. Fatima nahm an, dass der Verdacht sich nicht halten ließ. Wenn sich jedoch der Verdacht gegen Robert weiter verhärten sollte, dann musste sie darum bitten, von dem Fall abgezogen zu werden.

Fatima blickte sich um und sah, dass auch Sommergäste eingetroffen waren. Es herrschte eine etwas angespannte Stimmung, und es gab mehr skeptische Blicke.

In der kleinen Projektornische, ein, zwei Meter über der Bar, meinte sie die Konturen eines wohlbekannten Gesichts zu erahnen. Einer der Fotografen der Zeitung, einer der besten. Einer von denen, die fast instinktiv über jemanden etwas erzählen konnten, was dieser selbst glaubte verbergen zu können. Er war hier in der Gegend zuhause und schien an deren Nervensystem angekoppelt zu sein. Man konnte damit rechnen, dass dort, wo er sich aufhielt, etwas passieren würde. Fatima schielte zu Malin hin. Malin beugte sich vor und schrie fast in Fatimas Ohr: »Er kann es nicht gewesen sein. Das ist nicht Robert.« Fatima legte ihren Zeigefinger auf Malins Mund und schrie zurück: »Versuch jetzt, dich zu entspannen, Malin. Wir sprechen morgen darüber.« Malin nickte und konzentrierte sich auf die Bässe, die alles übertönten. Der erste Schock der Festnahme hatte sich gelegt und war in Zorn umgeschlagen und in die Entschlossenheit, ihren Bruder frei zu bekommen. Sie hatte sich selbst mit dem Argument überredet, dass es vielleicht etwas für ihre eigene Untersuchung bringen könnte, mit Fatima auszugehen.

Und sie sollte Recht behalten.

Fatima ging zurück an die Bar. Sie sah zu der Projektornische über der Bar hinauf. Der Fotograf war nicht mehr da. Schade. Vielleicht kommt er gerade herunter, dachte Fatima, nahm die beiden Gläser und ging hinauf zum Projektorraum. Auf der steilen gewundenen Treppe schüttete sie sich reichlich Gin Tonic über die Hände, ehe sie oben ankam und den vollen Saal überblicken konnte. Malin war nirgendwo zu sehen. Dafür bemerkte sie einige von Malins alten Mitschülern aus dem Roden-Gymnasium. Einer von ihnen war jetzt Verkäufer. Ein flotter Kerl. Aber verheiratet.

In ihrer Jackentasche summte das Handy. Schlechte Nachrichten. Das Labor in Linköping hatte einen Schnelltest durchgeführt und festgestellt, dass die Blutspuren auf Robert Skoghs Jacke größtenteils mit dem Blut des toten Mathematiklehrers Lars Gustavsson übereinstimmten.

Fatima stand dort, drei Meter über dem Publikum, mit zwei Drinks in den Händen und sehnte sich plötzlich weit weg. Die Band sang von »Hinterhofprinzen und Prinzessinnen«. Genauso hatte ihr Vater sie genannt: meine kleine Hinterhofprinzessin. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. »Es wird alles gut werden, Fati«, hatte er gesagt, und sie in den Arm genommen. Schließlich hatte er sie in den Schlaf gesungen und ihre Tränen getrocknet, wenn sie seinen beruhigenden Worten nicht länger hatte glauben wollen.

Sie seufzte und nahm einen großen Schluck Gin Tonic. Himmel, würde ich jetzt gerne eine rauchen, dachte Fatima, tupfte die verlaufene Wimperntusche unter den Augen weg und suchte unten in der Menge nach jemandem, der wie ein Raucher aussah. Nahe dem Mischpult, neben einem Kerl mit Zopf und Jacke, stand einer. Ein durchtrainierter Mann mit kurzem Haarschnitt, der ein Päckchen Zigaretten in der Hand drehte.

In genau demselben Augenblick, in dem Fatima ihren Aussichtspunkt über der Bar verließ, erblickte auch Malin den Mann mit den Zigaretten in ihrer Nähe. Sie erkannte ihn wieder von dem Foto, das ihr Jimmy Mårtensson gemailt hatte. Offenbar hatte der Mann im Hafen herumgeschnüffelt, als Malin dort gewesen war. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Dann ging alles ganz schnell. Mit dem dröhnenden Rock-Lärm in den Ohren hatte sich Malin vor dem Angriff des Mannes geduckt und war nach hinten gefallen. Der Tritt des Mannes war über sie hinweggegangen und hatte den Tontechniker im Nacken getroffen. Nur wenige konnten sehen, wie der kräftige Tontechniker nach vorne fiel, mit dem Kopf auf dem Mischpult aufschlug und das ganze Pult im Fallen mit sich riss. Plötzlich lag er einfach da und blutete stark. Die Band spielte noch ein paar Takte und hörte dann abrupt auf.

Später würden mehrere Zeugen aussagen, dass es schien, als ob sie plötzlich in ein schwarzes Loch voller Schweigen gefallen seien, als die Musik verstummte. Es vergingen einige Sekunden. Einige würden sagen, dass fast eine halbe Minute verging, während andere meinten, die plötzliche Stille und der Ruf seien fast gleichzeitig gekommen. Im Nachhinein musste Fatima zugeben, dass das eiskalte Auftreten des kurzhaarigen muskulösen Mannes sie beeindruckt hatte. Nachdem sowohl Malin als auch der Tontechniker außer Gefecht gesetzt worden waren, hatte er sich umgedreht und mit lauter Stimme gerufen: »Es brennt«, und sich dann einen Weg durch den Saal nach draußen gebahnt.

Alles war in der kurzen Minute geschehen, die Fatima gebraucht hatte, um die steile gewundene Eisentreppe vom Projektorraum hinunterzukommen. Die Musik war plötzlich verstummt und geblieben war das Stimmengewirr aus der voll besetzten Konzerthalle, das klang wie von einem schlaftrunkenen urzeitlichen Tier.

Fatima kam die erste Welle von Leuten entgegen, die sich ziemlich verwirrt in Richtung Ausgang bewegte. Sie versuchte, sich durch den ständig zunehmenden Strom von Menschen zu drücken, um zu sehen, was passiert war. Ihren Polizeiausweis über den Kopf haltend, schrie sie: »Polizei, lassen Sie mich durch!« Das war jedoch vergeblich. Durch das Gedränge war der Ausgang verstopft worden, und Panik war in dem dunklen Saal ausgebrochen. Jemand hatte den Feueralarm ausgelöst.

Ich muss Malin finden, dachte Fatima noch, ehe sie mit hinaus in den Sommerabend gedrängt wurde und sich draußen vor der Eingangstür an einer Glasscherbe schnitt. Dann zückte sie ihr Handy:

»Kjelle, im Theater ist Panik ausgebrochen, möglicherweise Feuer, alarmiere alle!«

Sie drückte das Gespräch weg und versuchte, Malin auf deren Handy zu erreichen. Nach drei Signalen schaltete sich die Mailbox ein.

Malin Skogh lief die Lilla Brogatan entlang. Als der Mann an der Rögårdsgatan abbog, verlor sie ihn aus den Augen.

6

Malin blieb stehen. Sie hörte schnelle Schritte, die plötzlich aufhörten. Vielleicht war der Mann ebenfalls stehengeblieben, vielleicht wartete er irgendwo im Dunkeln auf sie. Sie wurde unsicher und versuchte zu horchen, aber sie war durch das Laufen außer Atem geraten und keuchte.

Nach einigen Minuten drehte sie um und ging langsam über den Lilla Torget zurück bis zu dem Haus in der Hantverkaregatan, in dem sich ihre Wohnung befand. Der Samstagabend war vorbei, es war halb eins, Frühsommer, am Himmel begann es schon allmählich hell zu werden.

Eine Woche war vergangen, seit ihr Bruder in das Unfassbare verwickelt worden war. Vielleicht gab es aber auch eine ganz einfache Erklärung für die Ereignisse. Malin war immer noch völlig davon überzeugt, dass Robert unschuldig war. Sie hatte begriffen, dass starke Indizien gegen ihn sprachen und entlastende Beweise fehlten. Gleichzeitig hatte sie jedoch das Gefühl, dass eine Erklärung in greifbarer Nähe lag. Sie dachte nicht daran aufzugeben. Sie und Robert hatten immer ein enges Verhältnis zueinander gehabt, sie wollte ihn nicht im Stich lassen, jetzt, da er wirklich Hilfe brauchte.

Sie saß mit einer Tasse Tee am Fenster ihrer Dachgeschosswohnung und beobachtete, wie die dünnen Wolken am Himmel entlangzogen. Unten am alten Eckhaus gingen ein paar Nachtwanderer auf unsicheren Beinen vorbei. Das vibrierende Neonlicht der Namensschleife des Kinos weiter unten an der Stora Brogatan hatte in dem frühen Morgenlicht schon seinen Glanz verloren.

Als Malin schlafen ging, war es zwei Uhr. Sie wachte jedoch nach einer Stunde schon wieder auf und konnte nicht wieder einschlafen. Jetzt erschien ihr wieder das Gesicht des Mannes, der sie fast an den Kopf getreten und stattdessen einen anderen Menschen getroffen hatte. Es war seine Absicht gewesen, sie zu verletzen und nicht den anderen armen Kerl, der zufällig im Weg gestanden hatte. Der Angreifer war ungeheuer schnell gewesen, hatte einen kräftigen Seitenhieb ausgeteilt, mit einer Sicherheit, die man erst nach vielem Üben erlangte.

Malin selbst hatte zusammen mit Fatima Karate betrieben. Sie war eine Anfängerin, aber sie konnte den Unterschied zwischen einem Meister und einem Amateur erkennen. Dieser Mann war ein voll ausgebildeter Experte, vielleicht ein Soldat, im Nahkampf auf Leben und Tod trainiert. Als Malin während dieser Sekunde seinem Blick begegnet war, hatte sie Eiseskälte in seinen Augen gesehen. Das hatte ihr Angst gemacht.

Der Montag begann mit leichtem Regen, der jedoch gegen acht Uhr schon wieder aufhörte. Malin hatte sich entschlossen; sie rief ihre für heute angemeldeten Kunden an und änderte die Termine. Dann ging sie ins Internet und suchte nach Namen und Adressen, googelte verschiedene Begriffe: Lotse, Fahrrinnen, Norrtälje Hafen, Schifffahrtsverwaltung, Silo, Hafenabgaben. Sie erhielt ständig neue Hinweise, sie suchte weiter, füllte mehrere Seiten mit Telefonnummern und Stichworten. Sie telefonierte, fragte, erhielt manchmal Antwort, manchmal nicht. Telefonierte weiter und näherte sich so immer mehr dem Frachtschiff, das es an diesem fatalen Samstag so eilig gehabt hatte zu verschwinden.

Als sie die Lotsenstation von Kapellskär anrief, stellte sie sich als freiberufliche Journalistin vor, die einen Artikel über ausländische Schiffe schreiben wollte, die in der letzten Woche die Häfen an der Küste von Roslagen angelaufen hatten. Sie wurde mit einem der Lotsen verbunden, Alvar Vantanen. Er hatte einiges zu erzählen. Das Gespräch kam schnell auf ein ungewöhnliches Schiff, Melchior, 1800 Tonnen, registriert in Liberia. Vantanen hatte die Melchior in den Hafen von Norrtälje gelotst.

»Dann fuhren sie plötzlich ohne Lotsen weg, und das erfordert eine gute Erklärung, sonst fällt eine saftige Geldstrafe an.«

»Wann sind sie denn weggefahren?«

Vantanen wusste es nicht, sie waren jedoch recht sonderbar. Alle sprachen russisch, nur der Kapitän konnte ein paar Worte Englisch. Aber Vantanen hatte gehört, wie sich zwei von ihnen auf Schwedisch unterhalten hatten, und als er sie ansprach, taten sie so, als ob sie nichts verstünden.

»Sie kamen aus Sankt Petersburg, wohin sie jedoch nach dem überstürzten Aufbruch fahren wollten, wissen wir nicht.«

»Merkwürdig, oder?«

»Ja, etwas seltsam war das schon. Und dann übernahmen sie das Löschen der Ladung selbst, sie hatten eigene Leute, die die Lasten an Land brachten, Zement und Armierungseisen.«

Malin fragte, ob Vantanen an Bord gewesen sei, als das Schiff im Hafen lag.

»Nein, der Kapitän hatte es eilig. Manchmal wird man noch zu etwas eingeladen, hier jedoch hieß es nur: Danke und Auf Wiedersehen.«

 

Malin telefonierte weiter. Sie dachte, sie sollte sich einen Überblick über das Hafengelände verschaffen, und sie fand den Aufseher, der für den größten Silo verantwortlich war. Ob er sie wohl auf den Silo hinauflassen könne, wegen der Aussicht. Sie gab sich immer noch als Journalistin aus, die etwas über den Hafen schreiben wollte. Ja, das ginge wohl, ein Architekt wolle gegen zwei auf den Silo hinauf, sie könne ja mitgehen.

Der Architekt war ein rothaariger Mann in den Sechzigern. Er hatte eigene Schlüssel für die alten Getreidelager im Hafen, da sein Büro mit den Entwürfen für die geplanten Umbauten in der Gegend zu tun hatte. Jetzt wollte er in dem höchsten Silo ein paar Fotos machen.

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl hinauf und stiegen im sechsten Stock aus. Der Architekt erklärte Malin, wie er sich die Wohnungen auf den erstaunlich geräumigen Flächen vorstellte. Die Wände, das Dach und die Stützflächen waren aus grauem Beton, dazwischen verliefen starke Rohre, durch die das Getreide geschüttet worden war. Malin sah sich um und der Architekt begann zu fotografieren. Er würde wohl noch eine Weile bleiben.

»Ich gehe ein Stockwerk höher«, sagte Malin.

»Sei vorsichtig«, sagte der Architekt.

Malin wählte die enge Spiraltreppe, die sich neben dem Fahrstuhl nach oben ringelte. Sie stieg hinauf, blieb ab und an stehen, ging weiter und war bald oben an der Dachluke. Sie schob sie auf und kletterte auf das flache Dach hinaus. Unter ihr lagen die Stadt Norrtälje, der Fluss, die Bucht. Sie konnte in die Hinterhöfe sehen und in die Gassen. Die Menschen waren winzig, die Autos klein wie Spielzeuge.

Sie griff an das Geländer. Es war fest und sie lehnte sich darüber. Sechzig Meter unter ihr lag der Kai, wo Lars Gustavsson umgebracht worden war. Was immer er mitbekommen haben mag, es musste sich in unmittelbarer Umgebung des Tatorts befunden haben.

Da hörte sie ein Geräusch von der Dachluke her und dachte, dass es der Architekt sei, der heraufkam. Der Ärmel, der zuerst durch die Lukenöffnung sichtbar wurde, war jedoch nicht der Ärmel des Architekten. Der Kopf, der folgte, gehörte zu dem jungen Mann mit den kurzen Haaren und der kräftigen Statur. Er war schnell oben auf dem Dach und machte ein paar Schritte auf Malin zu. Sie lief am Rand entlang, umfasste mit beiden Händen das Eisengitter und schwang sich hinüber.

Ein junger Mann und eine ebenso junge Frau spazierten unten am Kai entlang, direkt unterhalb des Silos. Keiner von den beiden sah in diesem Augenblick nach oben. Ein Lastwagen hielt, der Fahrer stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. Auch er blickte nicht zum Silo hinauf.

Wenn sie nach oben geblickt hätten, hätten sie dort eine hastige Bewegung bemerkt. Aber da sie nichts Ungewöhnliches hörten, blickten sie stattdessen hinaus über den Hafen.

Das Lüftungsrohr war etwas rostig; es war mit Eisenklammern an der Betonwand befestigt. Auf der Außenseite des Rohrs befand sich eine Reihe Steigeisen, die ein Stück herausragten. Malin schwang sich über die Brüstung. Sie hielt sich fest, schwankte hin und her, drehte sich, ließ los und konnte unten die Stadt sehen, das Wasser, den Kai. Für einen kurzen Augenblick befand sie sich in freiem Fall.

Sie streckte den rechten Arm aus, schob die Schulter so weit wie möglich vor, spreizte die Finger, schlug gegen eine der Eisenstangen der Treppe, riss sich den Arm auf. Aber sie konnte sich an der nächsten Eisenstange festhalten, ihr Körper drückte sich gegen das Rohr, sie konnte sich jetzt auch mit der anderen Hand festhalten.

Als sie auf das zehn Meter weiter unten hervorstehende kleine Dach hinunterkletterte, warf sie einen Blick nach oben und sah den Kurzhaarigen. Er beugte sich vor, folgte ihr jedoch nicht.

Der Architekt befand sich noch im sechsten Stock, als Malin dorthin zurückkehrte. Er sagte, dass der Fahrstuhl gerade vorbeigefahren sei und er geglaubt hatte, sie sei es.

»Nein, das war jemand anders«, antwortete sie.

»Im Augenblick scheinen sich ja viele für dieses Gebäude zu interessieren«, meinte der Architekt. Sie holten den Fahrstuhl herauf, warteten schweigend und fuhren zusammen hinunter. Als Malin hinaus auf die Straße trat, rief sie Fatima an.