Durch die Erde ein Riß

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Sie waren sechzehn zukünftige Werwölfe und hockten an den Wänden eines Waggons, der nach Süden rollte. Das Gegengleis war mit Zügen voller Kriegsmaterial und Flüchtlingen verstopft; sie standen ohne Lokomotiven. Es war ein heller Frühlingstag mit einem unendlichen Himmel und klarer ruhiger Luft. Meist blickten die sechzehn nach Osten, denn dorthin mußten und wollten sie, von dort drängte die Front auf sie zu. Am Horizont vermuteten sie Wolken, merkten, daß es ein Gebirge war, und einer mutmaßte, das wären die Kleinen Karpaten. Da sprach keiner mehr.

Malacky, der Zug hielt, auf einmal war Stille um sie, sie lauschten nach Osten und in den Himmel hinauf; die Stille blieb, die Gefahr schien weit. Der Gefreite, der die Marschpapiere trug, war selbst nicht überzeugt, daß er durch sie Befehlsgewalt besaß. Jemand fand eine Verpflegungsstelle, wo man am Packen war und Knäckebrot und Leberwurstbüchsen wegschenkte. Ihr Marschbefehl wies sie an, bis Zohor hinunterzufahren und im Winkel nach Jablonove hinauf, aber die slowakischen und deutschen Eisenbahner schüttelten die Köpfe: Dorthin fuhren keine Züge mehr. L. sagte: Wir marschieren los, weit kann’s nicht sein. Da unkte jemand, dort, wohin sie sollten, wäre bestimmt schon der Iwan, dann klügelte einer, unter solchen Umständen könne man an Ausbildung nicht denken, aber sie sollten ja auf dem Truppenübungsplatz Türkenberg ausgebildet werden, und der zuerst einwarf, sie kehrten am besten nach Plauen zurück, hieß Knauthahn.

Debatte: Wir haben den Befehl, aber es hat doch keinen Zweck, warum habt ihr euch freiwillig gemeldet, verdammt unklare Lage, da könnt ihr mal zeigen, was in euch steckt, es geht doch nicht nach dir, nach dir schon lange nicht! L. fühlte Wut in sich aufsteigen, und den Ausschlag gab der Gedanke, Feigheit könnte Knauthahn und einige andere zu ihren Ansichten treiben. Große Schnauze in Plauen, aufgesprungen und die Hacken geknallt und die Brust gereckt, jawohl, ich will im Rücken des Feindes kämpfen, jawohl, will sprengen, schießen, würgen! Zwei waren in Prag, zwei in Brünn aus dunklen Gründen verlorengegangen, nun saßen die übrigen auf Baumstämmen am Bahnhof von Malacky, und Knauthahn argumentierte, sie hätten einen Marschbefehl für alle zusammen und müßten folglich zusammenbleiben, dann fügte er noch etwas von Mehrheit und Abstimmung hinzu. Und L., der nicht gelernt hatte, etwas zur rechten Zeit zu beenden, abzubiegen, der dies auch in den nächsten dreißig Jahren zu seinem Schaden nicht lernen wollte und konnte, erklärte, er würde notfalls allein zum Türkenberg gehen, und dann sprach er es doch aus: »Du bist feig.«

Natürlich hatte Knauthahn mit diesem Argument gerechnet. Er errötete, weil er nach dem Brauch seines Alters und seiner Erziehung hätte zuschlagen müssen, aber das war hier unmöglich, und so maulte er, sie hätten ja nicht einmal Waffen, aber L. konterte lässig, die würden sie schon irgendwo finden. Er hätte jetzt gern gewußt, ob er wirklich allein auf diese Berge zu marschieren mußte, er sehnte sich fast danach, wenn er auch wahrscheinlich vor Wut geheult hätte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Drei Jahre später erfand er bei einer seiner häufigen Darstellungen die Variante, er hätte gerufen: »Ich gehe zum Türkenberg, und wenn aus jeder Pfütze ein Russe züngelt«, aber so blumig drückte er sich nicht aus, er war bleich und schwitzte vor Aufregung und Zorn, doch das legte sich, als einer vorschlug, jeder solle sagen, wohin er wolle, vor oder zurück, Türkenberg oder Plauen. Immerhin schlugen sich vier auf L.s Seite; Fritz Gietzel, von dem hatte er es nicht anders erwartet, Steinbach, zwei andere, auf deren Namen sich der Chronist nicht zu besinnen vermag, und diese beiden verdienten vor allem, daß er ihre Namen wüßte. Einer stammte aus Heidenau bei Dresden, der andere aus dem Thüringer Wald, einer war blond und großnäsig und immer mit der Klappe vorneweg, der andere dunkel und bedächtig, er merkte erst nach einer Weile, wenn man ihn aufzog, nie nahm er etwas übel. Elf fuhren zurück in Richtung Plauen, neun kamen dort an, zwei fielen im Fichtelgebirge im Kampf gegen die Amerikaner. Knauthahn war nach dem Krieg Gewerkschaftssekretär, und auf Leipzigs Straßen trafen sich L. und Knauthahn 1950 und hieben sich auf die Schultern: Mensch, wie bist du durchgekommen, Junge? Und 1973 trafen sie sich noch einmal in Berlin und erkannten sich zu ihrer gewaltigen Verwunderung und erzählten sich, daß ihre Kinder nun schon verheiratet wären, und Knauthahn war durch einen Herzinfarkt aus der Bahn geworfen. Aber in Malacky, am 2. April 1945, da sagten sie Feigling und Idiot zueinander und hatten beide recht, wobei Knauthahn von kluger Feigheit war und L. von heldischer Idiotie, und dann marschierten fünf Tapferkeitssüchtige eine schlechte Straße entlang nach Osten, sahen Frühlingsgras an den Seiten, Kühe und pflügende Bauern, glaubten kriegsverdächtige Laute zu hören: Grollen über den Bergen wie Gewitter, aber dort standen keine Wolken, und so begriffen sie: Zum erstenmal in ihrem Leben hörten sie die Front. Da waren Dutzende Millionen Menschen schon tot, da waren Fronten über Hunderte Millionen hinweggerollt, da lebten immer noch fünf Kerle in Europa, die die Front nie gehört hatten und meinten, sie müßten dorthin.

Hatten diese fünf nichts gelernt in Geschichte und Geographie, besaßen sie nicht einen Funken gesunden Menschenverstand? Dachten sie, eine Armee, die von der Wolga bis hierher vorgedrungen war, könnte an der March aufgehalten werden? Meinten sie, Armeen, die in der Normandie aus dem Meer gestiegen waren, wären zu stoppen an Werra und Fulda? Diese fünf klammerten sich an dumpfe Hoffnungen, weil sie sich nicht vorstellen konnten, was sein würde, wenn Hitlerdeutschland den Krieg verlor. Sie fürchteten noch nicht einmal Gefangenschaft, Elend, Hunger, Austreibung, für sie war die sieglose Zukunft absolute Schwärze, sie würden nicht sein, nichts würde sein. Deshalb mußte ein Wunder durch Wunderwaffen geschehen; sie siegten, weil sie den Führer hatten. Manchmal hatte L. schaudernd gedacht: Dann alles noch mal von vorn, noch mal Frankreichfeldzug und Marsch zum Ural. Bis die neuen Waffen heulten, mußte der Feind hingehalten werden, in den Kleinen Karpaten und überall, und als Schwein galt ihm, wer sich jetzt drückte.

Die Berge stiegen sanft an mit Buchen und Eichen, die Straße führte in einem Bachtal aufwärts, in eine Senke waren Kasernenblöcke eingeschachtelt, vor ihnen stand ein Hauptmann und sagte: »Da könnt ihr uns ja gleich helfen, den Türkenberg zu verteidigen.« Nichts von Lehrgang; Wirrwarr überall, in wüsten Kammern rüsteten sich die fünf aus mit Tarnjacken und ungarischen Gewehren, denen sie gründlich mißtrauten. Sie fanden Berge von Konserven mit jungen Erbsen und fast nichts Eßbares sonst, und jemand teilte sie ein, während der Nacht den Durchgang in einer Minensperre zu bewachen und die hindurchzuschleusen, die noch von Osten kämen. Sie standen zwischen Landsern, die die Fußlappen abwickelten, unter ihnen brannte rohes Fleisch, sie hörten von Rückzug über zwanzig, dreißig Kilometer jeden Tag, und einem wurden die Schultern geklopft, weil er einen Panzer abgeschossen hatte; er war grau im Gesicht und zu Tode erschöpft.

Kalt war die Nacht an der Minensperre und stockdunkel, niemand kam. Am nächsten Morgen erfuhren sie, die Nahkampfschule würde nach Schönsee in der Oberpfalz verlegt, aber vorher müsse hinhaltender Widerstand geleistet werden bis zu einer Auffangstellung an der March. Jeder bekam einen Marschbefehl nach Schönsee und ein Fahrrad. L. schnallte eine Panzerfaust ans Rad und einen Beutel mit Erbsenbüchsen auf den Gepäckträger, so kurvte er nach Jablonove hinunter.

An diesem Tag fiel kein Schuß. Am Abend faßte ein Feldwebel ein Dutzend Soldaten zusammen, die auf einen Hügel vorgeschoben werden sollten; der Feldwebel fragte, wer das Maschinengewehr nehmen wollte. Nun war L. während der Ausbildungszeit ein versierter MG-Schütze gewesen, ein Fuchs in der Bedienung dieser Waffe, hatte sie monatelang durch Zeithains Sand geschleppt und die Pappkameraden das Fürchten gelehrt. Was natürlicher, daß er sich meldete – aber da packte ihn böse Ahnung, ziehendes Gefühl in der Brust, wie er es noch nie gespürt hatte, melde dich nicht, nicht melden, jetzt bloß nicht melden. Druck im Schädel und im Kehlkopf, der Feldwebel fragte noch einmal. L. dachte: Gietzel und Steinbach und die beiden anderen warten jetzt, daß du dich meldest, wer denn sonst als das MG-As, Sekunden verstrichen, da sagte der Blonde aus Heidenau: »Da nehme ich’s eben«, und der Dunkle aus dem Thüringer Wald meldete sich als Schütze zwei.

Im Morgengrauen wurden Steinbach und L. von einem Leutnant auf einen Hügel geschickt, dort wäre ein Panzerdeckungsloch. Die beiden streckten die Gewehre vor, ließen die Blicke schweifen, setzten Fuß vor Fuß, tappten in die Leere, fürchteten Schüsse jeden Augenblick, erreichten die Kuppe und ließen sich in das Loch fallen. Ein vortreffliches Loch in vortrefflichem festem Boden, die ausgeworfene Erde war sorgsam verteilt, hier hatten Überlebenskünstler gearbeitet. Kein Mensch, kein Laut, kein Krieg. Wieder dieser hohe, helle Himmel wie zwei Tage vorher, und L. überlegte, ob er wohl am vergangenen Abend feig gewesen war, nicht mehr der Held von Malacky, nicht mehr wie Luther, der nach Worms hatte gehen wollen, müssen, auch wenn die Stadt voller Teufel gewesen wäre. Das hatten sie gelernt: Zuerst den feindlichen MG-Schützen niederkämpfen, den gefährlichsten Mann der Gruppe. Das hatten sie nicht gelernt: Der Gegner rottete zuerst den eigenen MG-Schützen aus. Aber es war logisch.

Einen halben Tag lang sahen sie zu, wie auf den jenseitigen Hügeln der Feind aufmarschierte. Auf der eigenen Seite waren die schwersten Waffen das leichte Maschinengewehr und die Panzerfaust, drüben waren es Granatwerfer und Panzerabwehrkanone. Keine Artillerie gab es in diesem Gefecht, keine Panzer, keine Flugzeuge, die stürmten gegen Bratislava und in der Mährischen Senke, wurden hinter der Oder zum Endkampf um Berlin gehortet, hier war Nebenkriegsschauplatz, Scharmützel, hier marschierte eine Partei auf wie im Siebenjährigen Krieg, protzte die Granatwerfer ab und zog von Hand die Geschütze in Stellung, das geschah mit vielem Hin und Her vor den Augen von Steinbach und L. Schützenreihen stiegen vom jenseitigen Hang herab. Das Kräfteverhältnis war fünfhundert zu zwei, trotzdem schossen Steinbach und L., bis die Angreifer im Grund verschwanden, sie sahen sie näher am Fuß ihres Hanges, schossen, trafen nicht, stritten, wer zuerst zurückspringen sollte, spring du, ich schieße, schließlich zickzackten sie gleichzeitig über den Hügelkamm, hörten Projektile pfeifen, hasteten auf das Dorf zu und sahen den Leutnant, der sie hinaufgeschickt hatte, verzweifelt winken und hörten ihn schreien, wo sie denn blieben. Über dem Dorf wolkten Rauchbäume der Granatwerfereinschläge, die Dorfstraße entlang flohen Landser – MG-Feuer, Gewehrfeuer, ein Oberfeldwebel schoß Panzerfäuste im Bogen ab über Gehöftdächer hinweg. Steinbach und L. hätten sich fünfzig Meter gegen den Strom stemmen müssen, um zu ihren Rädern zu kommen, aber das wagten sie nicht, wurden aus dem Dorf geschwemmt, sahen die Wiesen gesprenkelt mit Fliehenden, waren nicht mehr Werwölfe, die in den Rücken des Feindes drängten, sondern stoben zurück und besannen sich erleichtert auf den Marschbefehl nach Schönsee in der Oberpfalz, keuchten einander zu, daß alles gutgehen würde, wenn nur keine Panzer kämen. Vier Männer schleppten ihren verwundeten Kameraden auf einer Zeltplane, der schrie, sie sollten ihn erschießen; an ihnen rannten sie vorbei. L. sah Gietzel auf einem Fahrrad, rief ihn an, und das erste, was Gietzel hervorstieß, war, daß die MG-Schützen noch vor dem Angriff durch Scharfschützen getötet worden waren, Kopfschüsse. Da wird L. nicht daran gedacht haben, daß die beiden noch am Leben sein könnten, wenn er am Bahnhof von Malacky kein sturer Held gewesen wäre, dieser Gedanke kam später, wenn auch nicht viel später, und lange schlug er sich mit ihm herum, und auch der Chronist ist nicht fertig damit, wenn er auch nicht mehr oft daran denkt, meist nur am vierten April, oder wenn er mit der Eisenbahn durch Malacky fährt. Das muß man, will man zum Balkan hinunter.

 

Am Bahndamm stand der Hauptmann, der sie am Türkenberg empfangen hatte. Er reckte die Pistole und schrie, hier sei die neue Widerstandslinie; jeden würde er niederknallen, der nicht stehenbliebe. Rechts und links von ihm klirrte die Flucht über den Schotter; er schoß nicht. Hier waren die Wiesen sumpfig, einen Kilometer vor sich sah L. den Wald. Die meisten fielen in Schritt, Gietzel schob sein Rad, er und Steinbach und L. schöpften Hoffnung daraus, daß sie zu dritt waren; sie glaubten, sie könnten sich aufeinander verlassen nach diesem Tag. Die Welle der Fliehenden versickerte im Wald, der Bahndamm war nur noch ein blasser Strich. Die drei blieben hinter der ersten Gebüschinsel liegen. Vor ihnen auf der Wiese warf ein Offizier sein Fahrrad weg und rannte in Sprüngen weiter. Das Feuer nahm zu, am Bahndamm war schon ein Maschinengewehr in Stellung gebracht worden. Plötzlich, ohne Erklärung, sprang Steinbach auf, rannte in schulmäßigem Zickzack zurück, verschwand im Wald und ward nicht mehr gesehen. Ein böses Wort schrie L. ihm nach: Feiges Schwein! Aber schon überlegte er, wie er selbst nach hinten kommen könnte, ganz weit nach hinten, doch er besaß kein Rad, und draußen auf der Wiese lag eins. Steinbach – den sah L. wieder drei Jahre nach dem Krieg, da spielte Steinbach Fußball bei Dresden-Friedrichstadt, dem Torso des ruhmreichen Dresdner Sportclubs, und mühte sich, nicht abzufallen neben Schön, Pohl, Lehmann und Kreische senior im Sportpark von Leipzig-Leutsch gegen Chemie, und Steinbach war dabei, als Horch Zwickau die Dresdner zusammentrat in diesem letzten Spiel von Dresden-Friedrichstadt, diesem Skandalspiel, das den Anstoß gab, daß Schön viel später Bundestrainer wurde und nicht Trainer der DDR-Nationalmannschaft. Aber daran war natürlich kein Gedanke auf der sumpfigen Wiese von Malacky; auf das Fahrrad rannte L. zu, während Projektile zirpten, auf das Fahrrad, das ihn über die March bringen sollte und durch Österreich und Böhmen nach Bayern, fort von der Front, schon gar nicht in des Feindes Rücken. Er riß das Rad hoch und schwang sich in den Sattel, hörte das Pfeifen um seinen Kopf, trat, sprang ab, schob, rannte, hörte immerfort das Pfeifen, warf sich nicht hin, hätte hundertmal getroffen werden können, wurde nicht getroffen, erreichte die Gebüschinsel, und nun waren sie zu zweit, Gietzel und L., besaßen jeder einen Marschbefehl nach Bayern und jeder ein Fahrrad. Durch stillen Wald fuhren sie, die Toten von Jablonove lagen hinter ihnen, Erregung klang ab, und da fiel ihnen ein: Man mußte ja nicht direkt Schönsee ansteuern, man konnte einen Umweg machen, und einer sagte: »Paar Tage zu Hause, Mensch«, und der andere überlegte schon, wie man radeln mußte, um nach Dux zu kommen oder nach Mittweida. Bei der Rast zogen sie ihre Marschbefehle aus der Tasche, Zettel mit einem Stempel und den Worten, daß der Gefreite Gietzel, der Gefreite Loest auf dem Weg nach Schönsee wären, nichts weiter, vor allem nicht, woher sie kämen. »Mensch«, sagte einer, »wir verschieben unseren Herkunftsort nach Norden, erst Mähren, Schlesien, dann die Lausitz.«

Nach Norden traten sie, erreichten gegen Abend Malacky und klopften an Türen, hinter denen niemand antwortete, gingen in ein leeres Haus, Ställe standen offen, ein Schwein grunzte im Hof, Hühner pickten. Sie hätten gern ein Huhn geschlachtet, wußten aber nicht, wie man das machte. So kochten sie Kartoffeln, wuschen sich, aßen. Sie kamen nicht von dem schlechten Gewissen los, in ein fremdes Haus gedrungen zu sein; es wäre ihnen peinlich gewesen, wären die Bewohner zurückgekommen.

Ihre Räder und Gewehre stellten sie neben die Betten, schoben einen Schrank vor die Tür und schliefen auf nackten Matratzen. L. wäre vor Mittag nicht munter geworden, Gietzel rüttelte ihn mitten in der Nacht. Sie horchten hinaus, Panzer dröhnten vorbei, Schritte klapperten, nicht allzu fern tackte ein Maschinengewehr. Da schoben sie hastig ihre Räder auf die Straße und reihten sich ein in die Flucht. Brand warf roten Schein zwischen die Häuser. Pferdewagen, Soldaten, Sturmgeschütze – ohne ein Wort und ohne Befehl hastete aus Malacky hinaus, was laufen, fahren konnte. Zwischen ihnen schoben sie ihre Räder, lauschten auf das Maschinengewehrfeuer in ihrem Rücken, in ihrer Flanke. Im Freien merkten sie, daß die Nacht nicht völlig dunkel war, stiegen auf und fanden aus dem Pulk hinaus, fuhren über eine leere Straße, durch ein Dorf. Am Straßenrand ballte sich eine Truppe, schwarze Schatten dicht beieinander, schweigend, ein Zug, noch ein Zug, eine Kompanie. Als Gietzel und L. vorbei waren, flüsterten sie von Rad zu Rad, ob das wohl Rotarmisten gewesen wären, für möglich hielten sie es. Später bauschte L. diese Szene auf: Er hätte leise russische Worte gehört, Flüche, man habe sie offenbar selbst für Russen gehalten. Aber damals zweifelte er, argwöhnte nur, und dann geschah nichts mehr bis zur Marchbrücke vor Dürnkrut, dort wachte ein freundlicher Posten unter einer Zeltplane, der ihnen bereitwillig den Weg wies. Nach Wien hinunter? Nach Böhmen hinüber? Gute Fahrt wünschte er mit heller Stimme, freute sich, daß er wieder zweien den Weg in die Heimat zeigen konnte.

Unvergleichliche Fahrt. Seit einem Jahr war ihr Tag zerhackt gewesen durch eine Kette von Befehlen, jetzt konnten sie rasten, treten, absteigen, schieben, wie sie wollten. Wegweiser: Iglau, Prag. Eine Burg prunkte auf einem Bergkegel, sie hätten sie besichtigt, wenn es nicht zu strapaziös gewesen wäre, die Räder hinaufzuschieben, und zu leichtsinnig, sie unten stehenzulassen. Sie klopften an Bauernhäuser, baten um Brot und bekamen Wurst, Kuchen, Milch, auch von Tschechen. Auf der Ladefläche eines Lastwagens sparten sie die Mühe, die Steigungen vor Iglau hinaufzuschieben, dort schliefen sie in einem Wehrmachtsheim, und als sie am Morgen auf die Straße traten, regnete es in Strömen. Da zeigten sie in der Bahnhofskommandantur ihre Marschbefehle und erzählten ihre Geschichte: Aus der Gegend von Olmütz kämen sie und müßten schnell zumindest nach Prag. Ihre Fahrräder, Tarnjacken, vielleicht die Forsche ihrer Jugend überrumpelten die Unteroffiziere, Feldwebel. Vielleicht glaubten diese Männer mit den Sturmabzeichen und Eisernen Kreuzen, diese abgebrühten Hasen, die alles kannten und alles wußten, vielleicht glaubten sie diese Story, denn es sind die Neunzehnjährigen überall, die sich als Fallschirmjäger, Ledernacken, Kamikazeflieger, Einmanntorpedofahrer melden; Winkelried und der Gardeschütze Matrosow waren neunzehn, falls deren Geschichten nicht ausgedacht sind von cleveren Frontberichterstattern. Und weil man mit Neunzehnjährigen fast alles machen kann und die Feldwebel und Unteroffiziere das wußten – denn auch sie waren neunzehn gewesen und hatten gegen Engeland fahren wollen und Frankreich niedergeworfen, bis sie in Rußland steinalt geworden waren, und wer von ihnen vierundzwanzig war, gehörte zu einer anderen Generation und wußte, daß in zwei Wochen der Krieg zu Ende war, der argwöhnte, daß es dann haarig zugehen könnte inmitten der Tschechen, der verspürte nicht den Ehrgeiz, jemanden aufs Kreuz zu legen – so ließen sie die beiden Kampfgierigen in den Zug steigen, der überfüllt war wie alle Züge in der eng gewordenen Festung Europa und dessen Passagiere unablässig davon sprachen, was sie mit Tieffliegern erlebt oder über sie gehört hatten.

Prag war voller Leben und Trubel und voller deutscher Soldaten. Wer hatte in einem Wehrmachtsheim dünnes Bier vor sich und einen Teller mit Brot und saurer Gurke und sogar Wurst? Es waren die beiden Gefreiten, die in Prag abhanden gekommen waren, zwei der Freiwilligen von Plauen, der todesmutigen Rangerkandidaten, die beizeiten den Zug verpaßt hatten, nun friedlich frühstückten, sich interessiert anhörten, was in Malacky und Jablonove geschehen war, und die Frechheit besaßen zu sagen: »Schade, daß wir nicht dabei waren!« Ihre Story war nicht ganz klar: Sie bekämen Lebensmittelmarken und Sold von einer Wehrmachtsstelle in Prag, noch sollte entschieden werden, wohin sie geschickt würden, und es wäre für sie hochinteressant, authentisch zu erfahren, daß der Türkenberg im Eimer war, also müßten sie zurück nach Plauen, und die Zeit bis dahin verbrachten sie in Wehrmachtskinos, Wehrmachtsheimen und Gaststätten. »Bleibt mit hier«, rieten sie, »Prag ist prima.« Aber Gietzel dachte: Ein knapper Tag bis Dux. Und L. dachte: Ein überlanger Tag bis Mittweida. Immerhin waren sie so klug, ihre Marschbefehle nach Schönsee vorzuzeigen und zu behaupten, sie führen stracks dorthin. Der Abschied war frostig.

Am Abend hockten sie in einem klapprigen Zug, der bis Kralup fuhr. Auf Zugbänken schliefen sie und stiegen auf die Räder, sobald es hell wurde. Es begann der Tag der größten sportlichen Leistung, die L. je vollbrachte. Eine wunderbar warme Sonne stieg auf über der Landstraße nach Komotau, über Äckern und Saaten und den Wäldern der Hopfenstangen. Am hohen Vormittag bog Gietzel ab, Dux entgegen, sie schüttelten sich die Hände und versprachen, sich in einer Woche zwölf Uhr mittags im Hauptbahnhof in Eger wiederzutreffen. Sie wünschten sich gute Tage.

Mittags stieg er in Komotau vom Rad und schob es auf den Kamm des Erzgebirges hinauf. Einmal marschierten ihm Männer in Parteiuniform entgegen, Spaten und Hacken geschultert, sie hatten Panzersperren gebaut. Da fühlte er sich beklommen: Man rechnete also damit, der Feind könnte bis ins Erzgebirge vordringen? War es dann nicht gleichgültig, ob er von Ost oder West kam? Kein schlechtes Gewissen packte ihn, daß er sich Urlaub nahm, er hatte ein Argument: Jedem Soldaten, der an die Front geschickt wurde, stand Abstellungsurlaub von vierzehn Tagen zu. Niemand konnte ihm jetzt diesen Urlaub bewilligen, folglich nahm er ihn sich selbst.

Vier Stunden lang schob er sein Rad, es wurde Nachmittag darüber. Keilberg und Fichtelberg sah er zur Linken und blickte zurück in die Weite des Egertals. Wind strich hier oben, bald mußte er die sächsische Grenze erreichen. Zwei Polizisten lungerten an der Straße, fragten, woher er komme, wohin er wolle, grämliche ältere Männer, offenbar gesonnen, ihr Scherflein zum Endsieg beizutragen, indem sie einen Deserteur schnappten. Eine neue Geschichte erfand er: Im Egertal wäre der Verkehr zusammengebrochen, denn bei Falkenau hätten die Amerikaner am Mittag eine Brücke zerbombt. Er schlage deshalb einen Bogen über das Gebirge, um von Chemnitz aus mit dem Zug weiterzufahren. Da forderten die Polizisten ihn in ihr Dienstlokal, und als sie sich in der Polizeiwache von Sebastiansberg gegenübersaßen, probierte einer von ihnen einen läppischen Trick: »Sie sind am dritten März fünfundzwanzig geboren?« – L. fühlte sich obenauf: »Am vierundzwanzigsten Februar sechsundzwanzig.« Er beantwortete Fragen nach seiner bisherigen Einheit, dem Tag seiner Einberufung. Aber da hakten sich die Polizisten fest: Er stamme aus Mittweida, seine Eltern lebten dort? Und dorthin wolle er? Sein Wunsch sei logisch, verständlich. Aber er ging ihnen nicht auf den Leim, sondern beharrte auf seiner Geschichte: Nach Chemnitz wolle er, es führe kein anderer Weg nach Bayern. Aus dem Isergebirge komme er, er sei Werwolf und wolle in seinen neuen Einsatzraum. Eine halbe Stunde lang hin und her, Mittweida oder nicht, dann gaben die Polizisten klein bei: »Wir können Ihnen nichts beweisen.« Er bekam sein Soldbuch zurück und stieg aufs Rad, kreuzte die sächsische Grenze, kaute Speck und trank Wasser aus einem Bach. Er jagte nach Marienberg hinunter, beneidete Gietzel: Der saß längst zu Hause; fürchtete, die Polizisten von Sebastiansberg könnten ihre Kollegen in Mittweida benachrichtigen: Paßt auf, ob ein gewisser Loest kommt! Er trat in die Pedale, das Kinn auf den Lenker herunter, Heimfahrt, Friedensfahrt. Leer lagen die Straßen an diesem Abend, kein Auto traf er und keine Streife. Auf der Höhe von Dreiwerden hielt er an. Ohne Verdunklung in dieser Kriegsnacht hätte er jetzt die Lichter seiner Heimatstadt gesehen.

 

In dieser Nacht flogen britische Bomber über Mitteldeutschland und weckten Sirenen auch die Bewohner Mittweidas. Manche gingen in die Keller, manche traten vor die Häuser, horchten, schauten, andere blieben in den Betten. Alfred Loest stellte sich vors Haus, begrüßte Schatten, die aus den Nebenhäusern traten. Schein am nordwestlichen Horizont: Espenhain, Böhlen, Leuna, dort fielen Bomben wie in vielen Nächten. Da schob jemand ein Fahrrad neben ihn und sagte: »Guten Abend, Herr Loest.« Keine Verwunderung, kein Erkennen, Alfred L. erwiderte den Gruß, hörte das Entwarnungszeichen und wandte sich seinem Haus zu. Er konnte die Tür nicht schließen, das Vorderrad eines Fahrrades klemmte dazwischen.

Zwei Stunden lang saßen sie am Tisch, Vater, Mutter, Schwester und der heimgekehrte Sohn. Umarmungen, Muttertränen. Hastiger Bericht, hastiges Essen, dann versteckte der Vater Fahrrad, Karabiner und Handgranaten. Erst mal ausschlafen, morgen in Ruhe beraten – ihn hatte niemand gesehen? An die Polizisten von Sebastiansberg dachte der Gefreite L., wog die Gefahr und achtete sie gering gegenüber dem Glück, zu Hause zu sein. Er beruhigte sich: Die Polizisten hatten seinen Namen und die Adresse seiner Eltern nicht notiert und würden den Diensteifer nicht auf die Spitze treiben. Dies hoffte er so stark, daß es ihn vor tödlicher Gefahr blind machte; in diesen Tagen wurden Soldaten wegen geringerer Vergehen gehenkt.

Am Morgen erwachte er: seine Dachkammer, seine Bücher, das Schlagen der Kirchenuhr, kein U. v. D. pfiff. Danach hatte er sich ein Jahr lang wie nach nichts anderem gesehnt. Später stand er in der Eisenwarenhandlung seines Vaters; die Regale waren in sechs Kriegsjahren kahl geworden. Er bummelte durch die Stadt; sie hatte sich so verändert, daß sie nicht im entferntesten hielt, was sie in der Erinnerung versprochen hatte, als er durch Zeithains Sand gerobbt war. Zu Hause aßen Vater, Mutter und Schwester dünner gewordene Suppe von gewohnten Tellern. In die Schule waren Flüchtlinge gepfercht worden, das Jungvolk hatte seinen Dienst infolge Fehlens von Führern, Räumen und Schuhen eingestellt. Einmal ging er ins Kino, da heulten nach zehn Minuten die Sirenen. Der Wehrmachtsbericht: Amerikaner und Briten stießen in Thüringen und Norddeutschland vor. Hannover fiel. Einmal traf er ein Mädchen, mit dem er die Tanzstunde besucht hatte; das Mädchen fragte ihn, ob der Krieg noch gewonnen würde, und er antwortete verzweifelt, er müsse ganz einfach gewonnen werden. Sie waren zusammen Schlittschuh gelaufen und hatten sich auf vielen Wegen geküßt. Keine Erinnerung daran. Ihre Hände hingen herab. Das Mädchen fragte ihn, ob er bliebe, aber er sagte, er müsse wieder fort. Es wäre ihm gleichgültig gewesen, hätte es in dieser Minute sein müssen.

Am fünften Morgen wurde er von seinem Vater geweckt: Die Amerikaner standen vor Leipzig. Hastiger Familienrat: bleiben, untertauchen? Aber er war in der Stadt gesehen worden. Gefahr durch Amerikaner, durch Feldgendarmerie, welche war größer? Rat des Vaters: Am sichersten bist du in deiner Einheit. Von der Art dieser Einheit hatte E. L. wohlweislich nichts erzählt. Wieder setzte er sich aufs Rad und fuhr übers Gebirge, diesmal in die andere Richtung. In der Nähe von Chemnitz sah er zu, wie Tiefflieger die Straße leer fegten. Er lag im Graben und dachte: Hannover gefallen, die Amerikaner vor Leipzig, noch werden die neuen Waffen nicht eingesetzt – sind sie immer noch nicht fertig? Jetzt noch einmal die Entscheidung von Malacky wäre er wieder zum Türkenberg gegangen? Er schlief in einer Scheune, stieß am Morgen in den böhmischen Kessel hinab und traf Gietzel in der elterlichen Küche inmitten spielender kleiner Geschwister an. Auch hier Debatte, ein wichtiges Moment darin: Sie hatten sich beide freiwillig gemeldet zum Werwolf, waren zusammen zum Türkenberg gezogen, jetzt riefen sie sich das gegenseitig ins Bewußtsein. Sie hatten beileibe nicht aus dem Krieg aussteigen wollen, hatten sich nur Urlaub gegönnt, der ihnen zustand. Vor sich selbst konnte jeder allenfalls vergessen, wie er in Plauen gelobt hatte, Einzelkämpfer zu werden, Durchhalter bis fünf Minuten nach zwölf. Hier stand nun einer, der dabeigewesen war, keiner wollte als erster sagen: Müssen wir so schnell nach Schönsee? Denk an die beiden in Prag!

Wieder Abschied. Am Bahnhof warteten Gietzel und L. auf einen Zug nach Westen. Dünnen Kaffee schenkten BdM-Mädchen aus, dann lief der Zug ein, ein Katastrophenzug, vollgepfropft mit Menschen und Koffern und Angst, in ihn hinein zwängten die beiden Durchhalter sich und ihre Räder. Aus allen Fenstern suchten Augen den Himmel ab, langsam rollte der Zug durch Komotau, Klösterle, Karlsbad. Dahinter bremste der Zug ruckend und kreischend, Dampf quoll aus der Lokomotive, über die Trittbretter ergoß sich der Strom der Flüchtenden, die hin- und hergerissen wurden zwischen zwei Ängsten: von Tieffliegern getötet zu werden oder ihren Platz bei der Rückkehr besetzt zu finden. Ein Flugzeug strich über den Zug hinweg, eine der letzten Maschinen von Görings Luftwaffe, eine erbärmliche Krähe, und die Menschen in den Feldern ringsum fluchten auf den Idioten da oben, der ausgerechnet einen Zug in diesen Tagen der Tieffliegerpanik ansteuern mußte. Sie rannten zum Zug zurück, aber der fuhr nicht weiter, denn der Lokomotivführer hatte sich beim Sprung von der Maschine den Fuß verstaucht, vielleicht gebrochen. Nach einem Arzt wurde geschrien, und als L. und Gietzel merkten, daß es hier nicht vorwärts ging, hoben sie ihre Räder herunter und traten weiter nach Westen.

Die nächste Nacht verbrachten sie in einem Schuppen auf einem Bahngelände. Soldaten saßen in der Schuppenmitte um ein sparsam und kunstvoll unterhaltenes Feuer; die Gespräche der Landser waren nüchtern und weise. Vom sowjetischen Granatwerferorkan an der Danziger Bucht war die Rede, von Märschen und Schlachten und Toten und Niederlagen, und L. und Gietzel hätten sich lieber die Zunge abgebissen als verraten, daß sie sich mutwillig als Werwölfe gemeldet hatten. Diese Männer wunderten sich nur über eines noch: daß sie lebten. Die Flucht durch Frankreich zurück hatte einer mitgemacht, ein anderer verfluchte die Balkanberge, durch die er von Griechenland heraufgehastet war, Berge von Athen bis Graz. Und wieder sagte der, der zu Anfang gesprochen hatte: Nichts konnte furchtbarer gewesen sein als das Granatwerferfeuer an der Danziger Bucht. Da beneidete L. diese Männer um ihre Erfahrungen, er hätte Jahre geopfert, wenn er sie hätte nacherleben können. Zehn Jahre später erinnerte er sich noch an die Stimmung dieser Nacht: Er setzte die Romangestalt des Harry Hahn ans Feuer alter Waffen-SS-Männer, als sie in die slowakischen Berge zogen, und das Dorf in der Nähe nannte er Jablonove wie das Dorf, durch das er um sein Leben gerannt war.