Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

In seinem Wesen und Auftreten hat der Heilige diesem Zuge des Volkscharakters vollkommen entsprochen – ja er hat ihn vielleicht erst wieder aufleben lassen und aus der Erstarrung von Jahrhunderten erweckt. Die Wandlungen und Zustände seiner Seele waren ein öffentliches Ereignis, und von dem Tage, an dem er dem scheltenden Vater vor dem Angesicht des Bischofs und des ganzen Volkes seine Kleider zurückgab, um sich ganz dem himmlischen Vater zu überliefern, bis zu jenem, an dem er sich, sterbend, nackt auf die nackte Erde legen ließ, ut hora illa extrema, in qua poterat adhuc hostis irasci, nudus luctaretur cum nudo10 war jede seiner Handlungen eine Geste von nie erlebter und weittragender Gewalt, die die Menschen unmittelbar zu stürmischen Tränen und begeisterter Demut bewegte. Die wenigen Worte, die von ihm genau so überliefert sind, wie er sie sprach oder schrieb, tragen noch seine drängende und bei vieler Einfalt leidenschaftlich bewegte Geste in sich: Dico tibi sicut possum de facto anime tue beginnt der Brief an den unbekannten Minister, und mit et und et steigern sich, beschwörend und bestätigend, die Ermahnungen. Der Brief Ita dico tibi, fili mi an Bruder Leo ist in seiner völlig ungeschickten und unklaren Ausdrucksweise eines der beredtesten Dokumente aller Zeiten – aus dem 12. und 13. Jahrhundert gibt es gewiß nicht seinesgleichen. Was soll man vollends zu seinem Testament, was zu den Laudes creaturarum, dem SonnengesangSonnengesang (laudes creaturarum), sagen, dieser ersten, unbeschreiblichsten Blüte des Volgarevolgare, in der die einfachste, unschuldigste, vertrauteste Liebe zum Irdischen ausatmet in dem vertrauten Gruß an den Tod, als sei auch er Kreatur, ein irdisches Ding, von Gott geschaffen und würdig des Ruhmes? So viel von seinen Worten; eine überwältigende Fülle von Zeugnissen für seine ganz persönliche, immer bildhaft-konkrete Gestalt bietet seine Legende, in jeder der vielen Fassungen, in denen sie uns überliefert ist. Schon bei ihrer Entstehung rankt sich die Phantasie mitdichtend um sie herum, des Streites um Priorität und Glaubwürdigkeit ist kein Ende; vom ersten Tage an ist sie ein Volksbuch, die unkritischste Redaktion, nämlich die vulgärsprachlichen FiorettiFioretti (des hl. Franz), haben bis zum heutigen Tage eine gewaltige Verbreitung, weit über die fromm katholischen Kreise hinaus, und ein großes Jahrhundert der Malerei scheint fast nur aus der Geschichte des Franz von AssisiFranz v. Assisi das göttliche Pneuma der Inspiration empfangen zu haben.

Es ist nicht leicht, aus solcher Überfülle das Eindringlichste auszuwählen – und dabei nicht das zu übersehen oder zu verschweigen, was einem heutigen Gefühl fremdartig erscheint. Als er schon ein berühmter Heiliger war und sehr krank – von Natur war er zart und eines gepflegten Lebens bedürftig11 – da aß er einmal Hühnerfleisch, das man ihm verordnet hatte. Kaum hatte er sich erholt, befahl er einem Bruder, ihn mit einem Strick um den Hals durch AssisiFranz v. Assisi zu führen und dabei fortwährend zu rufen: Hier seht den Vielfraß, der sich ohne euer Wissen mit Hühnerbraten vollgestopft hat!12 Das scheint uns fast zu viel und ist doch ein Ausfluß seiner innersten Art, eines traditionell italischen Wesens, das in seiner naiven Drastik zuerst Spott, dann bestürzte Einkehr – aber niemals Überdruß erregte. Bei aller Einfachheit scheut er sich durchaus nicht, ein auffallendes Schauspiel zu geben – oder besser gesagt, dies Szenenhafte ist seine Natur, sein Ausdruck, den er nie verleugnet. Seine Gebärden im Sprechen überstiegen durchaus das uns gewohnte Maß; selbst als er zum ersten Male vor dem Papste sprach, ergriff ihn der fervor spiritus, so daß er, «sich nicht fassend vor Freude, die Füße wie im Tanze bewegte».13 De toto corpore fecerat linguam, sagt Thomas an einer anderen Stelle, womit er freilich in einem weiteren Sinne meint, daß sein Körper durch Haltung und Art des Lebens unausgesetzt seiner Predigt diente; und er überschreibt den folgenden Absatz: Concordia utriusque hominis.14 Aber auch in jenem engeren Sinne behält es Gültigkeit, und es ist völlig das Freiheitsgefühl eines großen und meisterhaften Schauspielers, das an einer dritten Stelle beschrieben wird: wenn er vor vielen Tausenden predigte, war er so sicher wie im Gespräch mit dem vertrautesten Genossen; der riesigste Völkerhaufe erschien ihm wie ein einziger Mann.15

Er ist stets ein gespannter und bewegter Mensch gewesen, den es unausgesetzt trieb, die jeweils ergriffene Lebensform ins äußerste zu steigern; non modicum audax war er in seiner frühen Jugend,16 ein überschäumendes Gefäß der Gnade später. Was für ein verblüffender Auftritt ist schon sein erstes Erscheinen nach seiner Bekehrung in dem kleinen Assisi, das in ihm eben noch den Führer der leichtsinnigen Jugend der Stadt gesehen hatte!17 Und die Fülle erstaunlicher Taten, die er später vollbrachte, ist unerschöpflich. Er gab den Armen seinen Mantel oder das einzige Evangelienbuch, das die Brüder besaßen, er küßte die Aussätzigen, er warf sich, als eine Regung niederer Sinnlichkeit ihn befiel, nackt in den Schnee,18 er sprach zu Tieren und Blumen, er nannte alle Kreaturen seine Brüder – et modo praecellenti atque caeteris inexperto creaturarum occulta cordis acie decernebat, utpote qui iam evaserat in libertatem gloriae filiorum Dei.19 Das Krippenspiel am Tage der Geburt des Herrn, das praesepiumPraesepium, praesepe, feiert er mit Ochs und Esel im Stall zu Greccio, und das herbeigeeilte Volk hört in frommer Freude, wie er predigend Jesus das Lamm von Bethlehem nennt und in diesem Worte das Blöken eines Lammes nachzuahmen versucht.20 Er weinte über ein junges Lamm, das er auf dem Felde sah, nahm es mit sich, zog damit zum Erstaunen aller durch die Stadt Auximum (Osimo), um es den Nonnen zur Pflege zu übergeben – es hatte ihn an Christi Leiden erinnert.21

In der Ekstase begann er zu singen, und zwar oft französisch, oder auch mit einem Stück Holz die Bewegung des Geigenspielers (der viella) nachzuahmen;22 das Französische war seine Lieblingssprache, und im Anfang seiner Laufbahn überwand er die eigene Scham vor dem Betteln, indem er plötzlich begann, französisch zu reden.23 Nicht minder erstaunliche und impulsive Dinge vollbrachte er, um seiner Gesinnung bei den Brüdern oder auch bei Fremden Geltung zu verschaffen. Als er ein Haus sah, das ohne sein Wissen für die Brüder gebaut worden war, stieg er sofort auf das Dach und begann die Ziegel hinunterzuwerfen;24 die gewohnte Zelle verließ er, als sie ein Bruder unbedacht cella fratris Francisci genannt hatte;25 einem anderen, der einen Beutel Geldes berührt hatte, gab er in erschreckender Symbolik als Buße auf, den Beutel mit den Zähnen in einen Haufen Eselsmist zu legen.26 Als er die Brüder in Greccio an einem geschmückten Tische speisen sieht, geht er nicht etwa hinein, es ihnen zu verweisen; er nimmt Hut und Stab eines Armen, geht laut bettelnd an die Tür, erbittet als armer Pilger, im Namen Gottes, Einlaß und Speise: und wie die fassungslos erstaunten Brüder ihm den verlangten Teller geben, setzt er sich damit in die Asche: modo sedeo ut frater minor!27

Zum Mahl bei seinem Freunde, dem Kardinal Ugolin von OstiaUgolin v. Ostia, erscheint er mit etwas schwarzem Brot, das er sich draußen erbettelt hat, und verteilt die Brocken als eine wertvolle Gabe, angesichts des reich besetzten Tisches.28 Einem Habgierigen füllt er lächelnd die Hände mit Geldstücken, ohne zu zählen, und erschüttert durch diese einfache Geste das Gleichgewicht des Mannes für immer.29

Schließlich sei noch die unheimliche Szene bei den Schwestern von San Damiano erzählt: sie haben lange gebeten, ihn zu sehn und seine Predigt zu hören; endlich will er kommen. Er erscheint vor den versammelten Nonnen, doch kaum hat er gebetet, als er einen Kreis von Asche rings um sich streuen läßt und statt der Predigt ein lautes Miserere beginnt; dann geht er eilig davon.30

Zu dieser breiten und eklatanten Wirkung, die der Heilige der südlichen Gewalt seines Ausdrucks verdankt, tritt eine andere, ganz feine und subtile – die Wirkung, die auf der ganz unbeschreiblich leuchtenden Liebenswürdigkeit seines Auftretens beruhte. Hier ist das Wort «Liebenswürdigkeit» wirklich an seinem Platze, denn das, was man bei ihm so nennen darf, ist keineswegs der Ausfluß einer gesellschaftlichen Bildung – obgleich freilich, schwer nachzuweisen und doch unverkennbar, auch hier ältestes Gut der Tradition durchschimmert –, sondern eine wirkliche Blüte des Herzens, durch deren Glanz er nicht nur unendlich gut und groß, sondern ebensosehr persönlich reizvoll erscheint, und um derentwillen er dem geheimen Orden der Menschen von bevorzugter Bildung zugehört. So rätselhaft in seinen Ursprüngen und so unbeabsichtigt dieses Wesen auch sein mag – der Heilige, Sohn eines Tuchmachers in einer Kleinstadt, ohne literarische Bildung und ohne Beziehung zu den damaligen Schauplätzen edler Sitte, ähnelt zuweilen in seiner trotz aller Leidenschaftlichkeit überwältigend formvollen, die geheimsten Instinkte des anderen erspürenden Art, einem schon fast überempfindlichen, mit überfeinen Sinnen begabten Abkömmling eines erlauchten Geschlechts. Ohne Zweifel hat Thomas von CelanoThomas v. Celano recht, wenn er seine Liebenswürdigkeit aus seiner Demut herleitet,31 aber nicht jeder Demütige wäre imstande, seiner Gesinnung solchen Ausdruck zu verleihen.

Hier ist es nicht ganz so leicht, Beispiele anzuführen, denn es handelt sich um Dinge, die, überall in der Legende verstreut, sich doch schwer herausheben und losgelöst darstellen lassen. Das Augenfälligste ist die Art, wie der Heilige die Gedanken, Wünsche und geheimen Nöte der anderen errät und ihnen zu helfen weiß, ohne sie zu beschämen; die Legende bewahrt uns eine ganze Anzahl solcher Züge. War einer der Brüder krank und dem Fasten nicht gewachsen, wagte es aber nicht sich einzugestehen, so wußte es Franziskus sofort; er holte selbst Speise, setzte sich zu dem Leidenden, begann, um jenem die Scham zu nehmen, selbst zu essen und, wie BonaventuraBonaventura sagt, eum ad manducandum dulciter invitare.32 Oder er errät, auf einem Esel reitend, die Gedanken eines vornehm geborenen Bruders, der zu Fuß nebenher gehen muß; sogleich steigt er ab und bietet ihm an zu reiten.33 Nie versäumt er es, dem anderen eine Freude zu machen, und man versteht wohl, daß der erkrankte Bruder, den er mit Weintrauben überraschte (er war vor Tag sie pflücken gegangen, damit es ja niemand merke), bis zu seinem Tode sich dieses Morgens nicht ohne Tränen erinnern konnte. Doch es gibt hier auch ernsthaftere Dinge. Er fühlt, wenn sich aus irgendeinem geheimen Grunde die Gedanken eines Menschen verdüstern, wenn eine finstere Verworrenheit sich seiner bemächtigt, und im richtigen Augenblick greift er ein mit der ganzen Macht seiner zugleich ernsthaften und strahlenden Güte. Nichts von dem, was wir neuerdings einen Komplex nennen, kann vor ihm bestehen. Einen Scheuen, der von ihm mißachtet und schlecht beurteilt zu sein glaubt und darum schon beginnt an der Gnade zu verzweifeln, ruft er plötzlich zu sich, versichert ihn seiner besonderen Liebe und bittet ihn, so oft es ihm gefalle, zu ihm zu kommen.34 Einem anderen, von Anfechtungen gequälten, die er aber aus Scham nicht beichten kann, sagt er unvermittelt, er sei befreit von dieser Beichte, und die Anfechtungen würden ihm zum Ruhme, nicht zur Schuld gerechnet werden.35

 

Seine ganz besondere Liebe gehörte den Einfältigen und den Schwachen. Eine der hübschesten Anekdoten der Legende ist die Geschichte von Johannes SimplexJohannes Simplex, dem Bauernsohn, der ihm vom Pfluge weg folgen will, und auf die Forderung, er solle sein Hab und Gut den Armen schenken, sogleich einen Ochsen ausspannt: so viel gehöre ihm vom väterlichen Erbe, den könne er geben; dann aber kommen die Eltern und kleinen Geschwister weinend angelaufen und jammern über den Bruder und den Ochsen, die sie beide so schnell verlieren sollen. Der Heilige aber steht lächelnd inmitten der bewegten Szene, und die Worte, mit denen er den Ochsen zurückgibt, den Bruder aber mit sich führt, mag man selbst in der Fassung des Speculum perfectionis36 nachlesen. Zarte und feingebildete Menschen behandelte er mit einer Art von Rücksicht, die den Betroffenen sicher vollkommen frei und glücklich machte. Man denke etwa an die Stelle der Actus, in denen sein Gespräch mit dem vornehmen Jüngling – dem späteren Bruder Angelo – erzählt wird,37 oder an die Worte, mit denen er die hilfeflehende junge Frau aufnimmt,38 die freilich viel zu zart sind, um hier wiedergegeben zu werden. Wenn man die Stelle nachlesen will, so möge man darauf achten, daß nicht sie es wagte, ihn anzusprechen, sondern daß er die Ermüdete und Atemlose sogleich unter vielen Menschen bemerkt: Quid tibi, domina, placet? Und dann lese man weiter.

In demselben Kapitel der Actus, das wir eben wegen des adligen Jünglings zitiert haben, steht auch die Geschichte von den drei Räubern, die der Guardian des Klosters heftig fortgewiesen hatte. Der Heilige tadelt ihn und schickt ihn mit Wein und Brot den Räubern nach, er solle sie um Verzeihung bitten, und zwar nicht bloß wegen der unchristlichen Grausamkeit, sondern auch wegen der incurialitasincurialitas, der unhöflichen Form. Und jener andere Bruder, den er in seiner Krankheit um Rat fragt, ob es denn recht sei, daß er so vieles für die Pflege des kranken Körpers tue, hat sofort gewonnenes Spiel, als er ihn an die Pflicht der liberalitasliberalitas erinnert: hat dir nicht, so sagt er, dein Körper immer und ohne Furcht vor Gefahren gedient? Willst du einen solchen Freund in der Not verlassen? Sei du gesegnet, mein Sohn, antwortet der Heilige, daß du weise meinen Bedenken mit so heilsamen Mitteln begegnest ….39

Die suggestive Bezauberungskraft seiner Gestalt, in die Welt getragen und noch tausendfach verstärkt durch das mystische Element brüderlicher Gemeinschaft, das die Leiber fast ebenso bindet wie die Seelen, und das nun in jedem Kutte und Strick tragenden Bruder den Heiligen vervielfältigte, diese Bezauberungskraft sinnlicher Art hat Europa für die franziskanische Bewegung erobert und mindestens in Italien weit entscheidender gewirkt als etwa sein Streben nach vollkommener Demut oder die eschatologischen Vorstellungen, die später in der Bewegung bedeutend wurden. Denn in einem so vielfältigen Gewirr von Stimmen, einem so komplizierten Gespinst von spirituellen Fäden, wie es das Erwachen des modernen europäischen Geistes gewesen ist, sind die rational bezeichenbaren Strömungen schwer zu fassen und noch schwerer zu verfolgen. Sie fluten und ebben auf und ab, vereinigen sich mit anderen, verschwinden, brechen irgendwo in neuer Form wieder hervor oder verkehren sich in neuer Umgebung in ein gänzlich neues Ding. Selbst wenn man geduldig und geschickt genug ist, solch eine einzelne formulierbare Strömung, etwa den antikisierenden Individualismus oder die eschatologische Hoffnung auf das tausendjährige Reich, durch einen längeren Zeitraum verfolgen und mit richtiger Beurteilung ihrer inneren Wandlungen darstellen zu können, selbst dann entgeht man schließlich doch kaum der Gefahr, daß man jene einzelne rational ausdrückbare Gesinnung allzu losgelöst, allzu isoliert betrachtet und folglich ihre Bedeutung verkehrt einschätzt. Doch die auf sinnlicher Durchtränkung der Gemüter beruhende Psychagogie einer einzelnen bedeutenden Gestalt ist weit allgemeiner und befreit sich schon nach kurzem Zeitablauf von ihrem Sachinhalt, ohne darum an sinnlicher Kraft einzubüßen. So ist es mit dem heiligen Franz. Als das Ideal evangelischer Armut und die Gesinnung vollkommener Demut längst schal geworden und an dem Reibungswiderstand des irdischen Laufs zugrunde gegangen waren, lebte noch intakt in den Herzen die Gewalt seiner Geste – selbst in solchen Herzen, deren eigentliches Streben gar kein religiöses war. Als ein unzerstörbares Erbe ist sein Persönlichstes der italienischen Nation erhalten geblieben: die heiße drastische Kraft seines Ausdrucks, die den Dingen gleichsam in den Leib dringt und sie von innen zu eröffnen scheint, und die zarte und formvolle und nicht minder innerliche Eleganz seines Herzens, eben jene Eigenschaften, durch die sich die Göttliche Komödie von dem deutschen MinnesangMinnesang oder der provenzalischen KunstdichtungTroubadourdichtung unterscheidet.

Franz von AssisiFranz v. Assisi in der Komödie (1944)

Nicht sehr viele Stellen des Paradiso sind so bekannt und so allgemein bewundert: wie der elfte Gesang; das ist nicht erstaunlich, denn es handelt sich um Franz von Assisi, und die Verse sind besonders schön. Und doch ist die Bewunderung für diesen Gesang nicht ganz selbstverständlich. Franz war eine der eindrucksvollsten Gestalten des Mittelalters. Das ganze 13. Jahrhundert, dem DantesDante Jugend noch angehört, war gleichsam erfüllt von ihm, und keines anderen Menschen Art, Stimme und Gebärde sind uns aus dieser Zeit so deutlich erhalten wie die seinen. Das zugleich Einsame und Volkstümliche seiner Frömmigkeit, das zugleich Süße und Herbe seiner Person, das zugleich Demütige und Grelle seines Auftretens sind unvergeßbar geblieben; Legende, Dichtung und Malerei bemächtigten sich seiner, und noch lange später schien jeder Bettelmönch auf der Straße etwas von ihm an sich zu tragen und so es tausendfach zu verbreiten. Seine Erscheinung hat gewiß viel dazu beigetragen, den Sinn für das Eigentümliche und Ausgeprägte des einzelnen Menschen zu wecken und zu schärfen; eben jenen Sinn, dessen großes Denkmal DantesDante Komödie ist. Man sollte also von der Begegnung der beiden, das heißt vom Auftreten des Heiligen in der Komödie, einen der Höhepunkte konkreter Lebensdarstellung erwarten, deren es so viele in der Komödie gibt; DanteDante fand in der damals schon halb legendären Biographie Franzens überreichlich Material, um diese Begegnung zu gestalten. Um so seltsamer ist es, daß er die Begegnung gar nicht stattfinden läßt.

Fast alle Personen der Komödie erscheinen selbst. DanteDante trifft sie an dem Ort, den das Urteil Gottes ihnen angewiesen hat, und dort ergibt sich eine unmittelbare Begegnung in Rede und Antwort. Mit Franz von AssisiFranz v. Assisi ist es anders. Zwar sieht ihn DanteDante ganz am Schluß des Gedichts, auf seinem Sitz in der weißen Rose zwischen den Seligen des Neuen Bundes; aber er spricht nicht mit ihm, und an den anderen Stellen, wo er erwähnt wird, erscheint er nicht selbst; so auch da, wo die Erwähnung am ausführlichsten und grundsätzlichsten geschieht, eben im elften Gesang des Paradiso; Franz spricht nicht selbst, sondern es wird über ihn berichtet. Ist dies schon erstaunlich, so ist es noch mehr Rahmen und Art des Berichtes.

DanteDante und Beatrice sind im Sonnenhimmel von einem singenden Reigen seliger Geister umgeben, die, ihre Bewegung unterbrechend, sich als KirchenväterKirchenväter und Weisheitslehrer zu erkennen geben; einer von ihnen, Thomas von AquinoThomas v. Aquin, nennt und charakterisiert sich und seine Gefährten (hier ist auch die berühmte Stelle über Siger von BrabantSiger v. Brabant), und alsbald beginnt der Reigen von neuem. Nun hat aber DanteDante den Sinn einiger Worte des Thomas nicht verstanden: Ich war ein Lamm der Herde des DominicusDominicus, Hl., wo man gute Weide findet, wenn man nicht abirrt – dieser Vers, u’ben s’impingua se non si vaneggia (und auch noch eine andere, auf Salomo bezügliche Stelle) bedarf für DanteDante einer Erklärung. Thomas, der wie alle Seligen die unmittelbare Schau des ewigen Lichtes besitzt, so daß ihm durch dasselbe auch DantesDante Gedanken nicht verborgen bleiben können, erfüllt den unausgesprochenen Wunsch nach Erläuterung seiner Worte, und aufs neue werden Gesang und Reigen unterbrochen, damit Thomas, von BonaventuraBonaventura unterstützt, seine Worte kommentieren kann. Dieser Kommentar umfaßt drei Gesänge. Im ersten, dem elften, erzählt Thomas das Leben des heiligen Franz und knüpft daran eine Klage über den Verfall seines eigenen, des dominikanischen Ordens; im zwölften schildert umgekehrt der Franziskaner BonaventuraBonaventura das Leben des DominicusDominicus, Hl. und schließt mit einem Tadel der Franziskaner; der dreizehnte Gesang enthält, wiederum aus Thomas’ Munde, den Kommentar über die König Salomo betreffende Äußerung. Aus den beiden Gesängen über die BettelordenBettelorden sollen DanteDante und der Leser lernen, daß beide Orden für das gleiche Ziel gegründet wurden, daß sie sich ergänzen und daß bei beiden das Leben der Stifter gleich vollkommen, der Abfall der Nachfolgenden gleich abscheulich war; daß man also in ihnen wohl gedeiht, wenn man dem Vorbild der Stifter folgt und nicht davon abirrt. Beide Gesänge sind ein Kommentar, lehrhaft, genau eingebaut in DantesDante Geschichtsdeutung, mit scharfen polemischen Wendungen nicht nur gegen die beiden Orden, sondern auch gegen PapsttumPapsttum und Geistlichkeit überhaupt. Zu dem Kommentar gehört auch die Darstellung von Franzens Leben; sie ist Teil eines Kommentars, und zwar eines mehrere hundert Verse umfassenden Kommentars, zu einem Nebensatz, der eine Zeile in Anspruch nimmt und der wohl auch kürzer zu erläutern gewesen wäre. Dies also ist der Rahmen: Thomas, der große Kirchenlehrer, kommentiert ausführlich einen eigenen Ausspruch. Solche Haltung oder Tätigkeit entspricht seiner Person; aber ist dies ein Rahmen, der der Biographie des Franciscus von AssisiFranz v. Assisi entspricht? Nach modernem Empfinden gewiß nicht. Wir haben zwar gelernt, die Art des mittelalterlichen Kommentierens aus ihren Voraussetzungen zu verstehen; wir wissen, daß sie aus der besonderen Art des damaligen Lehrbetriebes erwuchs; wir haben auch vielleicht sonst schon erfahren, daß sich in dem Geranke der kommentierenden Paraphrase zuweilen eine unvermutete Blüte findet, die der Stamm, nämlich der Text, kaum erwarten ließ, und oft genug ist er völlig verdeckt vom Kommentar; ja, dies Phänomen scheint sich nicht nur auf die Literatur zu beschränken, wenn man an manches InitialInitial oder an manche SequenzSequenz denkt. Aber hier, wo DanteDante das Leben des heiligen Franz erzählen will? Wäre dafür nicht ein weniger lehrhafter, weniger scholastischer Rahmen zu finden gewesen?

Nicht genug damit. Die Biographie, die Thomas gibt, enthält von all den bezaubernden und so überaus konkreten Einzelzügen, die die franziskanische Legende aufbewahrt hat, nur sehr wenig. Zwar das Hauptsächlichste, Geburt, Aufbau des Werkes und Tod sind der Überlieferung gemäß erzählt, aber nichts einzelnes, das zur anekdotischen Belebung dienen könnte; und auch das Hauptsächliche nur gleichsam aktenmäßig, in chronologischer Reihenfolge: Geburt, Armutsgelübde, Gründung des Ordens, Bestätigung durch den Papst InnocenzInnocenz (Papst), zweite Bestätigung durch Honorius, Missionsfahrt, Wundmale, Tod. Die Wandmalereien in Assisi erzählen viel mehr, und sie erzählen weit bunter, anekdotischer – von den verschiedenen literarischen Fassungen der Legende ganz zu schweigen. Und noch etwas kommt hinzu: bei DanteDante hat die Biographie außer dem äußeren Rahmen des Kommentars, dessen Teil sie ist, auch ein inneres Leitmotiv, und zwar ein allegorisches. Das Leben Franzens wird dargestellt als Ehe mit einer allegorischen Frauengestalt, der Armut. Wir wissen zwar, daß dies ein Motiv der franziskanischen Legende war; aber war es notwendig, dies Motiv zum beherrschenden zu machen? Wir haben, soweit wir Spezialisten für mittelalterliche Kunst oder Literatur sind, allmählich und etwas mühsam gelernt, daß die AllegorieAllegorie für bestimmte Gruppen mittelalterlicher Geistigkeit etwas anderes, Wirklicheres bedeutete als für uns – daß man in der Allegorie eine Konkretisierung des Gedankens sah, eine Bereicherung der Möglichkeiten, ihn auszudrücken. Aber das hat einen ihrer eifrigsten und verständnisvollsten Neuentdecker, HuizingaHuizinga, J., nicht gehindert, sie doch etwas abschätzig «die Wucherpflanze aus dem Treibhaus der Spätantike» zu nennen. Bei aller Erkenntnis ihrer Bedeutung können wir das Dichterische an ihr nicht mehr spontan fühlen. Und doch gibt uns DanteDante, der so viele Menschen unmittelbar reden läßt, die lebendigste Gestalt der ihm vorausgehenden Epoche, Franz von AssisiFranz v. Assisi, im Gewand eines allegorischen Berichtes. Was fast jeder spätere Dichter getan hätte, und was er selbst so oft tat, worin er der erste Meister war, nämlich den Menschen selbst in Wort und Gebärde aufs Konkreteste und Persönlichste zu gestalten, das tut er hier nicht. Der Kirchenlehrer Thomas berichtet von der Hochzeit des Heiligen mit der Frau Armut, damit DanteDante versteht, was es bedeutet, daß man in der Herde des DominicusDominicus, Hl. gute Weide findet, wenn man nicht abirrt.

 

Wenn man an die bekannten allegorischen Dichtungen der Spätantike und des Mittelalters denkt, an die Werke von ClaudianClaudian etwa oder PrudentiusPrudentius, von Alain de LilleAlain de Lille oder Jean de MeunJean de Meun, so ist freilich wenig Gemeinsames zwischen ihnen und der Biographie des Franciscus in der Komödie. Jene Werke bieten ganze Armeen von allegorischen Gestalten auf, beschreiben ihre Gestalt, ihre Kleidung, ihre Wohnung, lassen sie miteinander disputieren und kämpfen. Übrigens kommt auch paupertaspaupertas bei einigen von ihnen vor, aber als Laster oder Begleiterin des Lasters. DanteDante bringt hier nur eine einzige allegorische Gestalt, eben die Armut, und verbindet sie mit einer historischen, das heißt konkret wirklichen Persönlichkeit. Das ist etwas ganz anderes; er zieht die AllegorieAllegorie ins Aktuelle, er verbindet sie eng mit dem Geschichtlichen. Dies ist zwar nicht DantesDante Erfindung, es wurde ihm, mit dem ganzen Motiv, von der franziskanischen Tradition überliefert; von Anfang an erscheint in ihr die Hochzeit mit der Armut als Figur der Tätigkeit des Heiligen. Bald nach seinem Tode schon wurde ein Traktat mit dem Titel Sacrum Commercium Beati Francisci cum Domina Paupertate1 geschrieben, und Anklänge an das Motiv finden sich fortwährend, etwa auch in den Gedichten Jacopone da TodisJacopone da TodiJacopone da Todi. Aber es wird kaum konsequent durchgeführt, sondern löst sich auf in viele didaktische oder anekdotische Einzelheiten; nie wird es für eine konkrete Lebensdarstellung festgehalten. Das Sacrum Commercium enthält überhaupt nichts Biographisches, sondern ist im wesentlichen eine lehrhafte Schrift, in der die Armut eine lange Rede hält. Die Darstellung in der Unterkirche in Assisi, die früher meist GiottoGiotto zugeschrieben wurde, zeigt die Hochzeit ebenfalls jenseits aller konkreten Biographie: Christus gibt den Heiligen mit der hageren und alten, in Lumpen gehüllten Armut zusammen, während zu beiden Seiten mehrere Schichten von Engelchören an der Feier teilnehmen. Mit dem praktischen Leben des Heiligen hat das nicht unmittelbar zu tun – dieses wird in einem anderen Zyklus von Bildern dargestellt. DanteDante hingegen bringt beides in einem; mit der Hochzeitsfeier vereinigt er jene eindrucksvolle, ja sogar grelle Szene auf dem Markt in AssisiFranz v. Assisi, wo Franz öffentlich auf das Erbteil des Vaters verzichtet und diesem sogar seine Kleider zurückgibt. Verzicht auf Erbteil und Entkleidung, die sonst überall als eigentlicher Gegenstand der Darstellung hervortreten, werden bei DanteDante nicht ausdrücklich erwähnt; sie werden in die allegorische Hochzeit einbezogen; um einer Frau willen sagt sich hier Franciscus von seinem Vater los; einer Frau, die keiner haben will, die von allen wie der Tod gemieden wird; vor den Augen aller, vor den Augen des Bischofs, vor den Augen des Vaters tut er sich mit ihr zusammen. Hier wird zugleich das Besondere wie das Bedeutend-Allgemeine des Vorgangs greller hervorgehoben, als es durch den bloßen Verzicht auf etwas auszudrücken gewesen wäre: nicht weil er etwas nicht besitzen will, sondern weil er etwas anderes begehrt und zu besitzen trachtet, verwirft er die väterlichen Güter und sagt sich vom Vater los; er tut es um einer Liebe, um einer Begierde willen, die unwillkürlich die Erinnerung an andere ähnliche Vorgänge wachruft, wo junge Männer um schlechter Weiber willen, die ihre Begierden entzündet haben, ihre Familie verlassen. Schamlos gleichsam, vor aller Augen, tut sich Franciscus mit einem Weibe zusammen, das von allen verachtet wird, und die Erinnerung an schlechte Weiber wird, wie wir gleich genauer sehen werden, durch die weitere Ausmalung immer wieder geweckt. Es ist also eine seltsame, nach gewöhnlichen Begriffen abstoßende Hochzeit, eine häßliche Feier, die sich hier vollzieht, verbunden mit Streit wider den eigenen Vater, öffentlich, grell und eben dadurch noch bedeutsamer als die Rückgabe der Kleider, die ja nicht sogleich jene Gedanken an Verworfenheit und Heiligkeit heraufbeschwört wie die Ehe mit einem verachteten Weibe. Und hier erwacht die Erinnerung an einen anderen, der früher einmal solche Hochzeit feierte; der sich auch mit einem verachteten, verlassenen Weibe, der armen, verstoßenen Menschheit, der Tochter Zion, vermählte; der auch freiwillig sein Erbteil aufgab, um seiner Liebe zu der verstoßenen zu folgen. Die Vorstellung, daß Franz von AssisiFranz v. Assisi in seinem Leben und seinem Schicksal gewisse Übereinstimmungen mit dem Leben Christi zeigt, also das Motiv der Nachfolge oder Konformität, ist von der franziskanischen Überlieferung immer mit Liebe gepflegt warden. Die Biographie Bonaventuras läßt sich von diesem Gedanken leiten, und er hat auch in der Malerei seinen Ausdruck gefunden, zuerst in der Unterkirche von Assisi, wo fünf Darstellungen aus dem Leben Christi fünf entsprechenden aus dem Leben des Franciscus gegenübergestellt sind. Die Konformität wird auch in vielen Einzelheiten gefunden, etwa in der Zahl der Jünger, dem gemeinsamen Leben mit ihnen, den verschiedenen Wundertaten und vor allem in der Stigmatisation. DanteDante hat das Motiv in seinen Einzelzügen nicht verfolgt, bringt er doch überhaupt keine Einzelzüge; aber er hat es in der mystischen Hochzeit bewußt herausgearbeitet: also nicht in den einzelnen Zügen, sondern im Ganzen und Grundsätzlichen; freilich auf eine Weise, die dem mittelalterlichen Leser unmittelbarer einleuchtet als dem heutigen.