Trugbilder

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»Mal schauen, ich hab da so meine Kontakte, zumindest hier in der Gegend, vielleicht kann ich das etwas beschleunigen.«

»Das wär natürlich gut. Okay, wir sehen uns hier noch ein wenig um. Dann bis morgen, nehme ich an. So um neun Uhr?«

»Ja, tschüs, bis dahin im Institut.«

Während der Rechtsmediziner sich wieder über sein Untersuchungsobjekt beugte, wandten sich Angermüller und Jansen in Richtung Ausgang, um erst einmal den Mann zu befragen, der den Fund gemeldet hatte.

»Und, Andreas, hast du schon was für uns?«, wollte Angermüller im Vorübergehen wissen.

»Komiker! Wie denn? Kein Schmuck, keine Textilreste, schon gar keine Papiere, und von Schuhabdrücken nur noch Überreste. Dieser bescheuerte Regen hat fast sämtliche Spuren beseitigt.«

»Dann gib dir mal Mühe«, forderte Angermüller ihn auf und schnitt eine Grimasse zu Jansen.

»Ihr könnt mich alle mal«, kam es böse zurück. Sie waren schon ein paar Meter weiter, da rief Ameise ihnen nach: »Im Übrigen, wenn ihr mich fragt: Ist doch noch ein bisschen zu früh zum Angrillen, oder?«

Es folgte ein meckerndes Lachen. Jansen stöhnte genervt. Ohne weiter von Ameise Notiz zu nehmen, gingen die Kommissare zu den Streifenpolizisten, die immer noch mit dem Zeugen zusammenstanden. Der eine überreichte ihnen einen Zettel mit den Daten des Mannes.

»Bitte entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten. Ja, dann erzählen Sie doch mal, Herr …«, Angermüller schaute auf seine Personalien, »Herr Burdinski, wann und wie Sie die tote Person aufgefunden haben.«

»Also, ich bin gestern spätabends hier angekommen. Ich komm aus Essen. Ich hab ein Ferienhaus gleich nebenan in der Siedlung, wissen Sie. Meine Frau hatte keine Lust mitzufahren, sie findet das hier immer so trostlos um diese Jahreszeit. Is ja auch niemand da von unseren Nachbarn. Ja …«

Der Mann im Trainingsanzug nickte selbstvergessen. Sein Rauhaardackel zerrte ungnädig an der Leine.

»Herr Burdinski, könnten Sie uns bitte schildern, wie Sie auf den Fund aufmerksam wurden und wann das war?«, versuchte Angermüller, den Mann zum Kern der Frage zu bringen.

»Ja, also, weil das ja so nass war heute Nacht, hab ich den Hund für sein Geschäft immer nur kurz in unseren Garten gelassen. Dann bin ich am Vormittag erst mal in den Supermarkt gefahren, weil ich hier nix zu beißen hatte. Und kein Bier!«

Er grinste die beiden Beamten an. Angermüller hörte seinen Kollegen schwer atmen. Wahrscheinlich litt der schon wieder Höllenqualen, denn wenn Jansen eine Tugend abging, war das Geduld.

»Und wann und wie sind Sie dann auf das Opfer gestoßen?«, hakte Angermüller noch einmal nach.

»Das war so vor zwei Stunden ungefähr. Ich hatte gut gegessen und dachte, Herbert, es regnet grad nicht, jetzt tust du mal ein paar Schritte, am besten runter zum See. Das tut der Susi gut und dir auch. Ja …«

Der Hund bellte, als sein Name fiel.

»Susi, still!«

»Und weiter?«

»Ach so, ja. Hier, meine Susi hat die Leiche gefunden. War nicht angeleint – ausnahmsweise, Herr Kommissar. Und plötzlich war sie weg und hat gebellt wie verrückt und nicht aufgehört, bis ich hinterher kam. Na, ich hab vielleicht einen Schrecken gekriegt! Sieht ja aus wie aus einem Gruselfilm, dat Dingens! Ich hab sofort mein Handy genommen und den Notruf gewählt. Ihre Kollegen waren zum Glück schon nach einer Viertelstunde hier.«

»Und sonst ist Ihnen nichts aufgefallen, weder am Abend zuvor noch heute?«

»Nee, wat soll mir denn aufgefallen sein?«

»Ungewöhnliche Geräusche, Lärm, fremde Autos oder Leute in der Siedlung«, zählte der Kommissar auf.

Der Zeuge schüttelte den Kopf.

»Nee, nix. Ich sach ja, hier is um die Jahreszeit tote Hose.«

»Ist gut, Herr Burdinski, vielen Dank. Das war dann alles«, resignierte Angermüller. Bei dem Menschen war wohl wirklich nichts mehr zu holen.

»Und wat is da jetzt eigentlich passiert, Herr Kommissar? Wer ist denn dat arme verbrannte Dingens?«

»Wir arbeiten daran, das herauszufinden.«

»Aha. Na ja, auch wenn Sie was wüssten, mehr erzählen Sie mir ja sowieso nich«, bedauerte Herbert Burdinski, »ein Glück jedenfalls, dass meine Frau nich hier ist. Die hätte vor Schreck ’n Herzkasper gekriegt. Na komm, Susi, dann gehen wir mal nach Hause. Tschüsskes!«

»Tschüs. Ihre Kontaktdaten haben wir ja, falls wir noch Fragen haben.«

Die beiden Kommissare wechselten noch einmal zurück auf das Gelände der Badeanstalt. Mit dem neuen Wissenstand, so gering der auch war, ließ jeder für sich die Umgebung erneut auf sich wirken, versuchte, auf seine Art zu ergründen, was sich hinter dem Wenigen, was sie wussten, verbarg, welches Drama sich hier abgespielt haben könnte.

Das Opfer war eine junge Frau, was Angermüller sofort an eine Beziehungstat denken ließ. Eifersucht setzte in manchen Menschen brutale Dämonen frei, die sie zu unvorstellbar grausamen Taten trieben. Wenn das Verbrennen nicht todesursächlich war, dann sollte es sicherlich Spuren verwischen, aber vielleicht auch komplett auslöschen, was der Täter einst geliebt hatte. Und warum hatte er sich genau diesen Ort für sein Tun ausgesucht? Gab es außer der Einsamkeit um diese Jahreszeit noch einen anderen Grund? »Schorsch! Kommst du bitte noch mal?«, unterbrach der Rechtsmediziner Angermüllers Überlegungen.

»Was gibt’s?«

»Ich habe eben etwas entdeckt, was die Identifizierung unseres Opfers sehr beschleunigen kann. Siehst du, hier?«

Steffen deutete mit seinem behandschuhten Finger auf den Brustkorb der Toten. Angermüller schüttelte den Kopf, er sah nur Schwarz.

»Die junge Frau trug Brustimplantate. Und die haben üblicherweise Seriennummern und weitere Herstellerangaben. Zumindest das eine scheint nicht komplett verschmort. So könnt ihr über den Hersteller das Krankenhaus ermitteln und dort den Namen der Patientin – richterlichen Beschluss vorausgesetzt.«

»Na, das ist doch mal eine gute Nachricht.«

»Nicht wahr? Alles Weitere dann morgen. Bei der Gelegenheit wirst du auch die Nachfolgerin von unserem Freiburger Kollegen Eberle kennenlernen, Schorsch. Der Eberle ist ja im letzten Sommer zurück in die Heimat und hat inzwischen promoviert.«

»Und welchen Dialekt spricht seine Nachfolgerin?«, fragte Angermüller augenzwinkernd, da hin und wieder Verständigungsprobleme aufgetreten waren, wenn Manfred Eberle im Eifer des Gefechts in seinen badischen Dialekt verfallen war.

»Wenn überhaupt, dann Mecklenburger Platt. Doktor Maike Witt stammt aus Wismar.«

»Das ist quasi um die Ecke, die Frau spricht ganz normal«, stellte Jansen fest, der die Neue schon kennengelernt hatte.

»Richtig. Insofern dürfte es also keinerlei Verständigungsschwierigkeiten geben. Dann nochmals tschüs und bis morgen.«

»Ja tschüs, Steffen, und danke.«

Zwei Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts tauchten auf. Sie trugen den Metallsarg, in dem die Überreste der Toten ins Institut für Rechtsmedizin transportiert würden. Die Kommissare machten sich auf den Rückweg nach Lübeck. Ruhig lenkte Jansen den Wagen über die leere Autobahn, und sie planten den nächsten Tag. Ein Kollege sollte die Datei für Vermisste und unbekannte Tote durchforsten, auch wenn sie vorerst nur die Kennzeichen »weiblich, jung, Norddeutschland« für den Abgleich hatten. Mehmet sollte bei Tageslicht den weiteren Bereich um den Fundort noch einmal genau absuchen, in der Hoffnung, doch noch auf Spuren, auf Beweismittel zu stoßen. Für sie selbst würde es um 9 Uhr mit der Obduktion beginnen, und anschließend wollten sie sich in der Gegend um den See noch einmal umhören. Vielleicht hatte ja irgendjemand etwas von einem Feuer bemerkt, und sie könnten zumindest den Zeitpunkt des Verbrennens näher bestimmen.

»Na dann, schönen Feierabend. Ich hol dich morgen früh ab«, verabschiedete sich Jansen.

»Danke, dir auch. Bis morgen.«

Es ging gegen 20 Uhr, und als Georg die Wohnungstür aufschloss, spürte er sehr deutlich seinen leeren Magen. Oh ja, nach den Stunden in der unwirtlichen Kälte hatte er sich ein schönes Abendessen verdient. Und auch sein von den schrecklichen Bildern aufgewühltes Gemüt würde der Genuss eines guten Essens beruhigend streicheln.

Er goss sich einen Rotwein ein und inspizierte seine Vorräte, von denen er immer ausreichend vorhielt, um, auch ohne extra einzukaufen, eine köstliche Mahlzeit zubereiten zu können. Gerade begann er zu überlegen, ob es ihn eher nach Pasta oder einem Pfannkuchen mit Speck und Champignons gelüstete, da durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Derya! An seine Verabredung mit ihr um 19 Uhr hatte er überhaupt nicht mehr gedacht!

Aber irgendwie merkwürdig, dass sie gar nicht angerufen hatte. Wenn sie nicht auch den Termin vergessen hatte, was ziemlich unwahrscheinlich war, dann bedeutete das nichts Gutes. Wahrscheinlich war sie sauer, ziemlich sauer sogar. Sofort versuchte er, Derya auf dem Handy zu erreichen, doch immer wieder sprang nur ihre Mobilbox an. Nach dem dritten Mal sprach er drauf:

»Liebe Derya, ich muss mich tausendmal bei dir entschuldigen, aber wir sind gegen Abend zu einem Einsatz gerufen worden, eine unbekannte Tote, verbrannt … ja … sehr unschön das alles. Unsere Verabredung hab ich darüber völlig vergessen. Es tut mir wirklich unheimlich leid. Also, entschuldige noch mal, aber ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Solltest du dich jetzt noch treffen wollen, ruf einfach kurz an – ich komme überall hin. Dann erst mal tschüs. Freu mich, wenn du dich meldest.«

Ach ja, manchmal ging einfach alles schief.

Kapitel III

Mit lautem Quietschen stoppte ein Fahrrad neben ihr, und jemand sagte laut: »Viktoria Johanne Frederiksen! Guten Morgen.«

 

Erstaunt hob Vicky, die gerade vor ihrer Haustür die Reste einer verhedderten Plastiktüte aus den Fahrradspeichen pulte, ihren Kopf. Ein großer, schlanker Typ stand mit seinem Rad direkt vor ihr und grinste sie an. Ja, er kam ihr bekannt vor. Aber wer war das?

»Dich hab ich ja 100 Jahre nicht gesehen«, stellte er fröhlich fest. Er trug eine schmale Windjacke zu Jeans, und unter seinem Fahrradhelm sah ein dunkler Pferdeschwanz hervor. Auf jeden Fall sah er gut aus. In dem Moment fiel bei Vicky der Groschen, zugleich wurde sie unter ihren weißblonden Locken knallrot und wünschte sich sonst wohin.

»Ach, du bist das, Marten«, sagte sie betont gleichgültig, wohl wissend, dass ihr Erröten nicht zu übersehen war, »hab dich mit der neuen Frisur fast nicht erkannt.«

Was für eine blöde Bemerkung! Bis auf den hervorlugenden Zopf ließ der Fahrradhelm gar keinen Blick auf sein Haar zu. Vicky hätte sich ohrfeigen können! Aber Marten ging darauf gar nicht ein.

»Mensch, sag mal, wie lange ist das her, dass wir uns gesehen haben?«

Vicky hob unentschieden die Schultern. Sie konnte sich immer noch sehr gut erinnern, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, auch wenn das ungefähr drei Jahre her sein musste. Das war, als ihre Schwester bei Marten aus- und bei ihrem nächsten Freund eingezogen war. Aber alle Erinnerungen an die Zeit damals und besonders an Marten hatte sie in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verbannt. Zu viel Kummer und Enttäuschung waren für Vicky damit verbunden, und für manches schämte sie sich noch heute.

Marten schaute sie an. Immer noch hatte er diesen Blick, der suggerierte, dass man das Einzige auf dieser Welt war, das ihm wichtig war, dem er seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Und wieder spürte sie, genau wie damals bei jedem Mal, wenn sie mit ihm zusammen traf, wie ihr die Knie weich wurden.

»Wie geht’s dir, Vicky? Wohnst du hier? Was machst du?«

»Äh …«, sie musste erst einmal ihre plötzlich belegte Stimme wieder freikriegen.

»Ja, ich wohne hier in einer Wohngemeinschaft. Alles gut bei mir. Ich mach eine Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin, und nebenher erwerbe ich die Fachhochschulreife, weil ich anschließend noch studieren will«, spulte sie ab, als ob sie in einem Bewerbungsgespräch säße.

Der junge Mann lächelte, spöttisch, wie sie sofort dachte. War ja auch zu peinlich, wie sie reagierte.

»Ich hab jetzt keine Zeit, aber lass uns doch bald mal einen Kaffee zusammen trinken. Hast du noch meine Handynummer?«

»Weiß ich nicht.«

Natürlich hatte sie die nicht gelöscht.

»Also, wenn deine noch die alte ist, müsst ich die noch haben.«

»Ist die alte. Aber ich muss jetzt echt los. Tschüs, Marten.«

Vicky fummelte an ihrem Fahrradhelm, ohne ihn aufzusetzen. Mit dem Ding fand sie sich total doof.

»Super, ich melde mich! Tschüs, Viktoria Johanne, hat mich echt gefreut.« Marten zwinkerte ihr zu, schwang sich auf sein Rad, und weg war er. Auch Vicky setzte ihren Helm auf und fuhr los. Zwei Minuten später bemerkte sie, dass sie in die falsche Richtung fuhr. Oh Mann, sie war ganz schön durch den Wind! Sie musste ja bei der Kardiologenpraxis vorbeifahren, wo Mia heute durchgecheckt werden sollte. Vicky sollte sich Karolines Hausschlüssel abholen, weil Mia erst heute Morgen bemerkt hatte, dass sie ihr Handy in der Wohnung vergessen hatte. Und sie hatte Vicky gebeten, es ihr von dort gleich vorbeizubringen, damit sie auch direkt mitbekam, wenn Karoline sich endlich meldete. Eigentlich fand Vicky das total übertrieben. Ob Mia das Handy nun drei Stunden früher oder später wieder hatte, meine Güte, das änderte doch wirklich nichts! Aber Mia klang so völlig aufgelöst, dass Vicky gar nicht anders konnte.

Von der Arztpraxis fuhr sie also zu der Adresse in der Nähe vom Brink. Sie war nur kurz nach Karolines Einzug einmal in der Wohnung ihrer Schwester gewesen. Es gab jetzt noch ein neues weißes Ledersofa und einen Schminktisch mit einem riesigen, von Glühbirnen umrahmten Spiegel, den Vicky noch nicht kannte. Darüber hing ein professionell gestaltetes Plakat mit einem Porträtfoto von Karoline, riesengroß. Außerdem standen ein paar unterschiedliche Stative herum, daneben zwei Studioleuchten – der Wohnraum und die angrenzende offene Küche waren zum Aufnahmestudio umfunktioniert worden. Vicky hatte schon lange nicht mehr durch Karolines Instagram-Profil gescrollt. Sie hatte durch Arbeit und Ausbildung sehr wenig Zeit, und die Videos ihrer Schwester über Mode, Work-outs, Schminktipps und kalorienarmes Kochen waren nicht so ganz ihre Welt.

Die Küche war sehr aufgeräumt, wirkte ziemlich unbenutzt, auch ein kleines Zimmer, das wohl als Büro diente, sah mit seinen Ordnern, der sortierten Post und dem ordentlichen Schreibtisch gut organisiert aus. Im Schlafzimmer dagegen herrschte Klamottenchaos – das war schon immer so gewesen. Überall lagen Schuhe, Unterwäsche und Kleider herum, dazwischen Pakete von den Modelabels, mit denen Karoline Werbeverträge hatte, die zum Teil noch gar nicht ausgepackt waren. So, wie es aussah, filmte sie sich ständig und immer, ihr ganzer Alltag war öffentlich. Auch im Schlafzimmer stand ein Stativ. Ein solches Leben konnte Vicky sich überhaupt nicht vorstellen. Aber Karoline war schon immer sehr zielstrebig und gleichzeitig kontrolliert gewesen. Sie wollte Karriere machen, berühmt werden, viel Geld verdienen, das waren ihre Ziele. Sie hatte einen Businessplan, dem sie alles andere unterordnete.

Finanziell schien es Karoline ja wirklich ganz gut zu gehen. Sie fuhr ein eigenes Auto, und in dieser Wohnung, die sie offenbar allein bewohnte, war alles schicker und neuer als in Vickys Wohngemeinschaft, deren bunt möblierten Zimmern und der gemütlichen Küche, in der sie oft zusammen kochten oder mit Freunden bis tief in die Nacht klönten – aber irgendwie kam es Vicky hier auch ziemlich unpersönlich vor, und gemütlich war es schon gar nicht. Ob Karoline glücklich war? Sie sahen sich zu Ostern, an Weihnachten und zum Geburtstag ihrer Mutter, selten mal dazwischen. Im Grunde hatte Vicky keine Ahnung, wie es ihrer Schwester ging.

In einem kugeligen Glas auf dem Tresen zwischen Küche und Wohnraum zog ein einsamer Goldfisch seine Runden. So ein Fisch zur Dekoration – was für eine Tierquälerei! Schnell wechselte Vicky das Wasser für das arme Tier. Neben dem Goldfischglas lag ein aufgeklappter Laptop. Mias Handy fand sich in der Küche auf einer Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank. Automatisch drückte Vicky den Home Button. Es waren keine neuen Nachrichten oder Anrufe eingegangen. Sie packte das Teil ein und ging zum Ausgang.

»Guten Morgen«, grüßte der große Mann, der aus der gegenüberliegenden Wohnung kam, als sie gerade die Wohnungstür abschloss.

»Guten Morgen«, murmelte Vicky.

»Ist Frau Frederiksen inzwischen zurück?«

Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er hatte dichtes dunkles Haar und einen Dreitagebart, sah eigentlich ganz freundlich aus. Aber was wollte der? Kannte er Karoline besser? Er bemerkte scheinbar ihr Zögern.

»Vorgestern Nachmittag ist mir die Mutter von Frau Frederiksen begegnet«, erklärte er. »Sie schien sich Sorgen zu machen, weil ihre Tochter nicht, wie verabredet, am Montag von einer Reise zurückgekommen ist. Deshalb frage ich.«

Ach stimmt, Mia hatte ja schon der ganzen Nachbarschaft ihre übertriebenen Befürchtungen mitgeteilt.

»Nein, Karoline ist noch nicht zurück. Aber das kommt öfter vor, dass meine Schwester ihre Pläne ändert und sich nicht meldet.«

»Ach so. Na dann …«

Der Nachbar zögerte kurz. Er schien nachzudenken. Schließlich sagte er:

»Mein Name ist Angermüller. Ich bin bei der Kriminalpolizei. Ihre Mutter schien mir sehr beunruhigt wegen des Ausbleibens von Karoline.«

Er holte eine Karte aus der Brusttasche seiner Jacke und überreichte sie Vicky.

»Sollte Ihre Schwester nicht bald auftauchen, kann Ihre Mutter sich gern bei mir melden, wenn sie vielleicht eine Vermisstenanzeige aufgeben will.«

Vicky schaute auf seine Karte. Zumindest sah die aus, als ob sie echt wäre. Aber eigentlich brauchte sie die nicht, denn natürlich würde Karoline bald zurückkommen, daran zweifelte Vicky nicht im Geringsten, und so bedankte sie sich nur kurz.

»Na dann tschüs, mein Kollege wartet. Einen schönen Tag für Sie«, verabschiedete sich der Nachbar.

»Danke, Ihnen auch«, entgegnete Vicky automatisch und las noch einmal genauer auf der Visitenkarte. »Kommissariat 1« stand da. War das nicht immer die Bezeichnung für die Mordkommission? Nahm dieser Polizist Mias übertriebene Befürchtungen etwa ernst, weil Karoline nichts von sich hören ließ und quasi verschwunden war? Auf keinen Fall würde sie Mia davon erzählen, denn dann würde die vollends durchdrehen.

Während sich Angermüller im Dienstwagen den Sicherheitsgurt anlegte, schweifte sein Blick zu der jungen Frau, die sich gerade vor dem Haus auf ihr Rad schwang. Sie schien sich nicht im Geringsten um den Verbleib von Karoline Frederiksen zu sorgen. Angermüller, der an den ihnen bevorstehenden Termin denken musste, an das noch nicht identifizierte Opfer, hoffte, dass ihr Optimismus angebracht war.

Nie wäre er darauf gekommen, dass dies die Schwester seiner Nachbarin sein könnte. Sie war viel kleiner, hatte wilde weißblonde Löckchen und trug sportlich-praktische Klamotten. Immerhin, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Mutter konnte er feststellen – Größe, Figur und auch die Gesichtszüge glichen sich, wenn auch der Jüngeren die von Mia Frederiksen zur Schau getragene herausfordernde Fröhlichkeit fehlte.

»Nanu, was macht der denn schon wieder hier?«, murmelte Angermüller auf einmal.

»Wen meinst du?«

»Na, der Kerl, der da am Gartenzaun lehnt. Der scheint ein hartnäckiger Verehrer meiner Nachbarin zu sein. Der hängt unglaublich oft hier rum.«

Als der junge Mann mitbekam, dass Angermüllers Blick auf ihm ruhte, wandte er sich ab und ging schnellen Schrittes davon.

»Komischer Typ«, kommentierte Angermüller.

Gewohnt rasant legte Jansen den kurzen Weg zum Institut für Rechtsmedizin zurück, während vor Angermüller immer wieder das Bild seiner verschwundenen Nachbarin auftauchte. Die Frage, ob ihre Schwester Brustimplantate trug, hätte einiges klären können, doch wie hätte er die der jungen Frau stellen sollen, ohne sein Motiv zu erläutern? Und eigentlich wollte er sowieso nicht an so einen verrückten Zufall glauben.

Auf den Stufen zum Institutseingang trafen sie auf Staatsanwalt Lüthge.

»Guten Morgen«, erwiderte der den Gruß der Kommissare, »ich hätte mir gestern gern selbst ein Bild vom Tatort gemacht, aber wir stecken mitten in den Vorbereitungen für den Prozess gegen die Eltern des toten Babys …«

»Verstehe.«

Angermüller erinnerte sich, dass die sehr jungen Eltern den medizinischen Notruf gewählt hatten, um eine Totgeburt anzuzeigen, sich bei der Obduktion aber herausgestellt hatte, dass der kleine Junge lebend zur Welt gekommen war. Der Kommissar war froh, mit diesem bedrückenden Fall nicht näher befasst gewesen zu sein.

»Wir wissen bisher nicht, ob die Fundstelle in der kleinen Badeanstalt auch der Tatort ist«, erläuterte er dem Staatsanwalt, »aber vielleicht erfahren wir jetzt ja mehr.«

Jansen hielt ihnen die Tür auf, und wenig später standen die beiden Polizisten mit Lüthge im Sektionsraum, wo Steffen von Schmidt-Elm, Maike Witt, die neue Rechtsmedizinerin, und ein Assistent den durch die Hitze so schrecklich entstellten Körper vermaßen und wogen, oder besser das, was davon übrig war.

Wie immer war es einer der Termine, auf die Angermüller gern hätte verzichten können. Zeuge der Prozeduren in der Rechtsmedizin zu werden, empfand er als echte Zumutung. Mittlerweile bereitete er sich stets bewusst darauf vor, frühstückte am Morgen vor der Obduktion sehr bescheiden mit Knäckebrot und Tee und hatte damit seinen Magen ganz gut im Griff. Außerdem trug er an so einem Tag einen dicken Schal oder ein Tuch, um sich gegebenenfalls gegen die üblen Gerüche zu schützen. Meist allerdings brachte das nicht viel, so wie heute.

Roch es sonst oftmals faulig, süßlich, wenn ein gräulich aufgedunsener Körper auf dem Tisch lag, hing heute ein ausgeprägter Gestank nach verbranntem Fleisch in der Luft, nach Kohle, irgendwie bitter. Doch auch diese Duftnote war ein sehr unangenehmes Gemisch für Angermüllers Nase.

Schmidt-Elm und seine neue Kollegin, eine sehr große, sehr schlanke Frau mit kurzen blonden Haaren, arbeiteten konzentriert Hand in Hand, verständigten sich mit Blicken und Gesten, nur ganz selten fiel ein Wort. Für Angermüller verging die Zeit quälend langsam, aber irgendwann, mehr als eine Stunde war um, kam Steffen zu einem ersten Resümee.

 

»Der menschliche Körper brennt nicht so leicht und in diesem Fall auch nicht so lange, ich nehme an, maximal 15 Minuten. Der oder die Täter hatten sich von dem Feuer sicherlich mehr versprochen, wahrscheinlich das Vernichten des Körpers bis zur berühmten Unkenntlichkeit. Was wir bisher wissen: eine junge Frau, schlank, ein Meter 75 groß, wahrscheinlich langes Haar. So, unser Paul hat den Schädel bereits von der Kopfhaut befreit und wird ihn jetzt entlang der Hutkrempenlinie eröffnen.«

Mit fröhlichem Gesicht waltete der Präparator seines Amtes und entfernte mit der Handsäge die Schädeldecke. Der junge Mann hatte vor einiger Zeit seine weibliche Vorgängerin ersetzt, die vor allem durch ihre ausdauernd schlechte Laune aufgefallen war. Paul war das genaue Gegenteil, was Angermüller angesichts des Umfelds und der Tätigkeit immer noch ziemlich irritierte.

»Wenn Sie einmal schauen möchten …«

Der Rechtsmediziner hob die Gehirnschale an.

»Wir haben am hinteren Schädel zwei recht nah beieinander liegende geformte Brüche, verursacht durch äußere Gewalteinwirkung. Da diese oberhalb der Hutkrempenlinie liegen, sind sie nicht mit einem Sturz auf ebenen Boden zu erklären. Sie stammen wahrscheinlich von einem Schlag mit einem harten, kantigen Gegenstand, vielleicht so etwas wie eine große Rohrzange oder ein Scherenwagenheber. Und sehen Sie: Die massiven Schläge gegen den Kopf haben ein großes Epiduralhämatom verursacht, zu erkennen an dieser spindelförmigen Blutansammlung zwischen der harten Hirnhaut und dem Schädelknochen.«

Mit einer Pinzette deutete von Schmidt-Elm auf die entsprechende Stelle und gab dann dem Präparator ein Zeichen. Der trat näher, entnahm vorsichtig das Gehirn und brachte es zur Waage.

»Noch eine wichtige Information, bevor wir den Brustkorb eröffnen«, begann Steffen, »bereits am Fundort hatte ich ja festgestellt, dass das Opfer Brustimplantate trug. Das linke ist durch die Hitzeeinwirkung geplatzt, das rechte nur angeschmolzen. Die Wirkdauer des Feuers hat nicht ausgereicht, um die Kunststoffteile komplett zu zerstören. Dann wollen wir mal, Frau Witt, bitte.«

Die junge Kollegin musste ein wenig Kraft aufwenden, da das Material am Brustkorb haftete, dann hob sie vorsichtig mit ihrer Pinzette ein durch Hitzeeinwirkung leicht verformtes, mit Ruß überzogenes Kunststoffteil ab und hielt es für alle sichtbar in die Höhe. Als Doktor Maike Witt zum ersten Mal das Wort ergriff, war Angermüller erstaunt, wie laut und vor allem wie tief ihre Stimme war.

»Hier, auf der Rückseite findet sich noch gut erkennbar die Hersteller- und Seriennummer, anhand derer man relativ einfach den Hersteller ausfindig machen kann. Über die Seriennummer findet man dann die Klinik, in der der Eingriff vorgenommen wurde, und schließlich auch bei wem.«

Ja, das erleichterte wirklich ihre Nachforschungen, dachte Angermüller. So würden sie viel zügiger die Identität des Opfers aufdecken können, als wenn sie mit dem Zahnstatus und der aufwendigen Nachfrage bei Zahnärzten hätten arbeiten müssen.

»Da ein Brustimplantat nur volljährigen Personen eingesetzt wird, ist die junge Frau also mindestens 18 Jahre alt«, fuhr Maike Witt fort, »vom Zustand der Weisheitszähne her, und da die Wachstumsfugen am Schlüsselbein noch nicht ganz geschlossen sind, grenzen wir das Alter unseres Opfers zwischen 20 und 21 Jahre ein.«

Steffen nickte zustimmend und griff zur Rippenschere, um den nächsten Schnitt in Angriff nehmen. Währendessen bewegten sich Angermüllers Augen unruhig hin und her, auf der Suche nach einer Ablenkung vom Geschehen auf dem Obduktionstisch. Sie blieben an der jungen Rechtsmedizinerin hängen, die mit interessierter Miene das Geschehen beobachtete, bereit, bei Bedarf einzugreifen.

Doch mehr noch als der Anblick auf dem Tisch war es vor allem das knirschende Geräusch der Schnitte, das Angermüller irritierte. Wie beim Tranchieren einer knusprig gebratenen Gans, ging es ihm durch den Kopf. Oh Gott, was für einen schrägen Gedanken hab ich da! Inständig sehnte der Kommissar das baldige Ende dieser schaurigen Vorführung herbei.

»So, Paul hat das Gehirn in Scheiben geschnitten. Die im Hirngewebe sichtbaren Kontusionsblutungen sind definitiv vital durch stumpfe Gewalteinwirkung entstanden. Mit anderen Worten steht fest, dass das Opfer durch Schläge gegen den Hinterkopf zu Tode gekommen ist und man mit der anschließenden Verbrennung versucht hat, sämtliche Spuren zu löschen.«

»Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«, wollte Staatsanwalt Lüthge wissen.

»Tut mir leid«, gab Steffen Auskunft, »durch die Hitzeeinwirkung werden Totenflecke auch an den abhängenden Körperpartien, die nicht verkohlt sind, hitzefixiert, und die eigentlichen Aufliegeflächen weisen ja keine Totenflecke auf. Temperaturmessung ergibt hier ebenfalls keinen Sinn. Klar ist nur, dass sie wohl mindestens seit gestern dort gelegen hat, denn der Leichnam war vom Regen in der Nacht von vorgestern auf gestern durchnässt.«

Erleichtert, dem Sektionsraum mit seiner schauerlichen Szenerie entkommen zu sein, standen Angermüller und Jansen mit Staatsanwalt Lüthge vorm Institut für Rechtsmedizin. Das Grau der vergangenen Tage hatte sich verzogen, es war ein klarer, sonniger Märztag. Immer noch wehte ein eisiger Wind. Bevor sich Lüthge verabschiedete, versprach er, sich schnellstmöglich um eine richterliche Anordnung für die Herausgabe der Daten des Herstellers der Brustimplantate und des Krankenhauses zu bemühen, das den Eingriff vorgenommen hatte. Sie alle hatten ein Interesse daran, möglichst frühzeitig die Identität des Opfers zu erfahren, die sie hoffentlich zu einem konkreten Ermittlungsansatz führen würde.

»Und jetzt fahren wir zum See und schauen, ob nicht jemand was von dem Feuer mitbekommen hat, oder, Claus?«

Jansen zeigte zum Einverständnis seinen hochgereckten Daumen.

»Aber vorher muss ich was essen, sonst kipp ich aus den Latschen. Hab heute Morgen nix gefrühstückt.«

»Mmh, ich hatte auch nur trockenes Knäckebrot zum Tee …«

Angermüller sah auf die Uhr. Ja, er war einem kleinen Imbiss nicht abgeneigt, aber seit der Obduktion hatte er den Kopf voller Fragen. Eine junge Frau um die 20, die an ihrem Körper Eingriffe zur vermeintlichen Optimierung hatte vornehmen lassen – was hatte sie sich davon erhofft? Schon im nächsten Jahr würden seine Töchter volljährig. Welche Wünsche würden sie sich erfüllen, wenn sie alles selbst entscheiden konnten? Was wohl war das Ziel der jungen Frau gewesen, die so abrupt aus dem Leben gerissen worden war, und für die es nun keine Träume, kein Ziel, keine Zukunft mehr gab.

»Wat is? Hast du etwa keinen Hunger?«, riss ihn Jansen aus seinen Grübeleien.

»Doch, doch. Lass uns mal über Niendorf fahren, so eilig haben wir’s ja nicht.«

»Also Fisch zum Frühstück is ja nich so meins«, brummelte Jansen, der die Vorlieben seines Kollegen kannte, »auch wenn ich ab und zu schon mal welchen esse.«

Das ewige Thema bei ihren gemeinsamen Mahlzeiten. Trotz einiger Lernfortschritte aufgrund der Küche seiner Freundin Anja-Lena und Angermüllers sanfter Versuche von Geschmackserziehung, bevorzugte Jansen nach wie vor Deftigkeiten mit Fleisch, gerne in Form von Burgern oder Currywurst.

»Ach, Claus, du kennst mich doch.«

»Eben drum.«

»Komm, ich bin doch immer kompromissbereit. Wenn du jetzt nicht gerade ein Frühstück mit Marmeladenbrötchen willst, kommst du bestimmt auf deine Kosten, das garantier ich dir.«

Die Kommissare sprachen nicht, während sie den Weg aus der Stadt nahmen. Sie durchquerten den Herrentunnel, tauchten wieder in die helle Sonne und verließen bei Travemünde die Bundesstraße. Durch kleine Ortschaften, vorbei an Feldern und Wiesen, rollten sie nach Norden. Die Bäume und Büsche am Straßenrand umgab ein zarter grüner Schein, der den Frühling ahnen ließ.