Feine Damen. Kriminalroman

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„Ist er nicht!“

„Aha.“ Coco und Pat grinsten fröhlich, Hel knallte einen Zehner auf den Tisch und erhob sich. „Blöde Weiber! Tschüss!“

„Beleidigte Leberwurst!“, rief Pat ihr hinterher und kratzte sich dann den Kopf. „Warum geht sie in die Richtung? Sie hat doch da drüben geparkt?“

Die verbliebenen Schwestern reckten neugierig die Köpfe und verfolgten, wie Hel sich dem Café schräg gegenüber näherte und zwischen den Tischchen auf der Terrasse der Sala Candida etwas zu suchen schien – oder jemanden?

Besonders Jack beobachtete ihre Schwester aufmerksam. Coco drehte sich irgendwann wieder um und fragte dann nur noch etwas gelangweilt: „Hat sie jetzt etwas gefunden oder ist sie schon gar nicht mehr in der Sala Candida?“

„Hm?“ Jack kramte ihr Handy heraus und fotografierte in die Richtung der Sala Candida.

„Leicht übertrieben“, fand Pat.

Jack antwortete nicht, sondern beschäftigte sich damit, das Foto mit den Fingern zu vergrößern und es dann sorgfältig zu inspizieren. Coco zuckte die Achseln und wandte sich Pat zu. „Willst du jetzt wirklich Köchin werden oder war das bloß, um Claudia auf die Palme zu bringen?“

„Letzteres. Ich koche echt gerne und besser als die olle Mohr. Na, das wäre noch keine Kunst… Aber ein Leben lang in einer dumpfigen Restaurantküche… ich werde vielleicht Jura oder Tiermedizin machen, den Schnitt hab ich ja. Das ärgert Mama auch.“

„Versteh ich nicht. In diesen Kitschromanzen am Sonntagabend lernt die Tierärztin doch immer den Schlossherrn kennen, dessen verletztes Pferd sie behandelt hat? So stellt sie sich doch das Leben vor?“

Pat war begeistert. „Das erzähle ich ihr, sie wird platzen! Aber warum sie nichts über ihr früheres Leben erzählen will, weiß ich auch nicht.“

2

Andreas Reuchlin sah sich zufrieden in seinem Teamraum um: Maggie machte gerade die Berichte zum jüngst gelösten Fall fertig und Liz speicherte alles ab, was das Whiteboard enthalten hatte. Ben inspizierte den Materialschrank und machte sich murmelnd Notizen, was alles für den nächsten Fall, der garantiert noch in dieser Woche um die Ecke kam, nötig war – Mappen, USB-Sticks, Notizblöcke für die weniger Technikaffinen… Und das taten sie alles praktisch unaufgefordert! Okay, mehr oder weniger…

„Ein Dreck ist hier drin…“, murrte Ben und fegte den Staub mit der Handkante von den Regalbrettern auf den Boden.

„Putzt du zu Hause auch so?“, fragte Maggie, breit grinsend. Ben ignorierte das vornehm und verließ das Büro, um sich alles Notwendige zu holen.

Maggie erbarmte sich, feuchtete den Putzschwamm an, der das Waschbecken hinter der Tür schmückte, und wischte einmal über die Regalbretter, die Ben immerhin leergeräumt hatte.

„Ihr seid erfreulich häuslich“, ließ sich Andi vernehmen, der an der Statistik seines Teams arbeitete. Bis jetzt sieben Fälle in diesem Jahr – und alle gelöst! Durchschnittlich in jeweils einer Woche gelöst! Ob Joe, Anne, Thomas oder Felix wirklich besser waren?

Kriminalrat Spengler hatte ja in seiner väterlichen Art (lag das wohl an den mittlerweile drei Kindern, die er mit dieser Werbefrau produziert hatte?) gemahnt, sie möchten doch jetzt bitte nicht auf Teufel komm raus schnell ermitteln – gründlich und gerichtsfest, das sei immer noch die Devise. Zügiges Arbeiten sei aber freilich nicht zu verachten… und er wisse die Schwierigkeit eines Falles bei der Auswertung der Statistik durchaus einzuschätzen.

Eine solche Auswertung hatten sie bis jetzt noch nicht zu sehen bekommen – und würden sie wahrscheinlich auch nie. Es sei denn, um ihnen Beine zu machen, aber dazu waren sie zu gut, ganz bestimmt!

Sein Telefon klingelte und er nahm ab, voll böser Ahnungen.

Seine Ahnungen bestätigten sich – wie meistens. „Leute, los geht´s! Männliche Leiche.“

„Wo denn?“, fragte Ben, der mit Mappen und anderem Kram hereinkam.

„Leiching. Hinter dem Zollhausmuseum. Wir werden es schon finden.“

Das war auch tatsächlich nicht schwer, man musste nur parken, sobald man das Blaulicht der Streife und des Krankenwagens sah und die unvermeidliche Gruppe von Schaulustigen.

Sie bahnten sich den Weg durch die Leute und schnauzten dabei nach links und rechts: „Haben Sie nichts Sinnvolles zu tun?“

Ein Handy klickte und Andi nahm es dem Fotografen sofort aus der Hand. „Recht am Bild, schon vergessen? Sie können es in einigen Tagen wieder abholen, sobald wir Ihre Fotogalerie überprüft und gegebenenfalls gelöscht haben.“

„Was?“ Der Besitzer schien sich aufplustern zu wollen, aber Liz und Maggie zückten nur ihre Kripoausweise und meinten freundlich lächelnd: „Da kommt noch was auf Sie zu. - Datenschutz, Sie verstehen?“

Das verscheuchte ohnehin die meisten Schaulustigen – wenn man hinterher nichts posten konnte, machte das Gaffen offenbar nur den halben Spaß…

Das Opfer lag in der von Büschen getarnten Nische, in der das Museum seine Mülltonnen – blau, gelb, braun und grau – normalerweise versteckte. Hätte der Hausmeister die Tonnen nicht an die Straße gerollt, weil die Müllabfuhr (grau und gelb) fällig war, hätte man den Toten vielleicht tagelang nicht entdeckt.

Der tote Mann lag auf dem Rücken und hatte zwei Schusswunden in der Brust. Dr. Engelhorn drehte sich um. „Das hier scheint genau das Herz getroffen zu haben und war damit wohl todesursächlich. Kleines Kaliber, vielleicht 0.22. Genaueres -“

„- wenn du ihn auf dem Tisch hattest“, vollendete Andi routiniert.

„Sehr brav.“

„Weiß man, wer er ist?“

Einer von der Spurensicherung sah auf. „Ein Oliver Perfler, achtundvierzig. Wohnt aber nicht direkt hier. Mehr so am Kreuz West, dem Perso zufolge.“

„Harter Kontrast“, kommentierte Maggie.

Liz drehte sich einmal um die eigene Achse. „Einen direkten Blick auf diese Nische hat hier überhaupt niemand. Idealer Ort. Hat er einen Führerschein? Dann könnte ich mal nach dem Wagen schauen…“

Kopfschütteln der Spurensicherung. „Nur der Perso und gerade mal zwölf Euro siebenunddreißig. Und ein ziemlich altes Handy.“

„Hier fahren auch viele Busse her“, stellte Ben fest. „Da vorne… die Nummer 41 und die 27.“

„Haben die die schon wieder umbenannt… na, egal. Wo fahren die denn hin…“ Liz inspizierte die Aushangfahrpläne. „Na immerhin, der Siebenundzwanziger fährt direkt zum Kreuz West, erstaunlich eigentlich.“

„Wieso? Sowohl die Schickis als auch die Prekären müssen öfter mal in die Innenstadt“, erklärte Ben. „Schau, er fährt über den Bahnhof und über den Markt. Eigentlich eine gute Linie.“

„Zugegeben. Gut, er kann also mit dem Siebenundzwanziger hierhergekommen sein. Wozu wohl… kennt er hier Leute?“

„Wir werden den Herrn Perfler im Präsidium durchchecken, dann sehen wir ja, wen er hier kennt. Und vielleicht auch, was er hier wollte.“

Sie kehrten zur Leiche zurück und betrachteten sie. Weißes Hemd – wenn man von den Blutflecken absah -, sehr dunkle, gut sitzende Jeans und dunkelbraune Schuhe. Eine recht preiswert wirkende Armbanduhr vollendete das Outfit.

„Schöne Haare“, stellte Maggie fest, die gerade wieder herantrat. „Im Museum hat keiner etwas gemerkt. Die haben aber auch gerade erst aufgemacht. Der Typ muss einen guten Friseur haben. Gehabt haben.“ Sie seufzte.

„Der wäre für dich doch viel zu alt gewesen“, mahnte Andi. Er hatte sich den Hausmeister vorgenommen, der auf einem der Betonblumenkübel neben dem Eingang saß und immer noch benommen vor sich hinstarrte, eingehüllt in eine Rettungsdecke.

„Der braucht Betreuung“, stellte Liz fest und instruierte die Sanitäter entsprechend.

Sobald jemand den Hausmeister versorgt hatte und die Leiche in einem Transportsarg lag, fuhren sie ins Präsidium zurück.

„Brauchen wir mehr Leute?“, überlegte Andi, während er Maggie beobachtete, die schon mal eine Überschrift an die Tafel schickte: Mord am Zollhausmuseum.

„Geht das so? Zollhausleiche finde ich doch etwas sehr flapsig…“

Er nickte ihr zu. Maggie beschriftete eine große Plastikwanne, in der die Berichte gesammelt werden würden, mit dem gleichen Titel, Ben verteilte die Mappen, die er gerade erst geholt hatte, und Liz formulierte die ersten Beobachtungen und schickte sie in die Tafel, zartgrün eingefärbt.

Warum grün, fragte er jetzt wohl besser nicht…

Lieber wandte er sich seinem Rechner zu und schaute nach, was das Netz über Oliver Perfler hergab.

Gar nicht mal so wenig… Adresse am Kreuz West, Norderneyweg, das hatte der Ausweis schon verraten. Geburtsdatum 11.12.1969… von Beruf offenbar Buchhalter, aber seit längerem ohne Beschäftigung. Aha! Hatte gesessen, fünf Jahre ohne Bewährung wegen zahlreicher kleinerer Unterschlagungen… außerdem hatte er lange Jahre in Hamburg gelebt, seit … 1996.

Verheiratet… die arme Frau. Saß die etwa in Hamburg und fragte sich, wo ihr Oliver hingeraten war? Wie sollte sie darauf kommen, dass er im tiefsten Oberbayern im Knast saß? Hatte sie vielleicht eine Vermisstenanzeige …?

Nein, alles ganz umgekehrt. Die Frau hieß Claudia Perfler, 46 Jahre alt, wohnhaft in Leisenberg. Selling, Neusser Straße, Sekretärin. Dann hatte sich Oliver nach Hamburg abgesetzt, war nach vielen Jahren zurückgekommen, hatte die Unterschlagungen begangen und war eingewandert? Na, dann hätte er, was diese Claudia anging, wohl auch getrost wegbleiben können!

Jedenfalls sollten sie Claudia Perfler befragen. Und sich in Perflers Wohnung umsehen…

Ben und Liz machten sich mit der Spurensicherung auf zur Wohnung im Norderneyweg; er selbst fuhr mit Maggie nach Selling.

„Alles eher bescheiden“, fand Maggie. „Kreuz West, Selling – und dann legt ihn jemand in Leiching um? War doch gar nicht sein natürliches Habitat, oder?“

 

„Du denkst, er hat jemanden Geldigen erpresst?“

„Naja – so abwegig ist das doch gar nicht?“

„Wer weiß…? Hemmungen hätte er wohl nicht gehabt, schließlich ist er ja schon einmal kriminell geworden. In seiner Akte steht freilich, dass er nicht gewalttätig war, mehr wohl der Schmumacher.“

„Dazu passt Erpressung doch gar nicht so übel, oder?“

„Ja, schon möglich…“

Neusser Straße 27, hatte in der Akte gestanden. Leicht verwirrt studierten sie die Klingeltafel, aber auf allen zwölf Schildern (drei Wohnungen pro Etage) standen ganz andere Namen.

„Sowas Blödes!“, murrte Andi und drückte kurz entschlossen auf alle drei Knöpfe im Erdgeschoss. Sofort ertönte der Summer und er drückte die Tür auf.

„Soll´n das?“, maulte es aus der mittleren Wohnung. Rechts schaute eine wohlfrisierte alte Dame aus der Tür, links blieb die Tür geschlossen.

Andi und Maggie zückten ihre Ausweise. „Wir sind auf der Suche nach Claudia Perfler. Können Sie uns da vielleicht behilflich sein?“

„Nie gehört“, wurde in der Mitte behauptet.

„Doch, die hat mal hier gewohnt“, erinnerte sich die alte Dame.

Maggie strahlte sie an. „Oh, sehr gut! Können Sie uns da Genaueres erzählen? Dürfen wir hereinkommen?“

„Aber bitte sehr!“

Sie wurden in ein picobello aufgeräumtes Wohnzimmer mit falschen Biedermeiermöbeln geführt und setzten sich mit Frau Reuter, ihrer Gastgeberin, um den runden Tisch mit der Decke aus Klöppelspitze.

„Das ist aber schon bestimmt zwanzig Jahre her, dass die Frau Perfler hier gewohnt hat. Eine ganz junge Frau war das, sehr hübsch. Und immer recht elegant gekleidet. Die passte gar nicht so recht hierher.“ Sie lächelte fein. „Sie wollte wohl gerne etwas Besseres sein.“

„Haben Sie auch ihren Mann gekannt?“

„Ach ja. Der junge Herr Perfler… das war damals wirklich traurig. Er ist von einem Tag auf den anderen verschwunden! Dabei hatte er sich immer so bemüht, seiner jungen Frau jeden Wunsch von den Augen abzulesen, aber er hat wohl nicht genug verdient… ich bin sicher, sie wollte lieber in einer vornehmeren Gegend wohnen. Hier ist es ja schon ein bisschen – naja, bescheiden, gell?“

„Aber gemütlich“, beeilte Maggie sich zu widersprechen, was ihr ein Lächeln eintrug. „Was ist denn geschehen, nachdem der Herr Perfler verschwunden ist?“

„Mei, die Frau Perfler hat noch eine Zeitlang hier gewohnt und dann ist sie umgezogen – wohin, weiß ich auch nicht. Einmal hab ich sie noch gesehen, da war ich in der Stadt. Vielleicht ein Jahr, nachdem der Herr Perfler – äh – weg war. Da war sie recht schick. Ja, und sie hatte ein Tütchen in der Hand, von der Schloss-Parfümerie.“

„Und das konnten Sie sich merken? Toll!“, lobte Andi.

„Mei, die Schloss-Parfümerie ist recht teuer – und ich hab mir gedacht, sie muss gescheit Geld haben, wenn sie da einkauft. Das gleiche Zeug gibt´s doch viel günstiger in der Discount-Parfümerie! Sie hat mich auch gesehen – und ein bisserl verlegen gegrüßt und dann auf die Uhr geschaut, als hätte sie´s recht eilig – und dann war sie weg.“

Alter Trick, das mit der Uhr…

„Meinen Sie, die anderen Mieter wissen auch noch etwas über Frau Perfler?“

Kopfschütteln. „Die wohnen doch noch gar nicht so lange hier! Der Freddy in der Mitte ist erst seit drei Jahren hier, und die Frau Fischer links arbeitet ewig lang und wenn sie heimkommt, will sie ihre Ruhe. Die wohnt seit… 2012 oder so hier.

„Fünf Jahre…“

„Ja, oder fast sechs, das weiß ich nicht mehr so genau.“ Frau Reuter versank in Gedanken – und gerade, als Andi den Abschied einleiten wollte, sah sie wieder auf. „Sie ist – oder war – Skorpion, das hat sie mal erzählt. Hübsch war sie… naja, ob sie das heute noch ist? Der Zahn der Zeit, gell?“

„Wie groß war sie denn? Daran dürfte sich ja nicht so viel geändert haben.“

„Mei, einen Kopf größer als ich, tät ich sagen. Damals war ich allerdings selbst noch ein bisserl größer. Schätzen tät ich… eins zweiundsiebzig oder etwas mehr. Nicht viel mehr, gell?“

„Mittelgroß, Skorpion und gut aussehend. Wissen Sie, was sie beruflich gemacht hat?“, wollte Andi wissen.

„Gesagt hat sie nichts… vielleicht Sekretärin? Sie hat so ein bisserl nach einem nobleren Büro ausgeschaut. Aber das denk ich mir nur halt so…“

„Das könnte uns auch schon weiterhelfen, vielen Dank!“ Maggie lächelte zutraulich, sie fand die alte Dame einfach reizend.

„Nette Frau“, sagte sie dann auch draußen.

„Viel gewusst hat sie nicht – aber immerhin. Diese Claudia macht mir aber auch Spaß – hat sie noch nie etwas von Ummelden gehört? Und arbeitet die nichts mehr? Diese Daten sind doch heillos veraltet… der Perfler hat sich hier 1996 vom Acker gemacht, das sind mehr als zwanzig Jahre…“

„Vielleicht ist sie ihm nach Hamburg nachgereist“, schlug Maggie vor und ärgerte sich sofort über ihre eigene Dummheit: „Nee, Quatsch, dann wäre sie ja in Hamburg gemeldet. Ob sie ausgewandert ist? Du weißt schon, macht eine Kneipe auf Mallorca auf oder eine deutsche Bäckerei in New York?“

„So wie im Fernsehen?“, spottete Andi und schlug den Weg zum Präsidium ein. „Kneipe meinetwegen, sie konnte ja hoffen, prominent zu werden, das könnte zu ihrem Typ passen, wie Frau Reuter sie beschrieben hat. Aber Bäckerei? Maggie! Also ich stelle mir die Frau nicht mit Teig an den Fingern vor.“

„Ich eigentlich auch nicht“, gab Maggie zu. „Vielleicht ist sie auch tot?“

„Das vermute ich langsam auch. Zeugenschutzprogramm wird´s ja wohl nicht sein… in diesem Zusammenhang war von keinem Verbrechen die Rede, außer diesen albernen Unterschlagungen. Nicht gerade organisierte Kriminalität. Aber wir können bei Frieder nachfragen, ob ihm der Name etwas sagt.“

Frieder Jansen von der Abteilung O.K. schüttelte einige Minuten später bedauernd den Kopf. „Perfler? Nein, wüsste ich jetzt nicht… Wie bitte? Sechsundneunzig?? Da war ich ja noch in der Schule, Andi! Und du übrigens auch. Ich lass mal die Akten von damals durchsehen, der Kram ist ja aus Sicherheitsgründen nicht digitalisiert.“

Damit musste Andi sich zufrieden geben.

Skorpion… Skorpione hatten Ende Oktober, Anfang November Geburtstag, oder? Sechsundvierzig… Jahrgang 1971.

Er rief das Programm auf und gab Claudia Oktober 1971 ein. Toll, ungefähr zwanzig Treffer. Er las sich alles durch und seufzte. Vier waren mittlerweile schon tot – Drogen, Autounfälle, Krebs.

Drei andere saßen ein… nun, die konnte man nicht unbedingt ausschließen, wer sagte denn, dass Claudia Perfler nicht auf die schiefe Bahn geraten war? Andererseits hießen die Knastfrauen nicht Perfler, sondern Müller, Ofcek und Stadlbauer.

Blieben noch dreizehn, verstreut über die ganze Bundesrepublik und das angrenzende Ausland. Gott, wie mühsam…! Vielleicht hatte diese rätselhafte Person aber auch im November Geburtstag? Mit der Suchoption November kamen noch sechzehn neue Claudias dazu…

„Scheiße!“, verkündete er dann lautstark. Maggie hob den Kopf von ihrem eigenen Bildschirm und sah ihn fragend an.

„Zweiunddreißig Claudias, die Skorpion sein könnten – ich Trottel! Wann genau ist Skorpion?“

„Puh! Schätzungsweise vom zwanzigsten Oktober bis zum zwanzigsten November. Kannst du dann welche ausschließen?“

„Danke! Was täte ich ohne dich…“

Damit fielen tatsächlich sieben Claudias weg. Toll, noch fünfundzwanzig… Er schob die Tastatur ein Stück von sich. „Vielleicht habe ich ja Glück und in Perflers Wohnung findet sich ein uralter Geburtstagskalender?“

Maggie brummte ermutigend, starrte aber weiter auf ihren Bildschirm.

„Was schaust du gerade?“

„Was über Perfler noch so im Netz steht. Und mit wem er in der Zelle gesessen hat.“

„Sehr gut!“ Andi kopierte die Informationen in ein neues Dokument, wandelte das Ganze in eine Tabelle um und sortierte nach Geburtsdaten. Vielleicht half das später ja irgendwie weiter… bei seinem Glück wahrscheinlich nicht.

Ben und Liz hatten sich in einer eher kleinen und ausgesprochen seltsam geschnittenen Wohnung am Norderneyweg umgesehen und alles, was sie selbst und das übrige Durchsuchungsteam an Interessantem gefunden hatten, in einer großen Plastikwanne gesammelt.

Viel war es nicht, stellten sie schließlich fest. Kein Rechner, ein winziges Adressbuch, eine Handvoll Briefe, so gut wie keine Wertsachen, wenig Garderobe (diese allerdings von einigermaßen guter Qualität) und ein Firmenausweis von XAM!

„Ist das nicht eine total schicke Werbeagentur?“, fragte Ben leicht verblüfft. Liz bestätigte ihm das. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, was der da gemacht hat, er war doch kein Werbefuzzi? Was hat der gleich wieder gemacht, bevor er eingefahren ist?“

„Buchhalter, oder? Na, sowas braucht man ja wohl überall…“

„Würdest du einen vorbestraften Betrüger als Buchhalter einstellen?“

„Eher nicht. Vielleicht fegt er die Büros aus.“

„Superjob… naja, was macht er auch Schmu und lässt sich obendrein noch erwischen… Warum macht so einer sowas?“, überlegte Liz.

„Weil er Geld braucht und wie alle Gauner glaubt, dass man ihm nie draufkommt. War wohl nix.“

„Fragen wir bei XAM! Nach. Oder noch besser – lassen wir nachfragen. Der Kriminalrat ist doch mit dem Obermotz von XP befreundet, der kann sich ganz zwanglos erkundigen.“

„Und der Obermotz kennt auch den Ausfeger in einer seiner Unterfirmen?“ Ben war skeptisch.

„Nach dem, was Spengler erzählt hat, kennt der jeden. Na, und wenn nicht, weiß er doch, wo er sich erkundigen kann, oder?“

Dazu fiel Ben nichts mehr ein.

„Wieso hat der bloß keinen Rechner?“, überlegte Liz dafür, während sie den ganzen Kram so in der Wanne unterbrachten, dass er unterwegs so gut wie nicht verrutschen konnte.

„Zu arm?“

„Kann doch ein alter sein! Sowas kriegst du nachgeschmissen, du musst bloß rumfragen, wer einen neuen hat und den alten gerne los wäre…“

„Wie lange war der gleich wieder weg vom Fenster?“

„Fünf Jahre oder so? Davor gab´s auch schon Laptops und Smartphones.“

„Für einen Handyvertrag darfst du aber keinen Schufa-Eintrag haben…“

„Ach komm, jeder Hartzer hat doch ein Handy, und der Perfler hat sogar einen Job – gehabt. Da sind die wohl kaum so pingelig.“

„Meinetwegen. Vielleicht hat der, der ihn umgebracht hat, seine Hardware geklaut. Hatte er eigentlich einen Schlüssel in der Tasche?“

Liz stutzte und rief dann im Präsidium an.

„Schlüssel?“, fragte Andi. „Gute Frage… Maggie? Maggie sagt nein, sie hat die Liste vor der Nase. Kein Schlüssel. Gute Idee, ihr beiden!“

„Also kann gut jemand hier eingebrochen haben“, stellte Ben fest und sah sich um. „Keine Einbruchsspuren… logisch, wenn er einen Schlüssel hatte. Aber das Geld hat er nicht mitgenommen, denk an die vierzig Euro unter dem Glas auf dem Tisch.“

„War ihm vielleicht zu poplig?“

„Deshalb kann man es doch mitnehmen! Ein möglicherweise ältlicher Rechner und ein vielleicht auch nicht mehr ganz frisches Telefon sind doch auch nicht gerade solche Schnäppchen.“

„Du meinst, um Geld ging es nicht?“

„Könnte doch sein, oder? Aber warum dann?“

„Rechner weg, Telefon weg – Daten von jemandem?“

„Aber wir haben noch dieses kleine Adressbuch. Da könnte doch auch etwas Verräterisches drinstehen, die Nummer von dem, der ihn zu dieser Unterschlagung angestiftet hat oder so… warum hat der Dieb und Mörder das nicht auch eingesackt?“

Liz angelte das winzige Ding aus der Plastikwanne und besah es sich von allen Seiten. „Kann er es für etwas anderes gehalten haben? Mit diesem Pseudo-Lederumschlag?“

„Ich weiß es nicht. Es war unter einem Tischbein, vielleicht, damit der Tisch nicht wackelt.“

Liz schätzte die Grundfläche der Tischbeine ab und nickte. „Er hat es übersehen, weil es so klein ist. Komm, im Präsidium schauen wir es uns an, wenn die KT damit durch ist. Es schaut ja aus wie ein besseres Streichholzheftchen…“

Einer vom Durchsuchungsteam brachte noch eine Handvoll Briefe; Ben sah sie schnell durch und seufzte. „Telefonrechnung… Kontoauszug… Kreditangebot? Ist die Bank denn lebensmüde? Hier, schau dir den Kontoauszug an!“

Liz staunte pflichtgemäß: „Hui, das nenn ich aber mal überzogen! Wieviel hat er Dispo? Dreitausend? Und verdienen tut er - ach, geht ja eigentlich. Neunzehnhundert… dann kann er bei XAM! ja wohl nicht nur die Büros ausfegen. Wieso hat er so überzogen? Vier-drei im Minus, da müsste die Bank doch allmählich die Notbremse ziehen?“

 

Ben nahm ihr den Auszug wieder weg. „Ziemlich viel online eingekauft… Was sind das für Firmen, kennst du da was?“

Liz holte sich den Auszug zurück. „Only Bags… kenn ich. Vintage-Handtaschen, zum Teil Sammlerstücke.“

„Es gibt Leute, die Handtaschen sammeln?“ Ben schien fassungslos.

„Sammeln kann man doch alles! Taschen, Schuhe, Briefmarken, alte Handys…“

„Alte Handys kann man doch nur wegen der seltenen Metalle verkaufen?“

„Aber wenn ein Modell echt selten ist? Ist ja auch wurscht, jedenfalls hier sind es Handtaschen. Da kann eine schon mal bis zu fünfhundert Euro kosten. Die Überweisungsbeträge passen dazu. Brit Chic kenne ich nicht, aber der Name spricht ja für sich. Klamotten für den Landadel. Hui, einmal über achthundert? Ich schätze, zwei schicke Blazer oder ein richtig guter Trenchcoat. Mir wäre das zu teuer. Und Lord & Lady geht in die gleiche Richtung, denke ich. Insgesamt fast zweieinhalbtausend… ja, so geht es schnell mit dem Dispo.“

„Entweder hatte er eine teure Freundin oder er war Transvestit“, überlegte Ben. „Teure Freundin dürfte näher liegen, was meinst du?“

„Hast Recht. Außerdem hab ich im Schrank seine Schuhe gesehen, echte Kähne. In der Größe gibt es für Frauen nichts mehr. Und die feine Lady spielen, aber Turnschuhe in sechsundvierzig oder so tragen? Sähe doch bescheuert aus!“

„Also ein Mann mit bescheidenem Einkommen, vorbestraft. Und eine Freundin mit teurem Geschmack, die es auch schafft, sich entsprechend beschenken zu lassen.“

„Oder die Zugang zu seinem Konto hat“, wandte Liz ein.

Ben schnaubte. „Also, wenn eine das mit mir machen würde, wäre sie tot, nicht ich. Kannst du drauf wetten!“

Liz lachte. „Glaub ich dir. Wahrscheinlich war er wirklich ein gutmütiger Trottel… aber in der Wohnung haben wir doch nichts gefunden, was auf diese Frau hindeutet, oder?“

„Nichts. Es sei denn, es handelt sich um einen zierlicheren Freund mit kleinen Füßen, der auf Frauenkleider steht und die bei sich zu Hause hortet?“

„Hui – viele Zufälle, aber nicht auszuschließen.“

Sie fuhren ins Büro zurück und lieferten alles brav bei der KTU ab, bevor sie ihre vorläufig noch eher vagen Erkenntnisse an der Tafel festhielten.

„Ob das teure Wesen seine Frau ist? Aber warum ist die unauffindbar? Unter Claudia Perfler gibt es doch überhaupt niemanden! Und an Claudias allgemein mit Skorpion haben wir gleich fünfundzwanzig Stück. Eine Scheiße ist das…!“

Andi kam in den Teamraum. „Wem sagst du das! Habt ihr überhaupt was gefunden?“

Liz erklärte ihm kurz, welche Schlüsse sie gezogen hatten, und Andi nickte. „Naja, immerhin. In das Adressbuch reingeschaut habt ihr noch nicht?“

„Ist noch in der KTU. Wir dachten, Fingerabdrücke… DNA…“

„Hast du nicht eben gesagt, es ist ganz klein und klemmte unter einem Tischbein? Da werden es natürlich ganze Massen befingert haben!“

„Männo… ja,. Gut, ich hol´s zurück“, murrte Liz. „Hast ja Recht. Und vielleicht steht tatsächlich etwas Brauchbares drin…“ Sie verließ den Teamraum.

Maggie sah auf. „Perfler hat doch nicht hier, sondern in Hamburg eingesessen. Schöne Scheiße. Und sein Zellengenosse war die ganze Zeit der gleiche, ein Olaf Jensen. Echter Hamburger, dem Namen nach… oh, ein Anlagebetrüger! Na, dann konnten die sich ja schön über neue Tricks austauschen. Ach, so ein Mist!“

„Was denn?“, fragte Andi abgelenkt.

„Der Jensen ist zwei Wochen vor Perfler rausgekommen und sofort vor einen Laster gelaufen. Ob das Zufall ist?“

„Das sollen aber wirklich die Hamburger machen!“, wehrte Andi sofort ab, der mittlerweile vor der Tafel stand und den lückenhaften Bericht über die Perflersche Ehe studierte, „Was geht es uns an. Vielleicht hat ihn einer umgefahren, den er abgezockt hat. Aber mit dem Perfler hat das wohl nichts zu tun. So abgefeimt war der ja gar nicht, sonst hätten sie ihn wohl kaum sofort erwischt. Wo zum Henker ist seine Frau hingeraten?“

„Vielleicht ist sie auch schon tot?“, schlug Maggie vor. „Soll ich mal schauen?“

„Ist sie nicht. Was glaubst du, was ich vorhin gemacht habe? Es gibt in der ganzen Zeit nur vier unbekannte weibliche Leichen, davon ist eine höchstens siebzehn gewesen und eine andere aber garantiert über achtzig.“

„Und die anderen beiden?“, deutete Maggie die Kunstpause richtig.

Andi grinste. „Die eine ist im richtigen Alter, aber eindeutig afrikanischer Abstammung – und die letzte hatte einen britischen Pass bei sich, bei dem allerdings die Seite mit dem Namen ziemlich zerfressen war.“

„Aber über die Passnummer kann man doch rauskriegen, wer das war?“

„Wurde offenbar versucht, aber die Briten haben die Anfrage nicht beantwortet. Jedenfalls wüsste ich nicht, wie Claudia Perfler an einen britischen Pass hätte kommen sollen.“

„Vielleicht war es gar nicht ihrer, sondern sie hatte ihn nur geklaut?“, schlug Ben vor, was aber niemand beachtete.

„Keine bekannten Leichen, keine unbekannten Leichen… also lebt sie noch“, sinnierte Maggie.

„Sag bloß!“ Ben ärgerte sich noch darüber, dass man eben auf seinen Vorschlag gar nicht reagiert hatte.

„Und damit ist sie eine von fünfundzwanzig“, stöhnte Andi.

„Wieviele von diesen Claudias leben denn überhaupt in Leisenberg?“, fragte Maggie. „Vielleicht hat sie sich ja nie von hier wegbewegt… der Mann war ja in Hamburg und störte nicht weiter.“

„Hm…“ Andi gab als Wohnort Leisenberg in die Suchmaske ein und stellte fest, dass die Trefferanzahl auf sieben gesunken war. Immerhin!

Eine war Verkäuferin bei Meyer & Reiter, eine so etwas wie eine Dame der Gesellschaft (feinstes Waldstetten), eine war Lehrerin an der Grundschule in Mönchberg, eine andere Rechtsanwältin. Die fünfte war Pferdewirtin bei einem Gestüt hinter Rothenwald, wohnte aber in Selling… aha? Nummer sechs war mit einem Bestattungsunternehmer verheiratet und die siebte Claudia hatte eine Adresse im Univiertel und war Kunsthistorikerin.

Andi druckte die Liste aus und pinnte sie an die Wand neben dem Whiteboard. Maggie gesellte sich zu ihm. „Ich wette auf die Verkäuferin.“

„Warum?“

„Na, diese Claudia Perfler war doch Sekretärin, oder? Die anderen sind alles Studierte.“

Ben war immer noch auf dem Kriegspfad: „Die Pferdewirtin und die Totengräbersgattin müssen auch nicht studiert haben. Und eine Dame der Gesellschaft kann vorher auch im Nagelstudio gejobbt haben.“

Andi grinste und Maggie fragte sofort: „Woher kennst du dich in Nagelstudios so gut aus?“

„Pures Klischee. Ich tippe auf die Totengräbersgattin. Warum sollte diese Claudia nicht wieder geheiratet haben?“

„Hauptsächlich, weil ich nichts über eine Scheidung der Perflers finden kann. Glaubt ihr etwa, sie ist Bigamistin?“

„Vielleicht hat sie die Scheidung eingereicht?“

„Aber er hätte doch einbezogen werden müssen, und dann wäre das hier vermerkt! Nein, die Gattinnen müssen wir streichen, egal, ob Totengräber oder reicher Mann. Sie kann nicht verheiratet sein.“

Liz war wieder hereingekommen. „Also, wenn mir mein nicht so besonders erfolgreicher Gatte durch die Lappen gegangen wäre, weiß ich ja nicht, ob ich nicht einfach so tun würde, als sei er tot. Und jemand Besseren heiraten.“

Maggie grinste sie an. „Ja, klasse Idee. Und dann taucht der erste Mann irgendwann wieder auf und zockt dich ab. Ein Leben lang.“

„Dann schaff ich ihn aus dem Weg. Wer vermisst den schon…“

„Wird das ein Geständnis, Liz? Da tun sich ja Abgründe auf!“ Andi feixte. „Aber ich fürchte, wir müssen realistisch bleiben. Also, was steht im Adressbuch?“

Liz setzte sich umständlich zurecht und musterte ihr Auditorium, ob auch alle ordentlich zuhörten.

„Fang schon an!“

„Die haben es schon gecheckt, waren eh keine Fingerabdrücke drauf und auch sonst nichts. Also, es gibt nur vier Adressen…“

„Liz!!“ Andi klang ernsthaft sauer.

„Schon gut. Es gibt eine Claudia, aber ohne Nachnamen. Allerdings mit Telefonnummer. Möchtest du da mal anrufen, Andi?“