Lehrwerksintegrierte Lernvideos als innovatives Unterrichtsmedium im fremdsprachlichen Anfangsunterricht (Französisch/Spanisch)

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5 Kompetenzerwerb durch Lernvideos: Diskursfähigkeit, Medienkompetenz und Differenzierungsmöglichkeiten

Lernvideos leisten in vielerlei Hinsicht einen Beitrag zum fremdsprachlichen Kompetenzerwerb. Ausgehend von den curricularen Forderungen nach einem integrierten Hör-Seh-Verstehen als Teilfertigkeit des Sprachlernprozesses ermöglichen sie eine einzigartige Bündelung von Kompetenzen, deren Zusammenspiel die Ausbildung fremdsprachlicher Diskurs- und Handlungsfähigkeit begünstigt. Letztere umfasst neben funktional-kommunikativen, transkulturellen und Sprachlernkompetenzen auch Sprachbewusstsein und Medienkompetenz. Im Sinne einer individuellen Förderung, die den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Bedürfnissen der Schüler gerecht wird, sollten beim Einsatz von Lernvideos zusätzlich Strategien zu Gunsten eines differenzierten Kompetenzerwerbs herangezogen werden.

Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung verschiedener Hör-Seh-Beispiele zeigt dieses Kapitel auf, inwiefern Lernvideos den Erwerb der zuvor genannten Kompetenzen unterstützen können. Neben Förderungsmöglichkeiten zur Schulung funktional-kommunikativer Fertigkeiten soll deren Potential als Wegbereiter für transkulturelle Kompetenzen sowie Sprachlernkompetenz, Sprachbewusstheit und Medienkompetenz vorgestellt werden, sodass abschließend auf Szenarien eines differenzierten Kompetenzerwerbs eingegangen werden kann.

5.1 Förderung funktional-kommunikativer Kompetenzen durch Lernvideos

Lernvideos haben ein hohes Kommunikationspotential. In Ergänzung zu textbasiertem Lehrmaterial sind sie integraler Bestandteil der Fremdsprachenvermittlung. Zu den Unterrichtszielen zählt jedoch nicht nur das erfolgreiche Decodieren und Interpretieren eines audiovisuellen Inputs. Entscheidend ist, dass der Lerner neben der Anwendung diverser Strategien zur Bildentschlüsselung auch in der Lage ist, auf der Basis des audiovisuellen Inhalts auf unterschiedlichen Ebenen zu interagieren. Dies betrifft insbesondere die Fähigkeit, andere – mündlich, schriftlich oder darstellerisch – am eigenen Hör-Seh-Verstehen teilhaben zu lassen und miteinzubeziehen.

Die kommunikative Kompetenz umfasst mehrere Teilfertigkeiten und ist in diesem Zusammenhang „eng mit dem Erwerb und der Verfügbarkeit von grundlegenden sprachlichen Mitteln verbunden: Wortschatz, Grammatik, Orthographie, Aussprache und Intonation“ (HKM 2011, 16). Wie im Folgenden veranschaulicht wird, besteht eine enge Verbindung zwischen produktiven und rezeptiven Aufgabentypen der Hör-Seh-Verstehensschulung. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sich deren Entwicklung gegenseitig beeinflusst und unterstützt.

5.1.1 Rezeptive Kompetenzen

„Das Verhältnis gesprochener zu geschriebener Sprache [beträgt] in der täglichen Kommunikation […] 95 % zu 5 %“ (Thaler 2007b, 12; cf. Kieweg 2000, 5). Inwieweit diese Pauschalisierung zutrifft, sei allerdings offen gelassen, da nicht alle Sprachen über eine autonome Verschriftlichung verfügen.1 Dennoch unterstreicht das Zitat die Wichtigkeit der gesprochenen Sprache und somit die Funktion des Hörens als notwendige Bedingung für sprachliche Interaktionen und als Teil des sozialen Handelns.

Audiovisuelle Medien bieten einen sehr guten Zugriff auf authentische und unverfälschte Aussprache, weil sie diverse Register und Varietäten der Zielsprache präsentieren. Für Fremdsprachenlernende ist insbesondere das Kennenlernen von Phänomenen der gesprochenen Sprache (code parlé) von großer Bedeutung. Gerade im Französischen aber auch im Spanischen kommt es im Alltag immer wieder zu Äußerungen, die von der standardisierten Schriftsprache abweichen. Hierbei handelt es sich um teilweise erhebliche Differenzen auf lexikalischer und grammatischer Ebene, um Ellipsen oder Versprecher. Mit Hilfe von Lernvideos können Lernende in ihrem Sprachbewusstsein für eben diese sprachlichen Besonderheiten sensibilisiert werden.2 „Wird dieser Typ von Sprache nicht vermittelt, dann schränkt dies auch das Verstehen […] ein“ (Meißner 2001, 361). Der Sprachlerneffekt ist insofern gegeben, als Lerner darauf vorbereitet werden, spezifische Merkmale der Alltagssprache zu verstehen. Dies wirkt sich wiederum positiv auf ihre sprachliche Kommunikations- und Handlungsfähigkeit aus und ist von hoher transkultureller Bedeutung (cf. Reimann 2011, 124).

Die Schulung verschiedener Varietäten und Sprachregister umfasst natürlich auch den systematischen Aufbau einer allgemeinen Hörverstehenskompetenz. In Anlehnung an das zu Grunde liegende Lernziel und Material empfiehlt es sich, zwischen selektivem, Detail- und Globalverstehen zu unterscheiden. Dementsprechend variieren auch die zugehörigen Aufgabentypen zwischen Lückentexten, richtig/falsch-Aufgaben, oder dem globalen Erfassen der Gesamtsituation. An dieser Stelle ist auch denkbar, dass die Bildspur ausgeblendet wird oder Geräuschen Sinn verliehen wird. Ein klassisches Beispiel ist das Hineinfühlen und Vertrautmachen mit (Film-)Musik: Nur ein kurzer Ausschnitt genügt, um Gefühle zu wecken, Assoziationen herzustellen oder Vermutungen über den Film anzustellen.

Gleichermaßen haben bestimmte Äußerungen von Schauspielern aufgrund von Übertreibungen oftmals einen besonders einprägsamen Charakter, der zum Nachahmen einlädt und daher besonders stimulierend und einprägsam ist.

Gesellt sich zum Hören noch das Sehen, kommt zur authentischen Sprache die beobachtbare Handlung dazu, paralinguistische Handlungsmerkmale werden sichtbar, aus den disembodied voices werden beobachtbare native-speakers, landeskundliche Elemente werden seh-/einseh-/verstehbar, Bilder können genauere Informationen liefern, visuelle Markierungen fungieren als Erinnerungshilfe, der Weltausschnitt erweitert sich, Lernen wird einsichtiger und motivierender (Thaler 2007b, 12).

Um den Umgang, d.h. die Decodierung und Identifikation der soeben beschriebenen chaîne parlée visualisée zu schulen, empfiehlt es sich, die Aufmerksamkeit phasenweise entweder auf das Hör- oder Sehverstehen zu legen. Hintergrund ist der, dass das gezielte Ausblenden der Bildspur zu einer erhöhten Konzentration bei der Hörverstehensleistung führen kann. Umgekehrt trägt das Ausblenden der Tonspur zu einer Schärfung des Sehvermögens bei. Voraussetzung ist in beiden Fällen natürlich eine geeignete Aufgabenstellung sowie eine für diesen Übungstyp geeignete Filmszene. Um dies zu gewährleisten, greift das Lehrwerk bzw. das zugehörige Übungsheft in der Regel auf konkrete Beobachtungsaufgaben zurück, die diverse Kategorien betreffen und mithilfe vorgegebener Raster oder Zuordnungsübungen gelöst werden können. Trotz des zuletzt aufgeführten Beispiels werden die Teilfertigkeiten Hör- bzw. Sehverstehen nur in Einzelfällen isoliert berücksichtigt. So genießt vor allem die alleinige Schulung des Sehverstehens einen Ausnahmestatus (e.g. Lernvideo Minotauromaquia – Pablo no laberinto von Juan Pablo Etcheverry in Rutas). Die Regel ist stattdessen ein kombiniertes Hör-Seh-Verstehen, welches als Ausgangspunkt für anknüpfende Aufgaben fungiert.

Obgleich die Kompetenz des Sehverstehens bislang nur vereinzelt Beachtung durch lernvideobezogene Aufgabentypen findet, obliegt dem Medium ein unvergleichbares Potential hinsichtlich dessen Schulung. Dieses Potential wird umso deutlicher, wenn man das von Reimann vorgeschlagene integrative Modell des Sehverstehens auf Lernvideos überträgt.3 Demnach vermag der Einsatz von Lernvideos die Sphären des interkulturellen und des analytisch-interpretatorischen Sehverstehens zusammenzuführen. Infolgedessen öffnet sich der Fremdsprachenunterricht für neue, bislang vernachlässigte Dimensionen des Sehver­stehens, die sich von der visuell-nonverbalen Ebene, dem konversationellen Kontext und künstlerisch-modellierten, kulturgebundenen Visualisierungs- und Deutungskonventionen über statische und bewegte Bilder bis hin zur Diskontinuität von Texten (Lese-Seh-Verstehen) erstrecken (cf. Reimann 2014b, 213sqq.; 2016, 26sqq.).

Diese und weitere rezeptiv angelegte Übungsdimensionen ergeben sich sowohl durch eine intensive Rezeptionsschulung als auch durch die Arbeit mit ausgewählten Zusatzmaterialien. Letztere stehen mit dem Erwerb der Lernvideos zur Verfügung und gestatten beispielsweise einen Blick hinter die Kulissen des Filmdrehs. Des Weiteren können, abgesehen von Untertiteln, die dazugehörigen Transkripte zur vertieften Textarbeit herangezogen werden. Im Falle authentischer Beiträge eignet sich darüber hinaus die Arbeit mit Filmkritiken oder Sachtexten, die Hintergrundinformationen zum behandelten Thema enthalten (cf. Veneman 2012, 3). Auf diese Weise tritt auf der Basis des Hör-Seh-Verstehens die Förderung des Leseverstehens und anderer Fertigkeiten in den Vordergrund des Sprachlernprozesses.

5.1.2 Produktive Kompetenzen

Gemäß den in den frühen 1970er Jahren formulierten Prinzipien des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts (cf. Kap. 2.2) können die während der Rezeption gewonnenen audiovisuellen Eindrücke für eine Vielzahl an Sprech- und Schreibanlässen genutzt werden. Der Stimulus zur Kommunikation ist bereits in den Phasen vor und während dem Sehen gegeben, da sowohl sprachliches als auch thematisches Vorwissen und Wortschatz aktiviert werden.

Produktive Kompetenzen wie etwa Sprechen, Schreiben, Schauspielern oder Sprachmittlung finden in der Regel während oder nach der Filmarbeit Anwendung. Ein Grund hierfür ist, dass der Rückgriff auf zuvor Gesehenes Mutmaßungen über das weitere Geschehen erlaubt. Das bedeutet konkret, dass beispielsweise Handlungen antizipiert und Charaktere beschrieben werden können. Des Weiteren kann der Schluss des Lernvideos durch Schülerhand verändert oder bei offenem Ende selbst gestaltet werden. Gerade Lernvideos mit offenem Ende (cf. A+ Nouvelle édition (1) – Unité 7, p.65 ex.9, Track 30) erleichtern die Kommunikation im Unterricht, da sie den Lernenden Interpretationsräume eröffnen, „bei denen es kein richtig oder falsch gibt“ (Schrader 2007, 18). Die mitunter fragmentarisch dargestellten Merkmale von Gegenständen, Personen oder Ereignissen wirken auf den Betrachter reizvoll und werden zur Herausforderung, die fehlenden Fragmente zu ergänzen und zu diskutieren. Dieses natürliche Ergänzungsprinzip kann dann im Unterricht als Impuls zum freien Sprechen genutzt werden (cf. ibid. 18sq.). Etwaige offene Formate stellen bei Lernvideos bisher allerdings die Ausnahme dar.

 

Im Hinblick auf Sprech- und Schreibanlässe verfügen insbesondere Standbilder über großes Potential. Sie können beschrieben, gedeutet und versprachlicht werden und laden zur Interpretation und Assoziation von Geschichten ein (cf. Rössler 2007, 18). Standbilder sind entweder im Rahmen des Zusatzmaterials des Lernvideos vorhanden oder können durch die Pause-Taste des DVD-Players hervorgerufen bzw. durch eine einfache Tastenkombination (Mac: CMD + SHIFT + 3; Windows XP: ALT + DRUCK) als Screenshot erstellt und gespeichert werden. An dieser Stelle ist jedoch zu beachten, dass die Mehrheit aller Lernvideos einem Kopierschutz unterliegt, weshalb die Erzeugung eines Screenshots nur in wenigen Fällen gelingt.

Eine weitere Möglichkeit ist es, sowohl bei Standbildern als auch bei längeren Sequenzen Dialoge zu verfassen oder aber (bei ausgeblendeter Tonspur) einen Sprecherkommentar zum Film zu entwerfen. In diesem Kontext bietet es sich an, dass sich die Lernenden in die Rolle einer der gezeigten Figuren hineinversetzen und das Erlebte aus deren Perspektive berichten. Das aus einem dieser kreativen Ansätze entstandene Produkt kann dann schauspielerisch von den Schülern inszeniert und im Plenum vorgestellt werden. Ähnlich wie bei der Arbeit mit Spielfilmen ist es bei manchen Lernvideos zudem möglich, Handlungsalternativen zu überlegen oder das Filmgeschehen auf eine parallele Situation aus der eigenen Lebenswelt zu übertragen.

In manchen Fällen ist es denkbar, Lernvideos zur Sprachmittlung zu nutzen. Vor allem schwierige Textpassagen können unter Rückgriff auf die Muttersprache verständlich gemacht werden. In Ergänzung zu inhaltlichen Zusammenfassungen bietet es sich an, Lernende sowohl in der Mutter- als auch in der Fremdsprache Untertitel entwerfen zu lassen und diese mit dem Originalton zu vergleichen. Im Hinblick auf Sprachmittlung können ebenso Artikel und Informationen zu den Darstellern wie auch dem Thema des Lernvideos herangezogen und in die Zielsprache übersetzt werden (cf. Veneman 2012, 4sq.).

Schließlich dienen einige der Hör-Seh-Übungen auch dazu, lektionsspezifische grammatikalische Phänomene oder Vokabular einzuüben und zu vertiefen. Dies geschieht in der Regel im Rahmen der oben genannten Übungsformen, indem Hör-Seh-Aufträge in Form von Beobachtungs-, Lücken-, Kreativ- oder Transferaufgaben weiterverarbeitet und mit lektionsspezifischen Inhalten in Verbindung gebracht werden.

5.2 Transkulturelle Kompetenzen

Angesichts der das 21. Jahrhundert charakterisierenden Globalisierung, der weltweiten Mobilität und des stärker zusammenwachsenden Europas steht der fremdsprachliche Unterricht aktuell vor der Herausforderung, Schüler zusätzlich zu der Ausbildung rein sprachlicher Qualifikationen für den stetig intensiver werdenden Kontakt und Austausch mit anderen Kulturen zu sensibilisieren.

Durch die Entstehung dieses neuen Lernkontextes ist die Institution Schule unter Rückgriff auf den jeweils geltenden Lehrplan darum bemüht, Lernenden einen Einblick in andere Kulturkreise zu gewähren. Dies geschieht durch den Einsatz von Medien, Methoden und Inhalten und ermöglicht „die Vermittlung von Sprache und Landeskunde [als] […] Voraussetzung interkultureller und transnationaler Kommunikationsfähigkeit“ (Hervorhebung im Original) (HKM 2010b, 2).

Laut dem Modell nach Reimann (2011, 136sq.) setzt sich transkulturelle Kompetenz aus zwei Dimensionen zusammen, die er wie folgt definiert:

zum einen, im eher etymologischen Sinn, als eine […] Kompetenz, welche, in Vervollkommnung interkultureller Kompetenz, über die im Fremdverstehen begründete Toleranz derselben hinaus idealtypisch zu einer Überwindung kommunikativer Grenzen oder Barrieren zwischen zwei oder mehreren konkreten Sprach- und Kulturräumen führt […], wobei diese durchaus als different gedacht werden. Zum anderen ergibt sich die Notwendigkeit transkultureller Kompetenz aus der nicht mehr zu verleugnenden permanenten Verflechtung verschiedenster Kulturen in einer globalisierten Welt, welche zur Integration idealerweise weltweiter – mehr als nur homogen gedachter, einzelne Sprach- und Kulturräume betreffender – kommunikativer Bedürfnisse, Handlungen und Kompetenzen führt.

Visuelle Kompetenz ist in diesem Sinne ein wesentlicher Bestandteil transkulturellen Lernens: Sie ist kulturgebunden, denn Bilder (ent-)stehen in direktem Zusammenhang mit den Konventionen eines Landes. Folglich variiert auch deren Bedeutung und Interpretation gemäß dem ihnen zu Grunde liegenden kulturellen Kontext.

Bedingt durch die Diversität kultureller Darstellungskonventionen müssen Schüler lernen, Bilder über ihren eigenen kulturellen und sozialen Kontext hinaus zu verstehen und zu deuten. Neben Darstellungskonventionen geht es „darum, […] Mitteilungsabsichten und Perspektiven der eigenen und fremder visueller Kulturen zu erkennen, zu vergleichen und zu entschlüsseln“ (Lüning 2014, 7).

Das Erkennen und Deuten eigener kulturspezifischer Zeichen ist ein selbstverständlicher und meist unbewusster Teil unserer Alltagskommunikation. So wissen wir beispielsweise, dass wir bei der Suche nach einer Apotheke in Deutschland nach einem großen roten gotischen „A“ mit einem weißen Arzneikelch und Schlange Ausschau halten müssen (cf. Abb. 15). In Spanien und Frankreich besteht das Apothekenlogo hingegen aus einem grünen, meist blin­kenden Kreuz (cf. Abb. 16).1


Abb. 15: Apothekenzeichen Deutschland (N.N., Deutsche Apotheke Logo, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Deutsche_Apotheke_Logo.svg&filetimestamp=20091019203939, 14.6.2013)

Abb. 16: Apothekenzeichen Spanien/Frankreich (Arte 2013, http://www.arte.tv/sites/de/derblogger/2013/01/27/medikamente-ohne-grenzen/, 14.6.2013)

Das triviale Beispiel des international divergierenden Apothekenlogos macht deutlich, wie wichtig es ist, „die Nachbarkulturen wissend und hörsehend zu verstehen […], wenn wir den Anspruch interkultureller Kommunikationsfähigkeit auf hohem Niveau ernst nehmen“ (Meißner 2003, 67). Da dies ein langer Prozess ist, ist es umso bedeutender, im Rahmen der schulischen Hör-Seh-Verstehensschulung von Anfang an für kulturspezifische Symbole, Praktiken und Verhaltensmuster zu sensibilisieren. In den Lernvideos von A+ Nouvelle édition und Déc série jaune wird das hörsehende Entdecken fremdkultureller Codes bereits ab dem ersten Lernjahr (visuell) aufgegriffen. Dabei handelt es sich neben dem zuvor besprochenen Beispiel des Apothekenlogos etwa um die traditionelle Begrüßung mit bises (cf. Abb. 17) oder aber um das in Frankreich allgegenwärtige und meistverkaufte Schreibpapier Réglure Seyès. Dieses ist aufgrund seiner besonderen Lineatur in allen Schulfächern einsetzbar und entsprechend beliebt (cf. Abb. 18).


Abb. 17: Begrüßung mit bises (Mann-Grabowski/Gregor 2012) © Cornelsen Verlag GmbH, Berlin


Abb. 18: Réglure Seyès – das wohl bekannteste Schreibpapier Frankreichs (Brenneisen et al. 2012b) © Ernst Klett Verlag GmbH

Im Fall des Spanischen ist für deutsche Schüler besonders interessant zu entdecken, dass Klingel und Briefkasten nicht wie in Deutschland üblich mit dem Familien- oder Nachname beschriftet sind. Stattdessen sind die Wohnungen jeder Etage durchnummeriert und hinsichtlich ihrer Lage präzisiert. I steht folglich für Izquierda (dtsch. links) und D für Derecha (dtsch. rechts). Eine Wohnung im zweiten Stock links ist demnach als 2°I beschriftet (cf. Abb. 19).


Abb. 19: Klingelschilder in Spanien (N.N. 2011. Video-DVD. Encuentros 1. Edición 3000) © Cornelsen Verlag GmbH, Berlin

Das Rätsel um die Beschriftung von Klingelschildern in Spanien ist nur eine vieler Recherchemöglichkeiten. Denn abgesehen von dem Anfangsunterricht veranschaulichen auch Lernvideos höherer Lernjahre kulturspezifische Phänomene. Zwar werden diese – wie im Fall der Badekappenpflicht in Frankreich – nicht immer explizit thematisiert, stoßen jedoch in das Auge des Betrachters und laden zur Kommunikation ein (cf. Abb. 20).


Abb. 20: Badekappenpflicht in Frankreich (Schenk 2006) © Cornelsen Verlag GmbH, Berlin

Stimuliert durch die realitätsnahe Darstellung spezifischer (fremd-)kultureller Phänomene, laden Lernvideos zum entdeckenden wie auch zum situativ- und kontextbezogenen Lernen ein. Unter diesem Aspekt geben gerade die seit 2012 publizierten Lernvideos oftmals realistische Einblicke in Lehrwerksschauplätze und ermöglichen so eine hör-sehende Annäherung an das Zielsprachenland, die sowohl aktuelle als auch historische Wirklichkeiten widerspiegelt. Das Hör-Seh-Verstehen gewinnt somit an enormer Bedeutung für das transkulturelle Lernen (cf. Hu/Leupold 2008, 58).

„Gerade im Bereich der Förderung der soziokulturellen Kompetenz [muss betont werden, dass] Filme den Lernenden weitgehend mehr Anregungen und Anschauungsmaterial [liefern] als nahezu jeder Lehrbuchtext oder jedes Lehrbuchillustrationsmaterial“ (Chudak 2010, 75). Trotzdem unterliegen Lernvideos und audiovisuellen Medien im Allgemeinen gewisse Grenzen, derer sich der Rezipient bewusst sein muss. Denn ungeachtet der Darstellung sprachlicher und visueller Aspekte des Zielsprachenlands bietet

ein Medium immer nur ein Abbild der Realität […] und dies ist lückenhaft und selektiv. Das Medium bringt nur einen Ausschnitt, wählt eine Perspektive, löscht Dimensionen, verschweigt Kontexte, ändert Informationskanäle, erweckt den Eindruck der Vollständigkeit, bleibt aber unvollständig und bis zu einem gewissen Grad irreführend (Beile 1991, 263).

Ungeachtet der Lückenhaftigkeit und des ausschnitthaften Charakters von Lernvideos muss betont werden, dass es Lernvideos wie keinem anderen Medium gelingt, realitätsnahe Einblicke in das Land, die Sprache und die Kultur des jeweiligen Ziellandes zu gewähren. Dies gilt neben der Fokussierung europäischer Länder wie Spanien und Frankreich insbesondere für die Vermittlung transkultureller Phänomene und Wirklichkeiten des hispano- und frankophonen Raums. Diese zu thematisieren und im Rahmen des Unterrichts zumindest audiovisuell erfahrbar zu machen, ist eine bemerkenswerte Stärke von Lernvideos. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Horizonterweiterung von Lernenden.

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