Die Wiedergutwerdung der Deutschen

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Der hilflose Antisemitismus
Anmerkungen zu seiner Hamburger Verübung

Alle Jahre wieder. Wie die unvermeidlichen Feiertage, wie Ostern und Weihnachten, so gehören seit vielen Jahren regelmäßig wiederkehrende Rituale auch zum linken Kalenderjahr. Ein besonders fester Termin darin ist die jährliche Verabredung zu einer rhetorischen Fragestunde mit dem Thema: Gibt es linken Antisemitismus? Diese Fragestunde hat inzwischen eine über zwei Jahrzehnte reichende Tradition aufzuweisen, doch die ewigen Studenten sind der Frage noch immer nicht auf den Grund gekommen. Die Referenten bei den jährlichen Hauptversammlungen linker Gewissenserforschung sind so seltsam alterslos, wie ihr Thema zeitlos ist. Das Publikum wechselt von Zeit zu Zeit, doch das Podium trifft sich immer wieder. Es wirkt in einer unendlichen Geschichte mit, deren identische Fortsetzungskapitel sich allein durch den Namen des Schauplatzes unterscheiden. Mal ist es die Heimvolkshochschule Göppingen, mal die Evangelische Akademie in Arnoldshain, dann die Universität einer Großstadt oder irgendein Sozialistisches Zentrum in irgendeiner nichtsozialistischen Kleinstadt.

In diesem Jahr tagte man in Hamburg. Dort wollten sich die linken Lehrer der alten Frage neu stellen. »Antisemitismus oder berechtigte Kritik an Israel?« lautete die schon sprachlich verunglückte Variation des Dauerthemas, mit der die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Ende Oktober 1992 in Hamburg zur jährlichen Selbsterkundung aufforderte. Zwar wären vor der eigenen Haustür genügend Anlässe vorhanden gewesen, sich mit Antisemitismus zu befassen, doch bevor man sich damit abgab, musste erst die linke Gretchenfrage beantwortet werden. Um den Ernst und die Wichtigkeit der ganzen Sache zu begreifen, stelle man sich vor, ein Verein alternativer Pharmakologen stellte seine Jahrestagung unter die Frage: »Grüner Schnupfen?«

Doch auch in Hamburg wollte man sich in der Tradi­tion des linken Rituals nur wechselseitig versichern, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Dabei weiß jeder, dass es Linke gibt, die ihre Frau verprügeln oder ihre Kinder quälen, dass sie, wenn möglich, die Arbeitskraft anderer ausbeuten; dass Linke gelegentlich ihre Freunde an Geheimdienste verraten und sie manchmal sogar umbringen. Warum in aller Welt sollte es deshalb nicht auch linke Antisemiten geben?

Das Thema der Gewerkschaftsveranstaltung war aber nicht in diese schon hundertfach beantwortete Frage gekleidet. Es hieß »Antisemitismus oder berechtigte Kritik an Israel?« Schon die Formulierung verriet die Konfu­sion, oder vielmehr die verdrückte, verschämte Absicht. Denn logisch kann das Bindewort »oder«, das eine Alternative ankündigt, kein Fragezeichen nach sich ziehen. Standen die Lehrer also vor der Wahl, sich für Antisemitismus oder Kritik zu entscheiden?

Doch mit der Frage war auch schon die Antwort angedeutet. Das Beiwort »berechtigt« sollte, was sich für Kritik hielt, moralisch salvieren und gegen den Einwand, es gehe vielleicht antisemitisch dabei zu, unanfechtbar machen. Kritik freilich bedarf keiner Berechtigung. Wenn sie sich diese eigens bestätigt, hat sie sich bereits dementiert und in Gesinnung verwandelt. Kritik kann jeder an jedem und können alle an allem üben, selbstverständlich auch an Israel. Doch wie in zahllosen vorausgegangenen Diskussionen war es auch in Hamburg nicht Kritik, sondern der Oberton konformierender Empörung, der die Debatte um die rhetorische Frage bestimmte. So unbeholfen sich diese Gesinnung hinter dem verquasten Titel der Veranstaltung versteckte, so unverfroren und direkt kam sie in einer Forderung zum Ausdruck, welche von einer »Arbeitsgruppe Palästina im Friedensausschuss« formuliert worden war: »Nur wenn wir uns kritisch mit Israel auseinandersetzen, können wir glaubhaft im Unterricht latentem Antisemitismus entgegentreten.« Unabhängig von allem anderen Unfug dieses Satzes könnte man seiner Logik zufolge rassistischen Attacken gegen farbige Asylsuchende nur dann glaubhaft entgegentreten, wenn man vorher Südafrika oder noch besser die USA kritisiert hat. Was Leute, die derlei formulieren, glaubhaft bestimmt nicht können, das ist: begründungslos, einfach als Gattungswesen dem Rassismus entgegentreten. Ohne böse Juden kein gutes deutsches Gewissen. Unmittelbarer Anlass jener pädagogischen Behauptung wie der Gewerkschaftsveranstaltung war der Ärger, den ein längeres Interview der Hamburger Lehrerzeitung mit Ralph Giordano ausgelöst hatte. Die Lehrer lamentierten: »Giordano denunziert linke und pazifistische Kritiker Israels, ohne diese Personengruppe näher zu kennzeichnen.« Dieses Versäumnis Giordanos sei hier mit einer genauen Kennzeichnung dieser Personengruppe nachgeholt: es handelt sich beispielsweise um die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Hamburg.

Die innige Verbindung, die Ehrbarkeit und Ressentiment in der besonderen Empörung über Israels Politik längst eingegangen sind, demonstrierte hier Norman Paech, ein Hochschullehrer aus Hamburg. Er lehrt öffentliches Recht, Staats- und Völkerrecht und gelegentlich andere Menschen das Fürchten, indem er Hamburger Lehrern die rechtsradikale Propaganda von der Schuld der Juden am Antisemitismus in leicht entschärfter Form empfiehlt: für ihn sind Juden am Hass auf sie nur mitschuldig. Die Grünen waren vor einem Jahr noch etwas bescheidener, für sie trug Israel die Mitschuld daran, dass es mit irakischen Raketen beschossen wurde.

In der Hamburger Lehrerzeitung teilte Professor Paech seinen Kollegen in der GEW mit: »Israel muss sich allerdings in der Tat fragen, ob seine Palästina-Politik nicht einem latenten Antisemitismus in Deutschland Nahrung gibt – und dem können wir nicht entgegensteuern, indem wir schweigen.« Die Frage erübrigt sich: Schweigen worüber? Die demagogische Figur dieser Wendung hat Tradition. Es handelt sich bei ihr um eine besonders beliebte Formel antisemitischer Agitation, um die Formel vom »provozierten Antisemitismus«. Wer sich über his­torische Beispiele dieser Anschuldigung informieren möchte, sollte gelegentlich mal wieder in ein Buch schauen, das für kurze Zeit zur intellektuellen Grundausstattung der Linken gehört hat, in die von Adorno und anderen vorgelegte Studie über die autoritäre Persönlichkeit. Im Kapitel über Themen und Techniken des amerikanischen Agitators sind all jene Äußerungen versammelt, die sich trotz ihres historischen Alters nachgerade jugendfrisch ausnehmen. Und wie quicklebendig diese alte Formel von der Mitschuld der Juden an ihrer Verfolgung ist, zeigt die im Brustton pädagogischer Verantwortung für Israel vorgetragene Ermahnung von Norman Paech. Nicht vom Antisemitismus will er reden, sondern von dessen Zulieferern in Israel. Der Anwalt der Menschenrechte, als der er sich versteht, präsentiert sich gerade dadurch als ein Gegner des Judenhasses, dass er die Juden beschwört, die Anlässe dazu aus der Welt zu schaffen. Unter diesem Aspekt muss man auch die weiter unten beschriebenen pädagogischen Versuche sehen, die Lehrer in diesem Zusammenhang an ihren Schülern verüben.

Dass Norman Paech über die israelische Beihilfe zum deutschen Antisemitismus nicht schweigen kann, verdankt er, wie er in einem Zeitungsinterview sagte und in Hamburg wiederholte, einem ganz besonderen Zungenlöser: dem Pfingsterlebnis einer Israelreise.

Er war, wie er mitteilte, vor 25 Jahren »in der Aura der Kollektivschuld« nach Israel gefahren. Und dort war ihm zuteil geworden, worauf die Wallfahrer nach Lourdes immer nur vergeblich hoffen: Gesundheit. »Ich wurde erst dort auf die Lage der Araber aufmerksam«, berichtete er über das wundersame Mittel seiner dauerhaften Genesung. »Seit jener Zeit fühle ich mich in dieser Frage gefordert«, beschrieb er im salbungsvollen Jargon des Berufspolitikers die anhaltende moralische Wirkung dieser Entdeckung. Es war nicht Damaskus, wo es ja auch eine Lage der Araber gab, dass er vom Saulus zum Paulus geworden war, sondern Jerusalem. Dort hatte er sich vom Linken in einen Deutschen verwandelt, in einem moralischen Kurbad, das sich in der Folgezeit des Ansturms von Rekonvaleszenten aus der Bundesrepublik kaum erwehren konnte.

Von der »Aura der Kollektivschuld« erlöst, hatte er schon Mitte der 60er Jahre persönlich ein Ziel erreicht, dessen allgemeine Verwirklichung die Nationalzeitung noch immer einklagt. Die Leiden der Palästinenser vor Augen, konnte er aus dem Schatten Hitlers heraustreten. Nun war er frei für eine neue kollektive Aufgabe ganz eigener Art, nämlich für die des Bewährungshelfers. Und wie viele andere Absolventen des Bildungsurlaubs im Nahen Osten entdeckte er eine exklusive Fürsorgepflicht der Deutschen für Israel: »Ich vermag nicht«, begründete er dieses Ansinnen, »als Konsequenz aus den Verbrechen der Generation vor uns zu schweigen, wenn die Überlebenden, ihre Kinder und Enkel, Menschenrechte anderer verletzen.« Wenn israelische Polizisten prügeln, wenn israelische Soldaten Zivilisten erschießen, dann strapazieren diese Taten vor allem die deutsche Kollektivgeduld. Wolfgang Pohrt hat dieses Bewährungshelfersyndrom einmal treffend als sozialarbeiterische Ermächtigung der Deutschen beschrieben, ihre Opfer davon abzuhalten, rückfällig zu werden.

Über ein Vierteljahrhundert lang versucht Norman Paech nun schon geduldig, dieser Rückfallgefahr entgegenzutreten. »Er hat sich«, heißt es über ihn in der Zeitschrift Semit, »mehr als einmal öffentlich engagiert, wenn es darum ging, Recht und Menschenrechte zu verteidigen, oft genug konträr zur offiziellen politischen Meinung ... Im Februar dieses Jahres reiste Norman Paech mit einer Delegation durch die besetzten Gebiete Israels ... Das Ergebnis dieser Reise soll in Buchform veröffentlicht werden. Es weist überprüfbar nach, mit welchen Schachzügen Israel seine Politik den Palästinensern gegenüber durchsetzt.«

 

Das Buch lag bei der Veranstaltung der GEW noch nicht vor, aber es gab doch genügend publizierte und referierte Hinweise, welcher Geist darin herrscht. »Einige der Mitreisenden«, fasste Paech seine letzte Erkundungsreise zusammen, »hatten Israel bisher noch nicht besucht, sie fanden die Stimmung im ganzen Land so angespannt, so aggressiv, dass sie nicht den Wunsch hatten, ein zweites Mal dorthin zu fahren.« Derartiges käme ihnen zu ihrem eigenen Wohnort, den sie, um solche Stimmungen zu erfahren, gar nicht hätten verlassen müssen, bestimmt nicht über die Lippen.

Von ganz ähnlichen Heimatgefühlen durchdrungen war im Frühjahr 1991 die Israel-Delegation der Grünen, als sie aus der bösen Fremde wieder ins gemütliche Grauen zurückkehrte. Ihr Sprecher Ströbele protokollierte damals die Drecksarbeit, die er einen Ausländer verrichten ließ: »Auf dem Rückflug erklärte ein Mitglied der Delegation, er sei froh, nach Deutschland zurückzukehren. Er, der Ausländer ist und die deutschen Behörden wegen der Behandlung von Ausländern in der BRD heftig kritisiert hat, äußerte spontan seine Liebe zu Deutschland, als wir in Frankfurt den Flughafen betraten.«

Den imaginierten Schachzügen der israelischen Politik, will heißen, den undurchsichtigen Tricks, korrespondiert auf Seiten der Autoren, wie Paechs Erläuterungen zu seiner diesjährigen »fact-finding-mission« belegen, eine durchsichtige Plumpheit, eine von keinerlei intellektuellen Regungen ins Wanken gebrachte Geradheit. Der Eifer der Bewährungshelfer plustert sich geradezu aufklärerisch auf. Jetzt soll man endlich die ganze Wahrheit erfahren. Zwar kann man in israelischen Zeitungen und Zeitschriften detailliert über selbst noch das geringste Vergehen der Besatzungspolitik nachlesen; zwar ist die veröffentlichte Meinung in Israel oft so aggressiv, dass sich dagegen noch der kritischste und meist von israelischen Vorlagen abgekupferte Artikel einer deutschen Zeitung, wie Rohkost ausnimmt, von der Flachheit des politischen Journalismus in Deutschland und der Regierungssprechermentalität seiner Vertreter ganz zu schweigen; zwar ist jeder politische Vertuschungsversuch in Israel eine unwiderstehliche Aufforderung an alle Reporter, diesen aufzudecken; zwar gibt es dort, mit einem Wort, eine funktionierende Öffentlichkeit, doch der Ges­tus moralischer Aufgebrachtheit, mit dem Paech und seine gelehrigen Schüler in der GEW auf ihre Entde­ckungen in Israel zeigen, suggeriert, dass sie die Wahrheit erst hier ans Licht brachten, weil es dort weder Demokratie noch Pressefreiheit gäbe. Dabei fischen sie nur im Trüben.

In der Hamburger Lehrerzeitung schreibt eine Vorbereitungsgruppe der GEW-Veranstaltung den Begriff Demokratie denunziatorisch in Anführungszeichen, wenn von Israel die Rede ist. Auf derlei Faxen kamen die pensionsberechtigten Demokratiekritiker hierzulande nicht, wo schon in Friedenszeiten der Ausnahmezustand erwogen wird, dessen es nachgerade gar nicht mehr bedarf. Und Professor Paech säße sicher schon im Knast und nicht auf einem Lehrstuhl, wenn er in Deutschland einmal für die Menschenrechte eintreten müsste in einer Situation, die auch nur annähernd dem Nahostkonflikt entspricht. Er moniert, Israel sei eine »Demokratie im Belagerungszustand«, eine »Militärdemokratie« und klagt über die Zensur im Lande. Wie lächerlich sich allerdings der deutsche Fackelträger der Informations- und Meinungsfreiheit mit seiner Anklage macht, entgeht am allermeisten ihm selbst: Ausführlich referiert er den Bericht eines im Militärgefängnis von Hebron misshandelten palästinensischen Studenten, um in einem Nachsatz kleinlaut hinzuzufügen: »Über seine Vorwürfe der Folter wurden in der israelischen Presse berichtet.«

Fazit seiner Reise in Sachen Menschenrechte war: »der biblische Anspruch Israels« sei der Kern des Nahostkonflikts, »und zwar nicht nur was die Feindschaft zwischen Israelis und Palästinensern, sondern auch was die Feindschaft zwischen Israelis und Arabern betrifft«. Offenbar kann, was Juden und Israel angeht, keine Auskunft zu dumm sein, um nicht von Deutschen geglaubt zu werden. Die Feindschaft zwischen einem Israeli und einem hungernden Fellachen in Oberägypten, einem lese- und schreibunkundigen Iraki in Basra, einer unterdrückten saudiarabischen Frau und einem bettelnden marokkanischen Kind – alles im biblischen Anspruch Israels begründet? Keinen Augenblick wird auch nur die Möglichkeit eingeräumt, dass es für die Feindschaft zwischen Israelis und Arabern sachliche Gründe, beispielsweise die Vernichtungsdrohung durch letztere, geben könnte.

Immer wenn Linke zum plumpen Antisemitismus greifen, kommt die Bildung ins Spiel, nämlich die Bibel, die sie den Juden auch nicht verzeihen. Sogar im Anschluss an die weiter oben zitierte Versicherung Paechs, er habe aus der Massenvernichtung die richtigen Lehren gezogen, er könne also nicht schweigen, »wenn die Überlebenden, ihre Kinder und Enkel, Menschenrechte anderer verletzen«, taucht plötzlich ein biblisches Motiv auf: der Fluch Gottes aus den Zehn Geboten. Paech unterstellt, es gäbe nach Auschwitz ein von Juden unter Berufung auf die Bibel erlassenes Kritikverbot für Deutsche und fragt: »Soll das auch für unsere Kinder und Enkel gelten?« Eigentlich wollte er ja Erpressung sagen, aber der unterschwellige Gedanke an den jüdischen Fluch verleiht der Frage erst den richtigen Kitzel.

Auf der Veranstaltung in Hamburg wurde die Kritik am Verständnis, welches die GEW dem Antisemitismus entgegenbringt, wild entrüstet zurückgewiesen. Ablehnung durch Anbiederung wollte man sich nicht nachsagen lassen, denn schließlich waren lauter gute Menschen hier versammelt. Die inkriminierten Zitate, insbesondere Professor Paechs Propagandalüge von der Mitschuld der Juden am Antisemitismus, seien aus dem Zusammenhang gerissen, lautete der Vorwurf an den Kritiker. Ein Zitat ist freilich, das lernt man offenbar bei diesen Lehrern nicht mehr, immer ein Ausriß aus einem Text. Der Schwachsinn eines bestimmten Satzes wird indes nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass man sich auf die mildernden Umstände des Zusammenhangs beruft, in dem er steht. Und gerade die aus den Gewerkschaftsmaterialien zitierten Sätze sind in jeder Umgebung infam und rücken deshalb jeden Kontext, in dem sie stehen, in das trübe Licht des Antisemitismus.

Ein weiterer, auch bei der Hamburger Veranstaltung, beliebter Vorwurf, verfährt nach dem Motto: »Haltet den Dieb«. Wer die moralische Tarnung des linken Antisemitismus durchbricht, gilt als Aggressor, wer die davon ausgehende Bedrohung benennt, als bedrohlich, wer den Gestank moniert, als Stänkerer. Und man selber versteht sich als mutiger Tabubrecher, als ehrbarer Wahrer der Meinungsfreiheit, die von Kritikern mit dem Vorwurf des Antisemitismus erstickt zu werden droht. Mit demselben Gespür, mit dem Politiker das Asylrecht gegen dessen »Missbrauch durch Scheinasylanten« verteidigen, wirft man sich als Vorkämpfer für ein Grundrecht in die Bresche. Man will der von jüdischen Vorbehalten bedrohten Meinungsfreiheit eine Gasse bahnen.

Ströbele hatte vor Jahresfrist das angestaubte Bekenntnis zur Verteidigung der Meinungsfreiheit aus der Mottenkiste des antijüdischen Agitators hervorgeholt: »Ich sehe den Vorwurf des Antisemitismus als politisches Tot­schlagsargument missbraucht, um die harte Kritik an der israelischen Regierung zum Schweigen zu bringen.« Und in Hamburg plapperten Leute dies nach, denen man nichts Schlimmeres antun konnte, als sie zu zitieren.

Wie wollen die linken Lehrer nun »latentem Antisemitismus entgegentreten?« »Natürlich«, versichern sie in ihrer Gewerkschaftszeitung, »muss eine Beschäftigung mit dem Verhältnis von Deutschen und Juden vom Holocaust ausgehen.« Ja, natürlich – soll heißen: Logo, alles klar, versteht sich, ist ja gebongt, machen wir, muss sein. Doch dem flotten »natürlich« folgt auf dem Fuß ein einschränkendes »aber«: »Aber dass aus der Vernichtungspolitik der Nazis gegenüber den Juden abgeleitet wird, Ansprüche und Politik des Staates Israel bedingungslos zu akzeptieren, stößt bei Jugendlichen zunehmend auf Unverständnis.« Auf zunehmendes Verständnis hingegen stößt diese Haltung bei den Lehrern, die sie feststellen. Sie legen dabei jene apologetische Einfühlsamkeit an den Tag, wie man sie inzwischen zu Genüge von Politikern und Sozialarbeitern kennt, die sich zu den Schandtaten des Mobs geäußert haben. Doch abgesehen von der offenkundigen Lüge, die Politik Israels bedingungslos akzeptieren zu müssen, was niemand jemals gefordert hat, sind – wie im Fall der rücksichtsvoll betrachteten Brandstifter – die Schüler nur ein Vorwand zur Bestätigung und Rechtfertigung des eigenen Ressentiments. Es wird auf dem Umweg über die Schüler nur pädagogisch veredelt.

Eine Lehrerin erläuterte beispielhaft, wie sie einmal erfolgreich den latenten Antisemitismus ihrer Schüler bekämpft hatte: es gebe auch gute Juden, habe sie einem Schüler erklärt, der mit so latent antisemitischen Parolen wie »Juden raus« oder »Nieder mit Israel« aufgetreten sei, es gebe beispielsweise israelische Wehrdienstverweigerer. So eng wie seine deutschen Freunde wollte ein palästinensischer Diskussionsteilnehmer das nicht sehen; er erweiterte den Kreis der Juden, die keinen Anlass zum Antisemitismus böten, auf »demokratische Juden«. Ob auch der Rostocker Politiker Karlheinz Schmidt bei der GEW geschult wurde, weiß man nicht. Jedenfalls redete er beim Empfang für Bubis, als hätte er sich zwei Tage zuvor in Hamburg darauf vorbereitet. Denn mit der Frage, was der Zentralratsvorsitzende der Juden von den Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern halte, wollte er ganz unbefangen feststellen, ob er es mit einem guten oder einem bösen Juden zu tun habe.

Ein anderer Lehrer, der es mit »judenkritischen Äußerungen« – wie Antisemitismus neuerdings vom Spiegel genannt wird – zu tun hatte, wollte einem Schüler bei der Frage der Wiedergutmachung behilflich sein, natürlich in bester pädagogischer Absicht. Auf das dumpfe Geblöke des Schülers, die Deutschen hätten genug geblecht und gebüßt, reagierte er mit ganz besonderer Anteilnahme. Er wies den Schüler weder barsch zurecht, noch machte er den Versuch, ihn aufzuklären. Er hätte ihm beispielsweise erläutern können, wie teuer ihn, den Schüler, ein versehentlich verursachter Verkehrsunfall im schlimmsten Fall käme. Damit wäre der Lehrer automatisch beim bes­ten Fall, nämlich bei der Tatsache, wie vergleichsweise billig die Deutschen mit dem von ihnen vorsätzlich verursachten Massenmord davongekommen seien. Nichts dergleichen. Der engagierte Lehrer echote bloß zurück: auch er hielte die Wiedergutmachung für einen Schwindel, mit diesen Zahlungen seien bloß die Nazis entlastet und die völkerrechtswidrige Politik Israels unterstützt worden.

So sieht es aus, wenn Gewerkschaftsangehörige dem Antisemitismus entgegentreten: sie geben dem Ressentiment Nachhilfeunterricht. Es scheint wieder das bekannte Bild auf, logisch widersprüchlich, aber psychologisch konsistent. Doch die Jugendlichen riechen den Braten. Sie wollen keine linke Verfeinerung des Vorurteils, sie wollen keinen differenzierenden Zuspruch zum Hass. Sie wollen irgendwann aufs Ganze. Begriffen haben sie nur, wie hilflos der linke Antisemitismus ist und dass ihnen ihre linken Lehrer einmal nicht im Weg stehen werden.

Vielleicht erinnert sich noch jemand an eine lange zurückliegende politische Diskussion, die geführt wurde, als es noch nicht um das duale System, sondern um die Frage von Herrschaft und Ausbeutung, nicht um Lebensqualität, sondern um die Frage von Reichtum und Armut ging. Damals entstand der Begriff vom »hilflosen Antifaschismus«, mit der jene Auffassungen von Geschichte und Gesellschaft in Deutschland qualifiziert wurden, über die Max Horkheimer ein vergessenes Urteil gesprochen hatte: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.«

Die Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte muss man als Aufstieg vom hilflosen Antifaschismus zum hilflosen Antisemitismus bezeichnen. Beiden Konzepten eignet dieselbe Beschränktheit; beide sind ein Gemisch aus Kritik und Apologie; beide changieren zwischen Anbiederung und Ablehnung. Dem eingeschränkten Erklärungshorizont des hilflosen Antifaschismus entspricht heute die begrenzte Reichweite des neuen Antisemitismus. Er findet zu seinem Ärger tatsächlich an Israel seine Grenze. Das macht die in Deutschland lebenden Juden nicht glücklicher, und sicherer bestimmt auch nicht, aber den Antisemitismus von links eben letztlich hilflos. Weit davon entfernt, einen untragbaren Zustand im Nahen Osten beenden zu helfen, befördert er nur, dass ein unerträglicher Zustand sich hierzulande verfestigt.

Der einzige Gewinn für die Protagonisten des hilflosen Antisemitismus besteht darin, dass sie sich selbst demontieren und den Beginn der selbst verschuldeten Überflüssigkeit einläuten. Und wenn in diesem Land tatsächlich das Bündnis von Mob und Elite obsiegen sollte, dann bestimmt nicht über eine Opposition, die Konzessionen ans antijüdische Ressentiment als aufklärerische Pädagogik anpreist.

 

Mit dem eingangs erwähnten Junktim: »Nur wenn wir uns kritisch mit Israel auseinandersetzen, können wir glaubhaft latentem Antisemitismus im Unterricht entgegentreten«, ist die GEW bereits die Krankheit geworden, als deren Arzt sie auftreten möchte. Dieser Satz ist nicht nur infam, sondern auch bodenlos dumm. Er ist infam angesichts gelynchter Ausländer, brennender Flüchtlingsheime und zertrümmerter Gedenkstätten. Er ist bodenlos dumm, denn niemand wird der Gewerkschaft diese Vorleistung auf einen völkischen Konsens gutschreiben. Das zumindest hätten die Gewerkschaftsmitglieder doch aus der deutschen Geschichte lernen können.

Der Antisemitismus war einmal die erste Frage gewesen, in der sich Linke vom Rest der deutschen Gesellschaft unterschieden hatten. Nun scheint der Antisemitismus zur letzten Antwort geworden zu sein, welche sie beim vollzogenen Wandel durch Annäherung noch geben können. Aus der radikalen Abwehr des Antisemitismus ist am Schluss eine schwächliche Hinwendung zu ihm geworden. Dass die Sozialdemokratie eine »Judenschutzpartei« gewesen sei, war eine Erfindung der nazistischen Propaganda. Dass Juden in Deutschland nicht auf die Linke, schon gar nicht auf die Hamburger GEW zählen können – das ist die Wahrheit heute.

Statt mit dem Nahen Osten sollte sich die Hamburger GEW besser mit dem ganz nahen Osten beschäftigen. Statt mit der israelischen Besatzung in Palästina sollte sie sich mit der deutschen Besessenheit auseinandersetzen, von der sie selbst ergriffen ist. Weltumspannende Moraloffensiven von Leuten, die dem Rassismus im eigenen Lande Konzessionen machen, sind pure Heuchelei. Und die für die Artikulation des eigenen Vorurteils bloß vorgeschobenen Kids, die heute schon alle schlauer sind als die Sozialarbeiter von gestern, wissen noch vor ihren Lehrern, dass deren Aufforderung »Menschenrechtsverletzungen müssen kritisiert werden, gleichgültig, wo sie stattfinden« (Paech) nur die Eingangsphrase zur Sonderbehandlung der Juden ist und als Aufreißer dafür dient, warum man sich ausgerechnet und besonders heftig mit Israel befassen muss.

Mit Israel hat das alles gar nichts zu tun, und deshalb blieben die Pädagogen auch besser am Ausgangsort ihrer Absichten. Hier könnte die GEW tun, was sie ein Jahr nach dem Golfkrieg per Zeitungsanzeige verkündete, nämlich »einseitig Partei ergreifen für den Frieden«. Beispielsweise könnte sie einen UNO-Blauhelm-Einsatz in der Bundesrepublik fordern. Natürlich ohne deutsche Be­teiligung. Damit wäre dem friedensbewegten Protest neues Leben eingehaucht und auch der deutschen Polizei, der gegenwärtig einzigen organisierten Friedensbewegung, geholfen. Und geholfen wäre vor allem den Ausländern. Aber vielleicht hält der an Israel geschärfte Blick der GEW das, was in Rostock und andernorts passiert, für eine deutsche Intifada?

1993